Ausgespielt?. Dietrich Schulze-Marmeling
auch noch Europameister werden – so, wie es Frankreich 2000 und Spanien 2012 gelungen war. Doch daraus wurde nichts. Vielmehr begann bei der EM 2016 der Abstieg vom Fußballgipfel, der in Russland mit einem Crash endete.
Um dies besser zu verstehen, soll zunächst der Titelgewinn von Rio näher betrachtet werden.
Überschätzt: der Triumph von Rio
2014 wurde die deutsche Nationalelf verdient Weltmeister. Aber ein Durchmarsch war es nicht. In der Vorrunde startete man mit einem furiosen 4:0 gegen Portugal, aber anschließend stotterte der Motor erst einmal: Einem 2:2-Remis gegen Ghana (nach 1:2-Rückstand) folgte ein knappes (aber verdientes) 1:0 gegen die USA. Gegen Algerien drohte im Achtelfinale das Aus, das letztendlich ein überragender Manuel Neuer verhinderte (2:1 n.V.). Im Viertelfinale wurde Frankreich mit 1:0 besiegt, woran Deutschlands Nummer eins erneut einen entscheidenden Anteil hatte. Trotzdem ging das Ergebnis in Ordnung.
Im Halbfinale folgte das legendäre 7:1 über Gastgeber Brasilien. Die damalige Seleção besaß allerdings weniger individuelle Klasse als viele ihrer Vorgänger, zumal gegen Deutschland auch noch „Superstar“ Neymar und mit Thiago Silva der wichtigste Abwehrspieler ausfielen. Im Finale schließlich behielt die DFB-Elf gegen Argentinien nach 120 Minuten mit 1:0 die Oberhand, hätte aber auch verlieren können, wie Philipp Lahm später gegenüber dem Magazin „11 Freunde“ gestand: „Argentinien hatte drei Riesenmöglichkeiten, in Führung zu gehen, und wir in der regulären Spielzeit eine.“
Aus dem Turnier konnte man also nicht den Schluss ziehen: Deutschland wird den Weltfußball über die nächsten Jahre dominieren. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde die Kampagne auf das zauberhafte 7:1 gegen Brasilien reduziert. Ein Spiel, in dem aus deutscher Sicht alles stimmte, auch und gerade die Dramaturgie. Nach weniger als einer halben Stunde stand es bereits 5:0, weil fast jeder Schuss ein Treffer war. Ein Spiel, wie es in 100 Jahren halt nur einmal passiert.
Die Bedeutung des Triumphes von Rio wurde überschätzt – wie schon 24 Jahre zuvor der Triumph von Rom 1990, dem eine magere Europameisterschaft und ein fast schon peinlicher Auftritt bei der WM 1994 in den USA folgten. Die DFB-Elf beendete die EM 1992 zwar als Vize-Europameister, wurde aber in der Gruppenphase von den Niederländern vorgeführt und unterlag im Finale dem Underdog Dänemark, der ohne Vorbereitung in das Turnier eingestiegen war. Bei der WM scheiterte man im Viertelfinale an Bulgarien. Mit einer Mannschaft, die im Vor-Turnier-Vergleich mit ihren Konkurrenten besser abschnitt als die von 2018. Anders als die WM 2018 war das Turnier von 1994 tatsächlich eine vertane Chance.
Mehmet Scholl, ein Kritiker von Jogi Löw, behauptete später, Deutschland sei 2014 nur Weltmeister geworden, weil der Bundestrainer nach dem Achtelfinale seinem Beraterstab nicht mehr vertraut und das unsinnige Spiel mit vier Innenverteidigern aufgegeben habe. Tatsächlich war Löw ein exzellenter Manager seines Personals. Was Löw bis einschließlich des Achtelfinals spielen ließ, war nicht zuletzt den personellen Umständen geschuldet. Er besaß bis auf Philipp Lahm keinen Außenverteidiger von internationaler Klasse. Lahm wurde aber zunächst im defensiven Mittelfeld benötigt, da weder Sami Khedira noch Bastian Schweinsteiger zu Beginn des Turniers fit waren. (Lahms Einsatz auf der „Sechs“ wurde vielfach kritisiert. Allerdings war dies seine Lieblingsposition. Außerdem hatte ihn dort bereits sein Klubtrainer Pep Guardiola spielen lassen, der Lahms Potenzial auf der Position des Außenverteidigers verschwendet sah. Beim FC Bayern hatte Lahm bewiesen, dass er alle Voraussetzungen für die Position des „Sechsers“ mitbrachte: Spielintelligenz, strategisches Geschick, sauberes Passspiel und Pressingresistenz.) Wären Khedira und Schweinsteiger gemeinsam aufgelaufen, hätte im Verlauf der ersten Spiele eine Doppel-Auswechselung gedroht.
Der Bundestrainer spielte auf Zeit. Beim Auftakt gegen Portugal begann die DFB-Elf mit nur einem „Sechser“ – oder einem echten und zwei „halben“. Die „echte Sechs“ war Lahm, Khedira und Toni Kroos spielten rechts bzw. links davor. So sollte vermieden werden, dass Khedira zu viel und in entscheidende Zweikämpfe geriet. Die Konsequenz war, dass die Abwehrkette nun aus vier Innenverteidigern bestand: In der Mitte verteidigten Mats Hummels und Per Mertesacker, auf den Außenpositionen Jérome Boateng (rechts) und Benedikt Höwedes (links). Als gelernter Innenverteidiger konnte Höwedes kaum für Angriffsschwung sorgen. Worunter insbesondere Mesut Özils Spiel litt, der gerne zentral gespielt hätte, wo Löw aber ausreichend Alternativen hatte. So musste Özil auf der linken Seite stürmen, wo ihm – aufgrund der fehlenden Unterstützung von Höwedes – häufig nur die Aufgabe blieb, den Ball zu halten. Erst im Viertelfinale gegen Frankreich konnte Löw sowohl Khedira wie Schweinsteiger von Beginn an aufbieten. Lahm rückte nun auf die Position des rechten Außenverteidigers, Boateng von dort nach innen.
Taktik besteht nicht nur darin, die Stärken des Gegners zu eliminieren und seine eigenen Stärken zum Tragen zu bringen. Taktik besteht auch darin, die eigenen Schwächen zu kaschieren. Dies war Löw in den ersten vier Spielen der WM 2014 gelungen.
Taktisch gut durch die EM 2016
Wenn man die Taktik bei Turnieren betrachtet, muss man die Ansprüche niedriger setzen als beim hochkarätigen Klubfußball. Die Taktikwechsel, die bei einem WM- oder EM-Turnier durch die Nationaltrainer vorgenommen werden, sind begrenzt. Veränderungen erfolgen durch Spielerwechsel, weniger durch grundsätzliche Eingriffe in die Statik des Spiels. Taktische Flexibilität à la Guardiola lässt sich mit einer Nationalelf nur praktizieren, wenn das Gros des Teams aus Spielern eines Vereins besteht, der einen mit der Auswahl (die dann eigentlich keine Auswahl mehr ist …) identischen Fußball spielt. Taktische Flexibilität bedeutet
Deutschland war taktisch und spielerisch die überzeugendste Elf des Turniers in Frankreich. Nach zwei Siegen und einem Remis in der Vorrunde traf die DFB-Elf im Viertelfinale auf Italien. In der 65. Minute schoss Mesut Özil sein Team in Führung, 13 Minuten später konnte Leonardo Bonucci für die Squadra Azzurra vom Elfmeterpunkt ausgleichen. Weitere Tore fielen auch in der Verlängerung nicht. Im anschließenden Elfmeterschießen behielt Deutschland die Oberhand.
Jogi Löw und sein Stab wurden anschließend vom ARD-Experten Mehmet Scholl heftig kritisiert. Die Entscheidung, gegen die Italiener mit einer Dreierkette zu spielen, sei falsch gewesen. Löw höre zu viel auf seinen Scouting-Experten Urs Siegenthaler, der lieber morgens im Bett bleiben solle. Deutschland habe sich dem Spiel der Italiener zu sehr angepasst. Als Weltmeister habe die DFB-Elf geradezu die Verpflichtung, den anderen Teams ihr Spiel aufzuzwingen und deren Stärken zu ignorieren.
Dass Scholl seinen Feldzug gegen taktische Finessen und taktische Flexibilität ausgerechnet anlässlich eines Spiels der deutschen Mannschaft gegen Italien intensivierte, war ein bisschen absurd. Denn Italiens beeindruckende Erfolgsbilanz beruhte nicht zuletzt darauf, dass in dieser Fußballnation die Taktik schon immer groß geschrieben wurde. Das EM-Viertelfinale hatte gezeigt, dass Deutschland hier an Boden gewonnen hatte. Jogi Löw hatte analysiert, warum die Spanier gegen die Italiener verloren hatten. Sie hatten ihr Spiel dem der Italiener taktisch nicht angepasst. Sie hatten die Stärken des Gegners ignoriert und ausschließlich auf ihre eigenen vertraut. Die nach den ersten beiden Spielen hochgelobte Selección, die zum Kreis der Titelanwärter zählte, konnte ihr Spiel nicht durchziehen.
Dem Gegner das eigene Spiel aufzwingen hört sich immer groß an. Gegen einen Underdog funktioniert dies auch häufig. Gegen ein Team, das mit dem eigenen auf Augenhöhe operiert, ist dies schon etwas schwieriger. Wenn ein Trainer immer und wieder erzählt, „Der Gegner muss sich nach uns richten!“, ist der Grund hierfür manchmal schlicht und einfach, dass er in taktischer Hinsicht ziemlich nackt ist. Es funktioniert nicht, wenn der Gegner nicht das geringste Interesse daran hat, sich nach dem eigenen Team zu richten.
Für Julian Nagelsmann war die von Scholl kritisierte „Anpassung“ an das Spiel des Gegners alles