Am Pier. Gerd Mjøen Brantenberg

Am Pier - Gerd Mjøen Brantenberg


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So etwas kann man auch nicht fragen. Vielleicht weiß Sigvart nicht, was Kribbeln ist? Oder vielleicht ist er damals gekommen, weil er von Astrid kribbelt?

      Zwei Wochen später machen sie Schluß.

      Manchmal kommt auch Beate auf die Schlittschuhbahn. Sie läuft nicht besonders gut. „Ich war sehr oft hier“, sagt Beate. „Schon auf der Volksschule.“ Das findet Inger komisch, sie hat Beate nie gesehen. „Aber ich euch“, sagt Beate.

      Es ist ein seltsamer Gedanke, daß Beate in all diesen Jahren irgendwo in der Stadt gewesen ist, ohne daß sie sich gekannt haben. Daß sie sogar hier gewesen ist, auf dem St. Croix plass, daß sie einander vielleicht im Laufen gestreift haben und daß sie nicht gewußt hat, daß es Beate war.

      Aber Beate kommt nie mit auf den Dachboden oder in Svends Bretterhütte, sie muß immer früh nach Hause. „Meine Mutter hat solche Angst, mit mir könnte es so enden wie mit ihr“, erklärt Beate.

      Inger und Lillian laufen Schlittschuh wie früher. Sie laufen jeden Tag, egal, ob die anderen kommen oder nicht. Nirgendwo gehören ihnen die Welt und ihre Träume so sehr, wie wenn sie übers Eis sausen. Wenn sie müde werden, legen sie sich auf den Rücken in die Schneewälle um den Platz. Lillian sagt, wenn man liegt, ehe es dunkel wird, dann kann man den ersten Stern sehen. Inger und Lillian legen sich in den neuen Schnee und sehen und sehen. Und dort, ganz recht, sehen sie den Stern auftauchen, winzig klein, gelb und fern, hoch über dem Dach der aus Holz gebauten St. Croix-Schule. Er strahlt auf sie herab, einsam und klar.

      Die Entdeckung

      Schon als Inger noch klein war, gab es immer einen ganz besonderen Menschen. Inger fiel dann die Jacke dieses Menschen auf, oder so. Plötzlich hielt sie immer nach der Jacke Ausschau. Sie wußte, wo auf dem Schulhof sie war, denn dieser Mensch trug sie ja. Es konnte sogar ein Mensch sein, den Inger nicht einmal kannte.

      Zum erstenmal sah Inger so einen Menschen bei Fliegeralarm in Collettsgate. Dann versammelten sich alle aus dem Haus unten in einem Fahrradschuppen, den sie als Luftschutzraum benutzten, und warteten auf Entwarnung. In einer Ecke saßen ein paar große Mädchen von vielleicht acht Jahren und lachten. Eine davon hieß Ulla Jespersen. Die war es.

      Inger erinnerte sich noch, wie sie einem solchen Menschen zum erstenmal im Freien begegnet war. Sie kam von St. Hanshaugen und ging Ullevålsveien hinunter. Sie und Helga waren unterwegs in die Stadt, als eine Pfadfinderin auf dem Weg aufwärts auftauchte. Sie war in Helgas Alter, und als sie aneinander vorbeikamen, legten beide zum Gruß zwei Finger an die Stirn. Das war der Pfadfindergruß, erklärte Helga. Inger war tief beeindruckt. Seither hoffte sie immer, der Pfadfinderin wieder zu begegnen, um sie mit dem Pfadfindergruß zu grüßen. Aber das geschah nie.

      Danach zogen sie nach Fredrikstad um, auch dort gab es solche Menschen. Sie waren immer größer als Inger, und sie konnte sie nur ansehen.

      Inger konnte einen solchen Menschen sehr lange haben. Aber dann verschwand er plötzlich eines Tages. Eines Tages konnte sie auf den Schulhof kommen und den Menschen sehen, aber dessen Jacke war ganz normal geworden. Sie war genau wie alle anderen blöden Jacken, und Inger hörte den Menschen Blödheiten sagen wie alle anderen blöden Menschen. Der Mensch war nichts Besonderes mehr.

      Aber bald darauf gab es einen anderen Menschen, der etwas Besonderes war. Vielleicht war sie, dieser Mensch, schon lange etwas Besonderes, aber eines Tages bemerkte Inger das. Und dann wurde sie der Mensch. Wenn Inger sie nicht sah, dachte sie an das Haus, in dem sie wohnte. Sie dachte an die Straßen, durch die dieser Mensch auf dem Schulweg gehen mußte, daran, wie sie an der Ecke abbog.

      Inger konnte ganz allein durch den Park gehen und denken: Ach, käme mir der Mensch doch jetzt entgegen.

      Einmal kam so ein Mensch im Park zu ihr herüber und redete mit ihr. Das war Kari Anne Ludvigsen aus der 6. Klasse. Inger ging damals in die vierte und hatte Kari Anne schon lange. Zuerst hatte sie ihre Klassenkameradin Laila Pettersen gehabt. Aber dann war alles irgendwie auf Kari Anne Ludvigsen übergegangen. Und zwar, als Kari Anne zu Weihnachten bei der Heilsarmee, wo die Sonntagsschule ihre Weihnachtsfeier abhielt, „O Tannenbaum“ gesungen hatte. Sie sang ganz allein, sang alle Strophen auswendig, es war eine unheimlich schöne Melodie, und danach wurde sie ein solcher Mensch. Sie sprach nie mit ihr.

      Aber dann war sie im Park. Es geschah am Trinkwasserbrunnen im Kirkepark, und Kari Anne trank. Sie hütete ein Kind in einer Kinderkarre. Inger ging hin und trank auch.

      Sie sahen sich an, irgendwie.

      Sie hatte Lust, etwas zu ihr zu sagen. Ob sie wüßte, daß die gesamte Weltbevölkerung auf dem See Mjøsa Platz hätte? Wenn sie dicht aneinandergedrängt dastünden natürlich. Und wenn der See zugefroren wäre.

      In diesem Winter begann Inger, an Beate zu denken, egal, woran sie dachte. Sie fragte sich, was in aller Welt das zu bedeuten hatte. Waren andere Menschen genauso wirr im Kopf? Warum mußte sie sich auf den Spülstein setzen und aus dem Fenster sehen, um festzustellen, ob Beate auftauchte, obwohl sie das fast nie tat, weil sie in eine andere Richtung mußte, und obwohl sie sie erst vor einer Stunde im Klassenzimmer gesehen hatte und sie auch morgen wiedersehen würde? Warum waren ihr grauer Mantel und ihr rotkarierter Schal anders als alle anderen Mäntel und Schals? Und auch ihre Handschuhe. Sie hatte graue Fausthandschuhe. Einmal hatte sie sie gehalten. Weil Beate sich ordentlich in ihren Schal wickeln wollte, und Inger stand daneben und hielt die Handschuhe und wurde richtig wirr und froh im Kopf, nur weil sie die Handschuhe hielt. Sie wünschte, daß Beate noch bis in alle Ewigkeit mit diesem Schal beschäftigt sein würde. Und als sie ihre Hand in dem Handschuh spürte, in dem Beates Hand gewesen war, war sie so froh, daß es schon seltsam war. Vor allem im Daumen. „Du kannst meine ausprobieren“, sagte sie, und da zog Beate Ingers Handschuhe an, und während der ganzen Pause trug eine die Handschuhe der anderen.

      Inger verstand das alles nicht. Aber jeden Tag freute sie sich darauf, Beate zu sehen. Der Zeichenunterricht machte Spaß. Jetzt zeichneten sie einen Kegel.

      „Wohnst du dahinten?“ fragte Kari Anne und nickte zum Bjørnegården hinüber.

      „Ja“, sagte Inger.

      „Dann hast du’s nicht weit zur Schule.“

      „Nein. Aber ich geh’ immer im Zickzack.“

      „Im Zickzack, meine Güte. Was ist denn das?“

      „Zickzack eben.“ Inger ging kreuz und quer über den Weg. Kari Anne lachte. „Alle können im Zickzack gehen, wenn sie nur wollen“, sagte Inger und kam zurück.

      Sie setzten sich auf die Bank. Kari Anne ließ die Kinderkarre wippen, daß die Stange nur so knackte.

      „Muß jeden Nachmittag auf den hier aufpassen.“

      „Wer ist das denn?“

      Ein Nachbarjunge. Ich krieg’ zwei Kronen dafür.“

      So saßen sie lange und quatschten über alles mögliche, bis Kari Anne gehen mußte. Zum erstenmal hatte Inger wirklich mit einem solchen Menschen gesprochen.

      Als Kari Anne später ihre Freundinnen traf, sagte sie: „Da ist Inger, die kann im Zickzack gehen.“ Und dann lachten sie. Inger glaubte nicht, daß Kari Anne begriff, was es hieß, im Zickzack zu gehen. Bald war auch sie ganz normal geworden.

      Eines Tages Ende Februar, an einem Montag, als sie gerade Punkt zwanzig nach zwölf zur Mathematikstunde hineingehen wollten, ging Inger dicht hinter Beate ins Klassenzimmer und sah die Falten im hellbraunen Rücken ihrer Strickjacke an. Und Beate wurde ein solcher Mensch.

      Ansonsten war alles wie früher. Alle nahmen ihre Plätze ein, lärmten und verstummten und hörten Markmo zu, der jetzt beim Satz des Euklid angekommen war, und niemand wußte, daß alles sich geändert hatte.

      Markmo servierte die aufsehenerregende Neuigkeit, daß eine gerade Linie die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten darstellte. Das hatte einst in der Kindheit des Denkens ein Grieche namens Euklid gesagt, und es war zur Grundlage aller Mathematik geworden. Inger warf Beate einen Zettel hinüber. „Haben sie denn vorher etwas anderes geglaubt?“


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