Am Pier. Gerd Mjøen Brantenberg
begreife nichts“, sagte Inger zu Papa.
„Das ist ja nichts Neues. Wieviel ist 2/3 mal 3/4?“
„Himmel, jetzt fang doch nicht wieder damit an!“
„Aber wieviel ist 2/3 mal 3/4?“
„Hör auf, hab’ ich gesagt. Ich will darauf jetzt nicht antworten. Was soll das alles? Das will ich wissen. Was sollen diese ganzen Quadratsätze?“
„Mathematik läßt sich für vieles verwenden“, sagte Papa.
Papa erklärte. Höhere Mathematik könnte beim Brückenbauen helfen. Er sprach voller Wärme. Davon hatte Markmo nichts gesagt. Brücken waren nützlich. Hier sahen sie zwei Brücken, die sich wie ein in die Zukunft weisender Triumph über die Landschaft erhoben. Kein Zweifel, daß das über die Maßen nützlich war. Es war fast unmöglich, sich etwas Nützlicheres vorzustellen als eine Brücke. Und die Brücke entstand durch höhere Mathematik. Aber wie?
Ja, sagte Papa. Man brauche die Mathematik, um zu berechnen, wie man mit der Brücke gleichzeitig an zwei Seiten anfangen könne. Man fing ganz einfach bis zum I-Tüpfelchen richtig im selben Moment auf der Ostseite und auf der Westseite an und baute Monate und Jahre, und die beiden Halbbögen kamen sich immer näher, und schließlich erreichten sie einander über dem Fluß in der feierlichsten Umarmung der modernen Zeit, und schwupp! – die Schraube paßte perfekt ins Loch! Stahl von Westen und Stahl von Osten glitten auf ein hundertstel Millimeter genau ineinander. Es war phantastisch. Niemand konnte behaupten, daß die nutzlose Mathematik nicht fast schon himmelstrebende Ergebnisse erzielt hatte. Da stimmte Inger zu. Aber wie?
„Mit Hilfe der Mathematik können sie messen, wo sie zu stehen haben“, sagte Papa.
„Aber wie?“ fragte Inger noch einmal. „Wieso wissen sie, wo sie sich beim Messen hinstellen müssen?“ Sie stellte sich vor, wie sie an West- und Ostufer standen, Ingenieure von der technischen Hochschule und ausländische Experten, mit komplizierten Meßgeräten und allen Quadratsätzen und Kongruenzsätzen und Gleichungen zweiten Grades im Kopf. Woher wußten sie, wo sie sich hinstellen sollten?
„Nein, das“, sagte Papa. „Das kann ich dir nicht erklären. Das verstehst du nämlich nicht.“
Und als er das sagte, wurde er nicht rot.
Torsrud war ein finsterer Typ mit weißer Mähne und trägem Teufelsblick, aber seine Augenbrauen waren immer noch schwarz und sträubten sich beunruhigend auf seiner Stirn. Es hieß, er sei während des Krieges so geworden. Jetzt kam er mit langsamen Schritten ins Klassenzimmer, nachdem er den Einmarsch der Klasse überwacht hatte, griff nach dem Zeigestock und skandierte von Reihe zu Reihe. „Ruhe“, sagte Torsrud.
Sie nahmen das Kongobecken durch. „Das Kongobecken“, sagte Torsrud und blickte sie bedrohlich an. „Kannst du etwas darüber erzählen, Evensen?“ Astrid richtete ihren Filmstarblick auf die schwarzen Augenbrauen über dem Arbeitskittel. „Ich hab’ mich nicht vorbereitet.“ – „Hm“, meinte Torsrud, wieder durchforsteten seine Augenbrauen die Tischreihen. „Holm“, sagte er. „Was?“ Torsrud setzte sich hinter das Pult und rieb sich müde das Gesicht. „Was ist los?“ flüsterte Inger in die Runde. Beate drehte sich um und legte den Kopf auf den Tisch. „Du sollst was übers Kongobecken erzählen“, flüsterte sie, und gleichzeitig lief sie im Gesicht knallrot an und prustete in einem Lachen los, das sie zu unterdrücken versuchte. Inger spürte das Lachen in ihrem Hals. Es durfte nicht heraufkommen.
„Das Kongobecken“, sagte eine innere Stimme, und jetzt hatte das Lachen schon ihren Mund erreicht. Sie blickte auf ihr Mäppchen hinunter. An etwas Ernstes denken. Beerdigung.
„Ja“, sagte sie und sah Torsrud an. „Es liegt mitten in Afrika, im Westen, meine ich, und mittendurch fließt der Kongo. Der Fluß Kongo, meine ich. Das ist der wasserreichste in Afrika – oder ist das vielleicht der Nil?“
„Nicht du stellst hier die Fragen, sondern ich.“
„Ja, sicher.“ Einige lachten. „Vielleicht also der Nil. Aber jedenfalls wächst daran Urwald, bloß nicht die ganze Strecke. Ganz unten gibt’s Savanne.“ Hier unterbrach sie sich und sah Torsrud an. „Was ist Savanne?“ fragte Torsrud. „Das ist eine große Ebene. Wie eine Prärie, aber in Afrika nennen sie das Savanne. Eine Savanne ist ein Zwischending zwischen Urwald und Wüste. Und hier laufen Löwen und Elefanten herum.“
Einige von den Jungen lachten. Was war denn daran bloß so komisch? „Ja, stimmt das denn nicht?“ – „Doch, das machen sie. Kannst du mir etwas über ihre Wirtschaftsformen erzählen?“ – „Sie betreiben Hackbau“, antwortete Inger. Sie hatte keine Ahnung, was Hackbau war, und jetzt war es zu spät.
„Wen meinst du mit sie?“ fragte Torsrud.
„Pygmäen und Bantus. Das heißt, die Pygmäen wohnen tief im Urwald.“ Sie stellte sie sich tief im Urwald vor, wo sie die ganze Zeit hinter den Büschen standen und klein waren. Die Bantus waren groß und fesch. Sie konnte nicht an die Wirtschaftsformen denken. Erdkunde wäre das lustigste Fach von allen gewesen, wenn es diese Wirtschaftsformen nicht gegeben hätte. Sie begriff sie nicht. Immer produzierten sie etwas, von dem sie keine Ahnung hatte. Kopra und Jute und Mangan. Was spielte es denn für eine Rolle, wo Sachen herkamen? Und während sie Kopra und Jute und Mangan produzierten und dabei 90% der Weltproduktion lieferten, führten sie große Mengen von ebenso unverständlichen Waren ein. Wozu mußten sie das wissen? Es war klar, daß ein Land ausführte, was es hatte, und einführte, was ihm fehlte. Dazu gab’s nicht mehr zu sagen. Flüsse und Menschen waren etwas anderes. Torsrud hatte etwas gesagt. Seine Augenbrauen musterten sie. „Was?“ fragte sie. „Du mußt aufpassen“, sagte Torsrud. „Ich hör’ dich gerade ab.“ – „Ach, ich dachte, wir wären schon fertig.“ Jetzt lachten sie wieder. So hatte sie das nicht gemeint. Sie hatte wirklich gedacht, sie wären fertig. „Du hast den Hackbau erwähnt“, erklärte Torsrud geduldig. „Ist das die einzige Wirtschaftsform?“
„Nein, natürlich nicht“, antwortete Inger. „Sie haben viele Wirtschaftszweige. In einem Gebiet im Kongo namens Katanga haben sie große Kupferadern.“ Sie wußte eigentlich auch nicht, was eine Kupferader war. Warum konnte da nicht einfach Kupfer stehen? Das wurde jedenfalls für Kirchtürme verwendet. „Ja, und dann gibt es dort Diamanten“, sagte sie. „Außerdem bauen sie Kaffee und Baumwolle und so auf den großen Plantagen an, und...“
„Und so?“ wiederholte Torsrud. „Alle Schüler sagen ‚und so‘. Was bedeutet das?“ Das sagte er jedesmal, aber Inger hatte es vergessen, sie wußte auch keine weiteren Waren mehr.
Torsrud blickte sichum. Rolf Magnor meldete sich.
„Ja, Magnor?“ – „Öl“, sagte Magnor. Mist, dachte Inger. Ich wußte doch, daß ich etwas vergessen hatte. „Von Ölpalmen, meine ich“, fügte Rolf hinzu, und danach sah er Inger an und lächelte leicht. Sie erwiderte sauer seinen Blick. „Ja, Magnor. Kannst du uns über Verkehr und Entdeckungen erzählen?“ fragte Torsrud, während er eine zutiefst geheime Note in das riesige Klassenbuch eintrug.
„Der Kongo gehört Belgien. Die Hauptstadt heißt Leopoldville, nach dem belgischen König. Außerdem liegt dort das Prinzessin Astrid-Institut für Tropenforschung. Große Teile des Kongoflusses sind schiffbar, ansonsten wird die Eisenbahn verwendet. Im letzten Jahrhundert reiste Henry Stanley...“
Inger mochte nicht mehr zuhören. Sie nahm einen Zettel und schrieb: „Liebe Frau Pflaumensülz! Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Ist es nicht hinreißend, Rolf Magnor seine Hausaufgaben herunterleiern zu hören? Bald werden Torsruds Augenbrauen aus purer Freude durch die Klasse fliegen. Wollen wir dann seine wunderschönen, betörenden, himmelstürmenden Augenbrauen nicht im Flug einfangen und sie für ewige Zeit als Lesezeichen verwenden? Im Erdkundebuch natürlich. Ihr immer ergebener Freund Herr Apfelsaft.“ Sie faltete den Zettel zusammen und piekste Astrid, die vor ihr saß, in den Rücken. Astrid drehte sich halb um, sah den Zettel, hielt sich die Hand auf den Rücken und blickte mit dämlichem Blick nach vorn zum Lehrer. „Für Beate“, flüsterte Inger. Astrid nahm den Zettel, und während Torsrud bei Magnors flüssigem Bericht über Stanleys