Am Pier. Gerd Mjøen Brantenberg
es bis dahin nichts anderes gegeben als „Krieg“. Was war der Krieg? Nun war er weg. Und Norwegen hatte ihn gewonnen. Hurra!
Aber jetzt – jetzt sind sie zehn Jahre älter. Jetzt sitzen sie hier vor ihrem Lehrer und wollen wissen, was damals eigentlich passiert ist. Norwegen hat gewonnen. Ja. Aber was hat es gekostet? Junge Männer hatten graue Haare bekommen. Die Schüler der 1 B senken die Köpfe über ihre Tische. Aber Muldvig sagt nicht mehr.
Zwei Tage später stand morgens, als sie zur Schule kamen, mit weißer Kreide am Tor: „Es gibt nur einen Führer!“ Da sahen sie Torsrud wie einen Schatten, er sprang vom Fahrrad, hüpfte hoch, denn es stand ziemlich weit oben, hüpfte noch einmal hoch und versuchte die Schrift mit der Hand wegzuwischen. Er war wie wild. Und er bekam es auch nicht richtig weg. Sie hatten einen Lehrer noch nie so wild gesehen.
Jetzt griff der Konrektor ein. Einzelne Jungen, aus der 1 B und anderen Klassen, wurden zum Rektor befohlen.
„Sie wissen nicht, was das bedeutet“, sagte Liv Abrahamsen. „Sie glauben, das wäre ein Spiel.“ Ihr Vater hatte in Sachsenhausen gesessen, er war Pastor und hatte sich nicht beugen wollen. „Aber er redet auch nie darüber“, fügte Liv hinzu.
„Muß man das denn so schrecklich ernst nehmen? Die machen sich doch bloß einen Jux“, sagte Rolf Magnor.
„Das haben sie damals auch gesagt. Sie haben über Hitler gelacht und ihn als Emporkömmling bezeichnet“, sagte Inger.
„Willst du etwa Kjell Grunder mit Hitler vergleichen?“ Alle sahen Inger an. Inger wußte nicht, was sie darauf antworten sollte.
„Es geht doch um Respekt vor anderen Menschen“, erklärte Liv. „Die, die das ans Tor geschrieben haben, haben keinen Respekt vor den Lehrern, die im KZ waren.“
Als die Jungen vom Rektor zurückkamen, einer nach dem anderen, sagten sie nichts. „Was hat er denn gesagt?“ fragte die Klasse in der Pause.
„Ist doch egal.“
„Ich schwöre bei Gott...“
„Ach, halt die Fresse!“
„Die knebeln uns, wie sie selber geknebelt worden sind.“
„Das ist nicht dasselbe.“
„Ist es wohl. So, wie sie uns tyrannisieren, sollte man nicht glauben, daß sie je tyrannisiert worden sind.“
Die Klasse stritt sich. Wer hatte recht? Wen konnten sie fragen? Davidsen. Der war nicht so alt. Im Krieg war er noch ein Schuljunge gewesen. Er hatte nicht vergessen, wie es ist, jung zu sein.
„Davidsen, warum mußten die Jungen deshalb zum Rektor?“ Rolf Magnor fragte. Er war dafür geeignet. Klang immer aufrichtig. Davidsen schluckte.
„Darüber macht man keine Witze.“
„Aber das macht ihr doch selber auch.“ Das war Inger.
„Ihr erzählt nur Heldengschichten. Sabotage, und wie die Leute nach Schweden geflohen sind. Nie erzählt uns jemand, wie es wirklich war.“
„Aber die Heldengeschichten sind auch ein Teil der Wirklichkeit.“
„Nicht alle waren Helden.“
Nicht alle waren Helden? Die, die keine Helden waren, waren Landesverräter. Was hatte sie jetzt sagen wollen?
„Nein, einige standen auf der falschen Seite“, erwiderte Davidsen. Inger schwieg. Liv meldete sich. „Ich finde es richtig, daß eingegriffen worden ist“, sagte sie. „Wir jungen Menschen von heute begreifen nicht, wie es im Krieg war.“
„Ich glaube, da hast du recht, Liv. Aber ihr könnt lesen.“
Was sie lesen sollten, sagte er nicht. Wieder verstummten sie. Was Liv sagte, hatten sie immer schon gehört. Im Krieg waren sie noch so klein gewesen, daß sie nichts verstanden hatten. Das schien ihr Fehler zu sein. Daß sie es sich einfach erlaubten, heranzuwachsen, ohne den Krieg erlebt zu haben. Es schien fast, als ob die Erwachsenen deshalb sauer auf sie wären. Aber was sollten sie dagegen tun? Sie waren nun mal 1941 und 42 geboren. Sie waren nun mal in die schlimmsten Jahreszahlen der ganzen Weltgeschichte hineingeboren worden. Sie waren nun mal geboren worden, während die Generation ihrer Eltern und ihrer Lehrer gefoltert und ermordet und inhaftiert und geschlagen worden war. Dagegen konnten sie nichts machen.
„Davidsen?“ fragte Astrid mit ihrer heiseren und ein bißchen frechen Stimme. „Stimmt es, daß Torsrud im KZ gesessen hat?“
Die ganze Klasse war erleichtert, weil endlich jemand diese Frage gestellt hatte. Aber Davidsen war sichtlich entrüstet. Er hatte ihren Tonfall falsch verstanden und sagte nur: „Ich glaube, wir gehen jetzt zum Unterricht über. Ich kann doch hier nicht über meine Kollegen sprechen.“
Und damit mußten sie Seite 5 im Lesebuch aufschlagen, wo sie in der letzten Stunde aufgehört hatten. „Die Mähmaschine kommt ins Dorf“ aus „Segen der Erde“ von Knut Hamsun. Die neue Zeit hat Sellanraa erreicht. Es sei eines der schönsten Bücher der neueren norwegischen Literatur, hatte Davidsen gesagt. Es hatte den Nobelpreis erhalten. Und als Hamsun bei der Schwedischen Akademie den Scheck in Empfang genommen hatte, war er ihm gleich wieder aus der Tasche gefallen. Zum Glück hatte das jemand gesehen und den Scheck aufgehoben. „Vielen Dank“, hatte Hamsun gesagt.
Beate hatte das ganze Buch gelesen. Jetzt las Inger es auch. Es war das beste Buch, das sie seit „Vom Winde verweht“ gelesen hatte. Vorher hatte sie nur Kinderbücher gekannt. Die Geschichten von Annik Saxegard über Tiere, die reden und denken konnten, und Pippi Langstrumpf, die ihr Pferd hochstemmen konnte, die die Großmutter liebte und immer wieder laut vorlas. Mit dreizehn hatte Inger angefangen, Erwachsenenbücher zu lesen. Da trat Scarlett O’Hara in Ingers Leben.
Erwachsenenbücher waren Bücher, in denen Erwachsene Dinge taten, über die sie niemals sprachen. Deshalb waren sie so spannend. In den letzten Sommerferien hatte sie Abend für Abend in ihrem Zimmer auf Tjøme gelegen und „Vom Winde verweht“ gelesen. Am Ende der 890 Seiten war sie total verzweifelt darüber, daß Schluß war. Das Buch strömte durch sie hindurch, wie noch niemals ein Buch geströmt war. Wie ging es weiter? Sie lebte doch. Es hörte nicht dort auf – auf der letzten Seite des Buches. Sie dichtete weiter daran, wollte nicht, daß Schluß war. Aber ihre Worte waren zu kindlich. Schlimmer als in einer Illustrierten. All das, was sie empfand, konnte sie nicht in den Sätzen über Scarlett O’Hara unterbringen, die in ihr weiterlebte.
Immer, wenn sie diese Bücher las, wünschte sie, dabeizusein und helfen zu können. Wenn sie weinten und verzweifelt und ganz einsam auf dieser Welt waren, hatte sie solche Lust, ins Buch hineinzugehen und zu sagen: „Aber ich bin doch bei dir!“ Sie las „Anna Karenina“. Das war noch schöner als „Vom Winde verweht“. Anna verliebte sich bei einem Besuch in Moskau in Fürst Wronski, und als ihr Mann sie bei ihrer Rückkehr auf dem Bahnhof abholte, fand sie seine Ohren so schrecklich groß. Das war das Treffendste, was Inger je gelesen hatte. Als sie am Ende des Buches ankam, war sie ganz außer sich, weil sie nicht dasein konnte, als die Lokomotive kam.
Bis zu diesem ersten Herbst in der neuen Schule war Inger mit all dem ganz allein gewesen. Die anderen hatten die Liebesgeschichten der Illustrierten über Erwachsene gelesen. Auch Inger machte das eine Zeitlang. Aber eines Tages entdeckte sie, daß immer wieder die gleiche Geschichte erzählt wurde. Sie hörte auf damit, und damit war sie allein.
Aber dann kam Beate. Es stellte sich heraus, daß die stille, blasse, engelhafte Beate die allergeheimsten Dinge über Erwachsene gelesen hatte. Sie erzählte, daß die Ausgabe von „Segen der Erde“, die sie in der Schule verwendeten, nicht das ganze Buch war. Die Schulbehörden hatten Stellen gestrichen, die nicht für junge Augen geeignet waren. Im ungekürzten Buch stand: „Nachts war er gierig nach ihr, und dann bekam er sie.“
Inger und Beate dachten an Inger mit der Hasenscharte, die Isak bekam. Sie gingen auf dem Schulhof hin und her und sprachen über das Leben der Erwachsenen. Es war seltsam, das mit jemandem teilen zu können. Inger glaubte, niemals einem Menschen begegnet zu sein, der genauso wie sie über die Dinge dachte, an die man nicht denken durfte. Die