Am Pier. Gerd Mjøen Brantenberg

Am Pier - Gerd Mjøen Brantenberg


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anderen Personen im Buch mißverstanden. Warum sagen sie nicht einfach Bescheid? Dann würde nicht soviel Leid geschehen.“

      „Aber dann gäbe es vielleicht auch kein Buch?“ meinte Beate.

      Bücher über den Krieg lasen sie nicht. In denen liebte sich ja niemand. Nicht in denen jedenfalls, von denen sie gehört hatten. Darin bekamen die Leute nur Kinder. Sonst könnten sie sich ja hier und heute nicht den Kopf zerbrechen. Nein, im letzten Jahrhundert hatten sie noch geliebt! Wer doch im letzten Jahrhundert leben könnte! Auf einer Neusiedlerstelle weit weg von den Menschen, mit grünen Hügeln und harter Arbeit. „Warum sind Isak und Inger so glücklich?“ hatte Davidsen gefragt. Als niemand eine Antwort geben konnte, erklärte Davidsen, daß es daran lag, daß sie sich langsam hocharbeiteten – Schritt für Schritt, durch viele Jahre hindurch. So war das Glück. Es war nichts, das einfach so kam.

      Aber Mama sagte, das Glück sei kein Zustand. Glück bestand aus Momenten, die kamen, oft, wenn man nicht wußte, daß man glücklich war. Erst später konnte man vielleicht sagen: Damals war ich glücklich. Das Glück war fast eine Form von Unwissenheit. „Dann sind wir vielleicht die Glücklichsten von allen?“ fragte Inger. „Wir, die im Krieg geboren sind und von nichts eine Ahnung hatten?“ – „Ja, vielleicht seid ihr das“, antwortete Mama.

      Mama hatte oft gesagt, daß der Krieg das Schlimmste sei, was je passiert war. Er rief das Schlimmste und das Beste in den Menschen hervor. Für die meisten Menschen in Norwegen war Krieg nur ein Zustand. Ein ewiges Warten. Also beschäftigte man sich damit, Gerüchte über die Leute zu verbreiten, die „auf der falschen Seite standen“, Geschichten, die sich die anderen oft einfach aus den Fingern gesogen hatten. Oder darüber, wie die Deutschen norwegischen Frauen die Brüste abgeschnitten und sie im Schloßpark hatten liegen lassen. Das alles stimmte nicht. Die, die aus Deutschland zurückkamen, die wirklich die Schrekken des Krieges erlebt hatten, erzählten nichts dergleichen und beteiligten sich nicht an Hohn und Spott. Die, die nichts erlebt hatten, waren die Schlimmsten, sagte Mama.

      Das hatte Inger ihr Leben lang gehört, aber sie konnte es niemandem weitersagen. Wenn sie das versuchte, bekam sie nur zu hören, daß alle Deutschen und alle NS-Mitglieder Schweine gewesen seien. Jetzt sagte sie zu Mama: „Aber die, die in die NS eingetreten sind, die waren doch auf der falschen Seite?“ – „Ja. Aber es gab so viele Gründe, warum sie in die NS eingetreten sind. Und nachher läßt sich leicht sagen, sie hätten klüger sein sollen. Die Menschen lesen die Geschichte von hinten und verurteilen dann. Damals wußten wir vieles nicht, was wir seitdem erfahren haben. Wir waren verwirrt.“

      „Damals wußten sie vieles nicht, was sie seitdem erfahren haben“, sagte Inger am nächsten Tag auf dem Schulhof zu Beate. „Man liest die Geschichte von hinten. Und dann läßt sich leicht behaupten, man hätte vorher klüger sein sollen.“

      „Aber alle wußten doch wohl, daß die Deutschen uns überfallen hatten?“ fragte Beate.

      „Ja, aber was sollten sie denn dagegen tun? Sie waren verwirrt.“

      „Haakon VII. nicht“, antwortete Beate.

      „Ja, aber der war schließlich auch König.“

      „Nicht alle Könige treffen die richtige Entscheidung. Denk an alle die verrückten Könige, über die wir im Geschichtsbuch lesen. Aber Haakon VII. hat ‚nein‘ gesagt.“

      Ja, das wußte Inger. „Das ‚Nein‘ des Königs wurde ein ‚Ja‘ zum Leben.“ Dieses Zitat hatte Papa oftmals bitter vor sich hingeflüstert. Es war unmöglich, mit Papa über den König zu sprechen. Aber das wollte sie Beate nicht erzählen.

      „Meine Eltern waren Mitläufer“, sagte sie. Es war das erstemal, daß sie so etwas erwähnte.

      „Mitläufer?“

      „Ja. Sie haben weder ja noch nein gesagt.“

      Beate hatte noch nie etwas von Mitläufern gehört. Sie hatte überhaupt nur wenig über den Krieg gehört. Im Krieg war ihr Vater verschwunden. Das hatte sie jetzt im Herbst ihre Tante sagen hören. Und am letzten Sonntag hatte sie zufällig gehört, wie ihre Mutter und ihre Tante über ihn sprachen, ohne zu wissen, daß Beate im Haus war. Sie hatte gehört, wie ihre Tante sagte, das mit Ola im Krieg sei furchtbar gewesen und traurig für Beate. Als sie hörten, wie Beate sich im kleinen Zimmer bewegte, hatten sie ihr Gespräch jäh abgebrochen. Danach hatten sich Beates Gedanken über ihren Vater geändert. Jetzt war sie sicher, daß die Deutschen ihn erschossen hatten. Das war die ganze Erklärung, und es tat so weh, daß ihre Mutter nicht darüber reden wollte. Aber als sie später in der Woche ihre Tante gefragt hatte, hatte die nur dasselbe gesagt wie schon einmal. Der Ola war einfach verschwunden.

      „Ich weiß nicht, was meine Eltern während des Krieges waren“, sagte Beate. „Jedenfalls waren sie gute Norweger. Meine Mutter zumindest. Mein Vater ist einfach verschwunden.“

      „Verschwunden?“

      „Ja.“

      „Aber warum?“

      „Ich glaube, die Deutschen haben ihn erschossen“, antwortete Beate.

      „Aber weißt du das denn nicht sicher?“

      „Nein. Er ist 1943 verschwunden.“

      „Weiß deine Mutter das denn nicht?“

      „Die kann ich nicht danach fragen. Sie waren nicht verheiratet, weißt du. Und sie saß da mit der ganzen Schande. Das war ich, verstehst du.“

      Inger wußte nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie wußte, daß Beate keinen Vater hatte. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, daß es Mütter gab, die ihren Kindern nicht die Wahrheit sagen wollten. Zu Hause erfuhr sie immer, was früher passiert war, so schlimm es auch sein mochte. In ihrer Familie waren beide Seiten vertreten gewesen, Widerständler und Landesverräter, es hatte Scheidungen und Tragödien gegeben. Aber Mama versuchte nie etwas zu verheimlichen.

      Inger ahnte auch nicht, was es für ein Gefühl war, ein Kind zu sein, das eine Schande darstellte. Sie begriff ohnhin nicht, was dieses Wort „Schande“ eigentlich bedeutete. Irgendwer hatte einfach erfunden, daß es eine Bedeutung hatte.

      „Schande ist nichts“, sagte Inger. „Sie ist bloß Luft. Nur etwas, das irgendwer erfunden hat. Es gibt keine Schande. Es gibt bloß echt und unecht.“

      „Aber ein uneheliches Kind ohne echte Familie ist auch irgendwie nicht echt.“

      „Nein“, widersprach Inger. „Stimmt nicht. Unehelich ist bloß ein blödes Wort. Du bist genauso Mensch wie ich!“

      Da nahm Beate ihre Hand. Sie gingen weiter. Machten am Ende des Schulhofes kehrt, so wie alle anderen. Alle gingen hin und her, hin und her. In jeder Pause fand eine richtige Völkerwanderung statt. Niemand hier rannte. „Inger?“ fragte Beate. „Das, was ich dir erzählt habe, weißt du? Das darfst du keiner Menschenseele weitersagen.“

      Hartvig

      Hartvig stand am Rande der Jungengruppe und lachte über etwas, das Rolf Magnor gesagt hatte. Irgendeine Frechheit über Spåvang, den Religonslehrer. Dann lachte er über etwas, das Kjell Grunder sagte. Dann lachte er über das, was Rolf Magnor darauf erwiderte. Nun sagte Leif Monradsen etwas, und das wollte er kommentieren, aber statt dessen sagte Kjell Grunder etwas. Und deshalb lachte er darüber.

      Sie standen da und boxten sich gegenseitig beim Reden. Eigentlich war es gar kein richtiges Gespräch. Nur Ausrufe, über die man lachen oder die man mit „verflixt!“ kommentieren konnte. Nur selten gab es ein Thema. Hartvig hatte keine Lust, alles mögliche mit „verflixt“ zu kommentieren, und zum Boxen hatte er auch keine Lust. Also blieb ihm nur das Lachen.

      Er war ganz versessen darauf, von Leif gemocht zu werden. Er lachte immer am lautesten, wenn Leif etwas sagte. Gleich darauf konnte er dann zu Leif sagen: „Ganz schön platt, Monradsen“, dann lachte Leif, und damit hatten sie eine Art Gespräch laufen. Aber er lernte ihn trotzdem nicht kennen. Er lernte niemals jemanden kennen, obwohl er sich Mühe gab. So war es immer schon gewesen. Am liebsten hätte er Konrad


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