Ausgespielt?. Dietrich Schulze-Marmeling

Ausgespielt? - Dietrich Schulze-Marmeling


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komplizierter, da sich seit den 1960ern das Verteidigen weiter verbessert hatte, auch aufgrund der weiter deutlich verbesserten Physis.

      Wenn die Physis weitgehend ausgereizt ist und die Abwehrreihen stehen, dann bleiben als Entwicklungspotenziale noch taktische Flexibilität, kognitive Handlungsschnelligkeit (die eine gute Technik voraussetzt) und eben die Suche nach neuen Wegen gegen tiefstehende Gegner. Julian Nagelsmann auf die Frage nach dem Fußball der Zukunft: „Entwicklungen wird es eher im Offensivspiel geben. Dass viele Tore nach schnellem Umschalten fallen, kann man als Erfolgsformel erkennen und trainieren. Man kann es aber auch so interpretieren, dass man zu wenige Lösungen bei eigenem Ballbesitz hat. Umschaltspiel ist auch viel leichter zu trainieren. Aber Lösungen zu finden gerade gegen tiefstehende Teams, das wird die Aufgabe.“

      Der Ball lag somit im Hof der „Großen“. Und zu den „Großen“ gehört auch die deutsche Nationalelf, die sich seit der Revolution von 2004 stark entwickelt hatte (wie der deutsche Fußball insgesamt). Aber da sich auch andere entwickelten, und nicht immer in die Richtung, die die Deutschen sich wünschten (Löw hoffte nach der Vorrunde auf offenere Spiele, woraus nichts wurde), ergaben sich immer wieder auch neue Defizite. Und bislang ist auch kaum etwas, was auf den Misthaufen von Fußballtaktiken und Spielphilosophien verbannt wurde, nicht irgendwann wieder aufgetaucht – häufig in modifizierter Form.

      Ballbesitz

      Bereits nach der EM 2016 wurde als Grund für das „deutsche Scheitern“ der „Ballbesitzfußball“ entdeckt. Was unter „Ballbesitzfußball“ zu verstehen ist, bleibt häufig unklar. Guter „Ballbesitzfußball“ sieht so aus: schnelles, präzises Passspiel mit dynamischen Positionswechseln, das den Gegner müde und aus seiner Ordnung spielt. Es ist wesentlich anstrengender, dem Ball und den Bewegungen des Gegners ständig hinterherzuschauen, als selber mit dem Ball zu arbeiten. Schnelles, präzises Passspiel mit Positionswechseln öffnet Räume, in die man dann mit Pässen in die Tiefe oder Dribblings hineinstoßen kann. Beim Ballbesitz positioniert sich das Team breit, um die Aufstellung des Gegners auseinanderzuziehen und Räume für Pässe in die Tiefe zu schaffen. Bei der EM 2016 (und bei der WM 2018 ebenfalls) war ein Manko im deutschen Ballbesitzkick, dass zu häufig in den Fuß statt in den Lauf gepasst wurde.

      Beim Ballbesitz offensiv steht die Mannschaft sehr hoch. Wie man es defensiv macht, demonstrierte Spanien gegen Portugal bei der WM 2018. Nachdem die spanische Selección in Führung gegangen war, praktizierte sie den Ballbesitz tiefer, um Portugal nicht an den Ball kommen zu lassen, herauszulocken und dadurch Räume vor und hinter der Abwehr zu eröffnen. Gerade hierzu bedarf es eines technisch perfekten Kurzpassspiels, mit dem sich der Ball auch unter Druck halten lässt. Beliebt und effektiv: Der Torwart passt unter Druck vertikal zu einem Mittelfeldspieler, vor dem sich nun ein großer Raum auftut. Wirkungsvoll gegen hoch pressende Gegner – wenn man es beherrscht. Des Weiteren nimmt man durch das Herstellen von Überzahl im Mittelfeld das Tempo aus dem Spiel.

      Bei den WM-Turnieren 2010 und 2014 triumphierten mit Spanien und Deutschland Mannschaften, die die Philosophie des Ballbesitzfußballs verfolgten und beherrschten. Dass sie damit Erfolg hatten, lag auch daran, dass sich beide Teams auf einen großen Block von Spielern stützen konnten, die beim selben Verein spielten. Bei einem Verein, der „Ballbesitzfußball“ praktizierte. Im Übrigen hieß der Trainer des Vereins in beiden Fällen Pep Guardiola. Beim Anpfiff des WM-Finales 2010 standen mit Piqué, Pujol, Busquets, Iniesta, Xavi und Pedro sechs Spieler des FC Barcelona auf dem Platz, die u. a. von Reals Xabi Alonso, auch er ein „Ballbesitzfußballer“, unterstützt wurden. Später kam noch Fàbregas hinzu, der zwar bei Arsenal London spielte, zuvor aber die Barca-Schule durchlaufen hatte. Das WM-Finale 2014 liefert ein fast identisches Bild. Deutschland begann mit sechs Akteuren des FC Bayern: Neuer, Boateng, Lahm, Kroos, Schweinsteiger und Müller. Später kam mit Götze noch ein siebter Bayern-Spieler aufs Feld.

      Wenn bei der EM 2016 der Gegner tief und eng stand und die Deutschen das Spiel verlagerten, waren die Außenverteidiger die Zielspieler, hochstehend und breit an den Linien. Diese waren ausgebildete „Sechser“ und keine Dribbler. Damit entfiel schon mal die Option des offensiven Eins-gegen-eins. Jonas Hector war defensiv stark, in der Offensive konnte er nur flanken. Und seine Flanken waren schlecht. Von 33 kamen nur zwei an. (Wobei Flanken als Mittel auch überschätzt werden. Österreich schlug in der Vorrunde über 50 Flanken, ohne ein einziges Tor zu erzielen. Gerade gegen tiefstehende Verteidigungen hofft man beim Flanken auf Zufall und Glück.) Und Joshua Kimmich beendete nur drei seiner neun Dribblings erfolgreich. Hector und Kimmich sind keine gelernten Außenverteidiger. Beim FC Bayern standen in der Saison 2015/16 Spieler wie Costa, Ribéry, Robben oder Coman an den Außenlinien, und die Außenverteidiger füllten stattdessen das Zentrum. Bei der DFB-Elf entfiel diese Option, da auf den offensiven Flügelpositionen zentrumsorientierte Spieler spielten, weshalb Hector und Kimmich Breite geben mussten. Sie konnten nicht so eingesetzt werden wie Lahm oder Alaba bei den Guardiola-Bayern.

      Der FC Bayern versucht immer, jeden deutschen Spieler, der seinen Ansprüchen gerecht werden kann, zu verpflichten. Mit deutschen Spielern waren beim Rekordmeister in der Saison 2015/16 folgende Positionen und Spielertypen abgedeckt: Torwart: Neuer; Innenverteidigung: Boateng, Hummels, Badstuber; „Sechser“: Kimmich; Mittelfeld offensiv: Müller, Götze. Was fehlte, waren Außenverteidiger (abgesehen von Lahm), Dribbler (vier Spieler, alle anderer Nationalität), Stürmer. Schon 2016 war also deutlich, woran es dem deutschen Fußball mangelte, wo es in der Ausbildung haperte: Es fehlten klassische Außenverteidiger, „Neuner“, Eins-gegen-eins-Spezialisten. Der Fokus lag einige Jahre extrem auf den Zentrumspositionen (und auf kurzen Ballhaltezeiten, „One touch“-Fußball). Hier existierte eher ein Überangebot. Wenn man eine Sache fördert, bei der man vorher Defi-zite hatte, werden andere Dinge auch mal zu stark vernachlässigt.

      Es wird manchmal so getan, als sei die Verweigerung des Ballbesitzes eine besonders clevere Taktik. Mehr Ballbesitz ist häufig nur Ausdruck von technischer und spielerischer Überlegenheit, der der Gegner dann ein Umschaltspiel bzw. Konterfußball aus der Tiefe entgegensetzt. Ein Spiel, bei dem beide Mannschaften weniger als 50 Prozent Ballbesitz verzeichnen, gibt es nun mal nicht. Und gegen tiefstehende Teams wie Island oder Nordirland wird eine deutsche Nationalelf nie Konterfußball spielen können.

      Wenn Island bei der EM 2016 im Schnitt auf nur 35 Prozent Ballbesitz kam, dann auch deshalb, weil der Gegner im Umgang mit dem Ball überlegen war. Anders gesagt: Weil die Isländer kaum dazu in der Lage waren, den Ball mal in den eigenen Reihen zu halten, um ihr Spiel in Ruhe aufzubauen. Weniger Ballbesitz bedeutet häufig auch mehr Kraftaufwand. Technisch gute Teams machen das Spiel mit dem Ball schnell und lassen mehr den Ball als die Beine laufen – gemäß dem Cruyff’schen Motto: „Der Ball wird nicht müde.“ Wohl aber der Gegner, der frustriert zuschauen muss, wie die Kugel vor seinen Augen hin- und hergepasst wird, ohne dass er trotz aller Anstrengungen an sie herankommt. Island-Coach Lars Lagerbäck hatte dies erkannt, als er sein Team vor dem EM-Viertelfinale ermahnte, mehr Ruhepausen einzubauen und nach Ballgewinn „cooler“ zu werden.

      Ballbesitz allein reicht aber nicht. Es kommt darauf an, was man damit anstellt. Einigen Mannschaften gibt man auch gerne mal den Ball, weil man weiß, dass sie keinen Plan haben. Sie verlieren den Ball wieder schnell, was die Möglichkeit zum blitzschnellen Angriff bietet, bei dem sich der Gegner taktisch und gedanklich noch im Ballbesitz-Modus befindet.

      England wollte bei dieser EM anders spielen als früher. Beim Spiel England gegen Island verbuchten die Three Lions 68 Prozent Ballbesitz. Natürlich hatte Island auch Glück. Aber England hatte eben auch Schwächen im Positionsspiel (fehlende Breite), und die Spieler waren mit der Idee des Ballbesitzes nicht vertraut (fehlende Geduld) und verstrickten sich daher in hektische Einzel- und Verzweiflungsaktionen. Die Chancen, die sie hatten, waren vornehmlich Fernschüsse oder Wühlaktionen, keine klaren Abschlüsse. Am Ende gewannen die Isländer das Achtelfinale mit 2:1. Der einzige Treffer für England fiel per Elfmeter.

      Der „Neuner“ und der „falsche Neuner“

      Nach der deutschen Niederlage gegen Frankreich schrieb Jan-Christian Müller in der „Frankfurter Rundschau“: „Es wird nun im ganzen Land nach einem Torjäger gerufen, und in manchen Medien wird Joachim Löw zumindest eine Teilschuld daran gegeben, dass er diese Entwicklung aufgehalten hätte mit seiner Erfindung der


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