Am Pier. Gerd Mjøen Brantenberg

Am Pier - Gerd Mjøen Brantenberg


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mitten im langen, schmalen Raum. Sie wimmelten um ihn herum, und er streckte seinen vergoldeten Drehbleistift aus. „Ihr haltet den Bleistift so“, sagte Saxeby und zeigte ihnen, wie sie beim Zeichnen den Bleistift benutzen sollten. Es war eine über alle Maßen gähnfördernde Vorstellung. Saxeby maß und wog, und es wollte und wollte einfach nicht schellen. Als das dann endlich seltsamerweise doch geschah, war die Befreiung ohrenbetäubender als nach jeder anderen Stunde.

      Später ging Inger auf, daß sie sich auf den nächsten Montag freute. Dann würden sie einen Klotz zeichnen.

      Markmo hielt einen riesigen Zirkel mit Kreide in der Spitze in der Hand und spähte über die 1 B hinweg. „Was machen wir jetzt?“ fragte er, suchte sich aber nicht sofort sein Opfer aus. Er hielt die Kniegelenke steif und spreizte die etwas zu kurzen Beine und sah dabei selber aus wie ein Zirkel. Manchmal versuchte er auch auszusehen wie ein Dreieck. Oder wie das Parallelogramm ABCD. „Sølvi Andersen“, sagte Markmo, der Name detonierte über ihren Köpfen. „Ja?“ fragte Sølvi, und Hitze überflutete ihr Gesicht. „Wir können die Zirkelspitze auf Null setzen.“ – „Wir können auch einen Ausflug zur Skihütte machen“, antwortete Markmo und erntete den Applaus, den er für diese schlagfertige Antwort verdient hatte.

      Anfangs stand Markmo mit rechtwinkligen Beinen und viereckigem Gesicht da und erklärte den ersten Quadratsatz. Wenn er erklärte, war das immer zu verstehen, denn er erklärte deutlich und logisch, und man begriff, daß er einfach recht hatte. Und außerdem konnte man ganz still am Tisch sitzen und einfach zuhören. Aber wenn man anwenden sollte, was man verstanden hatte, dann klappte das nicht. Das Ergebnis stimmte absolut nicht mit der richtigen Lösung überein. Die richtigen Ergebnisse waren immer rund und vor allem ganz.

      Auf der Volksschule war mehr Ordnung in der Angelegenheit gewesen. Dort waren Buchstaben Buchstaben und Zahlen Zahlen. Aber jetzt führte Markmo ein, daß eine Zahl eine Zahl war, sobald jemand sie dazu ernannte, und daß a eine Zahl sein konnte, wenn jemand behauptete, es sei eine Zahl, und, schlimmer noch, a konnte jede beliebige Zahl sein. Damit nicht genug. Auf der Volksschule war die kleinste Zahl immer 1 gewesen. Vielleicht auch 0. In diesem Punkt hatte ein wenig Unsicherheit bestanden. War 0 eine Zahl oder einfach nur 0? Jedenfalls war die kleinste Zahl entweder 1 oder 0 gewesen. Und was könnte auch kleiner sein?

      Aber jetzt sagte Markmo, daß die Zahlen hinter 0 in einer unendlichen Reihe weitergingen, genau wie die steigenden Zahlen über 0, man brauchte nur ein Minuszeichen davorzusetzen. 0 war eine Art Mittelpunkt für alles, nichts nahm je ein Ende.

      Der reine Zirkus. Hokuspokus und Akrobatik. Aber es hieß Algebra.

      Algebra war ja gut und schön, aber wozu sollten sie es verwenden, abgesehen davon, sich damit zu amüsieren, jedenfalls die, die das lustig fanden? Und die zu quälen, die das nicht schafften? Mathematik war eine feinere Form der Folter.

      Die Mädchen büffelten. Nichts von allem, was jetzt in sie hineingestopft wurde, büffelten sie so wie Mathematik. Und bei den Quadratsätzen erreichte die Büffelmanie ihren vorläufigen Höhepunkt. Alles Dickgedruckte sollte auswendig gelernt werden. Die Mädchen standen auf dem Schulhof und sagten laut zu sich und den anderen: „Wenn wir die Summe zweier Zahlen quadrieren wollen, erhalten wir das Quadrat der ersten Zahl plus dem doppelten Produkt der beiden Zahlen plus dem Quadrat der letzten.“ Sie büffelten und sahen einander an. Aber in ihren Köpfen gab es nur Markmo.

      Das Seltsame bei diesem fieberhaften Auswendiglernen war nämlich, daß eine nach der anderen erklärte, daß sie nicht das geringste begriff. Warum also lernen? Eine absolut überflüssige Frage. Die Quadratsätze mußten alle aus dem Ärmel schütteln können, und falls sie abgehört würden und es nicht schafften, würde das Schulgebäude über ihren Köpfen einstürzen. Die Glomma würde nicht mehr ins Meer fließen, es würde Erdbeben geben, Heulen und Zähneklappern, Pastor Spåvangs Armageddon würde über sie hereinbrechen, Fredrikstad würde zu Kleinholz zerschlagen werden. Das wußten alle.

      Und Markmo, den Kopf gefüllt mit Buchstaben und Potenzen, das Jüngste Gericht in seinen tiefen Taschen, hielt, was er versprochen hatte. „Liv Abrahamsen. Schreib den ersten Quadratsatz an die Tafel.“ Liv sprang auf, blutrot im Gesicht, und schrieb mit prachtvoller Schönschrift, die sie aus der Trara-Schule mitgebracht hatte, wo alles noch verständlich gewesen war: (a+b)2 = a2 + 2ab + b2. „Prächtig“, sagte Markmo. Er sagte immer „prächtig“, aber es stand nicht fest, ob er den Inhalt oder die Ausführung meinte oder das Gegenteil, immer ließ er sie in dieser Unsicherheit. Liv errötete, falls möglich, noch stärker.

      „Kannst du erklären, was hier passiert ist?“

      „Ja“, antwortete Liv. Dann sagte sie nichts mehr, und Markmo grinste und meinte: „Ja und nein?“ – „Nein, nein“, sagte Liv, und nun lachte die Klasse. Liv errötete noch mehr. „Na?“ fragte Markmo. „Der erste Quadratsatz?“ Jetzt hatten sich mehrere Hände erhoben, langsame Jungenpulloverärmel, wache Augen richteten sich auf Markmo. „Wenn wir kadavrieren... nein, kadavieren... nein...“ – „Jetzt mußt du aber wirklich in Gang kommen, ehe ich zum Kadaver werde.“ Der eine oder andere Bengel brüllte los, in der Hoffnung, Markmo werde gerade sein Lachen hören und begreifen, daß er den Quadratsatz beherrschte. „Wenn wir quadrieren“, sagte Liv endlich und war so erleichtert darüber, daß sie das Wort geschafft hatte, daß sie eine kleine Pause einlegte. „Wollen wir das überhaupt?“ fragte Markmo. „Oder wollen wir zum Ball gehen?“

      Doch, es war wirklich eine Vorstellung, wenn Markmo abhörte. Selten wurde man enttäuscht. Liv räusperte sich und fing noch einmal an. „Wenn wir die Summe zweier Zahlen quadrieren“, sagte sie, „erhalten wir das Quadrat der ersten Zahl plus dem doppelten Produkt der beiden Zahlen plus dem Quadrat der letzten.“ – „Prächtig“, sagte Markmo. „Richtig prächtig. Und kannst du diese Verwandlung auch erklären?“ – „Das ist einfach so“, antwortete Liv. Sie wußte es nicht. Im Buch hatte das ja auch nicht gestanden. „Das weiß ich nicht“, sagte sie. „Das ist eben so.“

      „Aber Liv“, sagte Markmo, „wenn du eine weiße Soße kochst, sagst du auch nicht, ‚das ist einfach so‘. Du weißt, welche Zutaten du dafür benötigst. Und die nennen wir in der Mathematik Faktoren.“ – „Aber bei weißer Soße braucht man kein unbekanntes Mehl in zweiter Potenz“, warf Astrid Evensen ein. „Und auch keine unbekannte Menge.“ Jetzt kicherten die Mädchen hörbar.

      Markmo schüttelte den Kopf. Er hatte es ja immer schon gewußt. Es hatte keinen Sinn, Mädchen Mathematik beizubringen. Aber wenn sie schon einmal da saßen, mußte man sein Bestes tun, um sie ihnen in den Schädel zu hämmern. „Rolf Magnor, bitte“, sagte er. Und Rolf, der während der ganzen Szene mit Liv abwechselnd die linke und die rechte Hand hochgestreckt hatte, sprang jetzt voller Selbstsicherheit auf und bewies, daß es genauso sein mußte, wie es im Mathematikbuch stand. Denn (a+b)2 war ja dasselbe wie (a+b) (a+b), und wenn man das miteinander multiplizierte, dann kam a2 + ab + ab + b2 heraus, eine Verkürzung von dem, was an der Tafel stand. „Da sehen wir’s, da sehen wir’s“, sagte Markmo, er hatte sich ganz hinten in die Klasse gestellt, um diesen Rechenvorgang richtig genießen zu können.

      Inger hatte das Gefühl, daß das alles unverständlich war. Durch Rolf Magnors hinzugefügten Beweis wurde es auch nicht verständlicher. Sie glaubte auch nicht, daß die Jungen das verstanden. Sie lernten es einfach auswendig und gaben es weiter. Ohne rotzuwerden. Jeder konnte (a+b)2 und was dabei herauskam auswendig lernen. Das war nicht schwieriger als das Alphabet. Und auch das Alphabet hatte nicht die geringste Bedeutung. A, b, c. Was bedeutete das? Man mußte es verwenden können, das war alles. Und es war nicht schwer zu begreifen, warum das nützlich war. Man konnte schreiben statt zu reden. Es war unendlich nützlich. Aber wozu brauchte man (a+b)2? Selbst wenn man das ausrechnen konnte? Ja, daß die Verwendung so unklar war, schien daran schuld zu sein, daß es unverständlich wurde. Aber den Jungen schien das nichts auszumachen. Oder wenn es ihnen etwas ausmachte, dann versteckten sie es jedenfalls und sprangen über die Buchstabenzahlen, als ob das ihre besten Freunde wären. Und Markmo wurde nie spöttisch, wenn sie steckenblieben.

      Was sonst war die Erklärung dafür, daß Jungen wie dieser Sigvart Jespersen, der den


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