Ausgespielt?. Dietrich Schulze-Marmeling

Ausgespielt? - Dietrich Schulze-Marmeling


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bzw. die Millionen von Bundestrainern gemeinhin unter einem „Neuner“ (bzw. klassischen Mittelstürmer) verstehen: Der Spieler sollte sich vorwiegend im gegnerischen Strafraum aufhalten; er sollte groß und kopfballstark (und damit ein Empfänger von Flanken) und ein „Knipser“ sein.

      In der Bundesliga-Torschützenliste der Saison 2015/16 belegte der beste Deutsche mit 20 Toren Platz drei. Der hieß Thomas Müller und war kein „Neuner“. Zweitbester Deutscher war mit 14 Toren in 32 Spielen Sandro Wagner, der mit einer Größe von 1,94 Metern und einer sehr guten Chancenverwertung (viele Vorlagen bekam er als Spieler von Darmstadt 98 nicht serviert) tatsächlich den klassischen Vorstellungen vom „Neuner“ entsprach. Auf Rang drei rangierte Moritz Hartmann vom FC Ingolstadt, den einige Leser möglicherweise nicht einmal kennen. Der damals 30-jährige Stürmer hatte zwölf Tore geschossen. Ein exzellenter Strafraumspieler, jedenfalls wenn Ball und Gegner ruhten. Hartmann traf siebenmal vom Elfmeterpunkt. Des Weiteren fand man unter den ersten 30 der Rangliste u. a. Marco Reus (12 Tore in 29 Spielen), André Schürrle (9/29), Julian Brandt (9/29) und Daniel Didavi (9/29), die allesamt unbestritten keine „Neuner“ sind. Es blieben noch Pierre-Michel Lasogga (8/30), Kevin Volland (8/33), Nicolai Müller (9/29) und Alexander Meier (12/29). Deutschlands erfolgreichster Torschütze spielte im Ausland, hieß Mario Gomez und war in der Saison 2015/16 mit 26 Treffern Torschützenkönig der türkischen Super Liga. Er war bei der EM dann auch Stammspieler.

      Lasogga sollte Anfang 2014 in der Nationalelf debütieren, musste aber verletzt absagen und fand anschließend – offenkundig aus sport-lichen Erwägungen – keine Berücksichtigung mehr. Kevin Volland wurde vor der WM 2014 lautstark als Mittelstürmer gerufen, wobei übersehen wurde, dass Volland ein Außenspieler ist. Nicolai Müller misst nur 1,73 Meter und ist vor allem ein Sprinter, benötigt also Raum vor sich, um seine Qualitäten auszuspielen. Alexander Meier (1,96 Meter) spielte im offensiven Mittelfeld oder im Sturm und war in der Saison 2014/15 mit 19 Toren Bundesliga-Torschützenkönig. Noch weniger (18) reichten für die Kanone zuletzt in der Saison 2001/02 (Martin Max, Marcio Amoroso). Karim Bellarabi, dessen Daheimbleiben bei der EM 2016 manche bedauerten, war auch kein „Neuner“ und zudem nicht sonderlich torgefährlich. In der Saison 2015/16 standen sechs Tore in 33 Bundesligaspielen und null bei sechs Champions-League-Auftritten zu Buche. Max Kruse, im März nach Vorfällen abseits des Platzes aus der Nationalmannschaft gestrichen, spielte beim VfL Wolfsburg eine mäßige Saison und traf in 32 Spielen nur sechsmal. Sandro Wagner schließlich, wie erwähnt in der Saison 2015/16 zweitbester deutscher Torschütze in der Bundesliga, war ein ähnlicher Stürmer-Typ wie Gomez und galt persönlich als problematischer.

      Es wird manchmal so getan, als sei der „falsche Neuner“ eine seltsame Erfindung Jogi Löws gewesen. Teil eines infamen Planes, dem deutschen Fußball auch noch das letzte „Deutsche“ auszutreiben. Die Geschichte seiner Entstehung ist aber eine andere. Der traditionelle Mittelstürmer war vor einiger Zeit in die Krise geraten, erwies sich gegen intelligente Abwehrreihen wiederholt als uneffektiv. Wurde der „Neuner“ durch enge Bewachung aus dem Spiel genommen, spielte man de facto in Unterzahl. Die alte Sturmspitze musste sozusagen „beweglicher“ gemacht und mehr in das Restspiel eingebunden werden, häufiger den Strafraum verlassen und die Position wechseln, um sich für den Gegner weniger fassbar zu machen. Das Toreschießen wurde zugleich auf mehrere Schultern verlagert. Die modifizierte Sturmspitze durfte auch als Vorbereiter glänzen. Der FC Barcelona war hier die stilbildende Mannschaft – und Barça war erfolgreich.

      Pep Guardiola arbeitete in seinen letzten beiden Spielzeiten als Barça-Trainer ohne eine klassische Sturmspitze. Mit einem „falschen“, „halben“ oder auch „verkappten Neuner“ ließ bereits Johan Cruyff spielen. Wenn der Gegner drei Stürmer gegen Barça aufbot, zog Cruyff seinen zentralen Stürmer zurück, um eine zahlenmäßige Überlegenheit im Mittelfeld zu sichern. Unter Guardiola wurde der „halbe Neuner“ von Lionel Messi gespielt, der von außen in die Mitte zog. Messi war irgendwo zwischen der Neun, der Zehn, der Elf und der Sieben anzusiedeln. In dieser Rolle konnte er sich am besten entfalten – zum Leidwesen von mannschaftsinternen Konkurrenten wie Zlatan Ibrahimovic und David Villa. In der Tat hatten es klassische Sturmspitzen bei Guardiola schwer. Was aber auch mit Messi zu tun hatte, der dem „Neuner“ keinen Platz ließ. Und Messis Torgefährlichkeit ist ja legendär: Stand August 2018 sind es 312 Tore in 348 Ligaspielen, 83 Tore in 106 Champions-League-Begegnungen. So einem Spieler erfüllt man jeden Wunsch.

      Der englische Taktikexperte Jonathan Wilson erzählte bereits 2010 dem österreichischen Fußballmagazin „ballesterer“, dass der „falsche Neuner“ zwar auf Spieler wie den Österreicher Matthias Sindelar und den Ungarn Nandor Hidegkuti zurückgeht, die Vorbereiter und Vollstrecker in einer Person waren. Allerdings hätten diese – wie der klassische „Zehner“ – immer mindestens einen Mitspieler vor sich gehabt, was nicht mehr der Fall sein muss, „wenn der zentrale Stürmer, um Platz zu schaffen, auf die Seite wechselt“. Der Unterschied der Generation Messi zu Diego Maradona und anderen klassischen „Zehnern“ sei, dass sie auch über die Flügel kommen, da der Raum im Zentrum immer enger geworden ist. Wilson: „Man muss immer schauen, wo es Platz gibt, um zu beschleunigen. Wenn du am Flügel spielst und an deinem Gegenspieler vorbei nach innen ziehst, hast du einige Meter Platz bis zum Innenverteidiger. Das Ganze wird noch verschärft, wenn ein Spieler wie Messi den Ball dann auf dem stärkeren Fuß hat. (…) Es sind keine klassischen Stürmer und auch keine Flügelstürmer, weil sie aus dem Raum kommen. Messi geht in der Regel nicht außen an seinem Gegenspieler vorbei, um eine Flanke zu schlagen.“

      Es war nicht so, dass Guardiola dem „klassischen Neuner“ per se eine Absage erteilte. Guardiolas „falscher Neuner“ hatte auch etwas mit Anpassung zu tun – Anpassung an das Spielermaterial und hier vor allem an den in die Mitte drängenden Messi.

      Löws „falscher Neuner“ war sicherlich dem Wunsch nach mehr Flexibilität im Angriffsspiel geschuldet. Aber er war auch aus der Not geboren. In Mario Götze sah man einen „Messi-ähnlichen“ Spieler, der den „klassischen Neuner“ ersetzen könnte. Als Götze vom BVB zu den Bayern wechselte, behauptete Jürgen Klopp, Götze sei ein „Wunschspieler Guardiolas“. Die „Frankfurter Rundschau“ schrieb: „Er ist sozusagen Guardiolas neuer Messi. (…) Dank seines tiefen Körperschwerpunkts vermag er sich durch kurze Drehungen auf engstem Raum größtmögliche Gestaltungsmöglichkeiten zu erarbeiten und völlig neue, zuvor für niemanden sichtbare Spielsituationen zu gestalten, er besitzt zudem ein ausgeprägtes Gefühl dafür, im richtigen Moment perfekt temperierte Pässe in die Schnittstellen zu spielen, und traut sich, Vorstöße bis tief in den gegnerischen Strafraum hinein zu laufen und abzuschließen.“ Götze interpretiere seine Rolle „sehr fließend“ und ließe sich „ganz ähnlich, wie das Gespenst Messi zu tun pflegt, (…) regelmäßig abwechselnd auf sämtliche Positionen im Mittelfeld zurückfallen“. Spieler wie Götze könnten das Spiel der Bayern weiter in Richtung Barça rücken.

      Dass sich diese Erwartungen nicht erfüllten, hat mehrere Gründe. Dazu gehören auch Götzes Verletzungen. Vermutlich wurde er aber auch etwas überschätzt. Ohnehin weist Götze deutlich weniger Ähnlichkeiten mit Messi auf als immer dargestellt. Er ist Iniesta viel ähnlicher als Messi. Er hat weder dessen Antritt, noch dessen Dribbelfähigkeiten und ist viel mehr von den Spielern neben ihm abhängig als der Argentinier. René Maric schrieb auf „spielverlagerung.de“: „Götze kann schlichtweg nicht konstant aus statischen Positionen gefährliche Chancen kreieren oder aus torentfernten Räumen mithilfe von wenigen Aktionen und in Unterzahlsituationen Präsenz erzeugen.“

      Auch Miroslav Klose war kein typischer „Neuner“. Er war technisch exzellent, beweglich, vielseitig. Aber auch ein Klose hat in der Nationalmannschaft nicht Tore am Fließband geschossen, ungeachtet der Tatsache, dass er bei den WM-Turnieren 2002, 2006, 2010 und 2014 insgesamt 16-mal traf. Bei der WM 2002 entfielen drei seiner fünf Tore auf ein Spiel – auf das 8:0 gegen Saudi-Arabien, als er dreimal per Kopf erfolgreich war. 2006 waren vier der fünf Tore „Doppelpacks“ in der Vorrunde. Sie fielen gegen Costa Rica und Ecuador, die nicht gerade zu den Großen des Weltfußballs zählten. Klose war zwar immer für ein Tor gut, aber es war zugleich eben nicht so, dass er gegen Top-Gegner in Serie traf – ohne dass diese Feststellung Kloses Leistung schmälern soll. Und Gomez, auf den Löw setzte, als Götze als „falscher Neuner“ nicht reüssierte? Der war mit seinen


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