Die Schlinge. Pavel Kohout
»Du weißt, dass ich mich wegen dir scheiden lassen wollte! Aber ich konnte nicht ahnen, dass du diese Nacht überlebt hast, als ich nach dem Krieg gar nichts mehr von ihr gehört habe!«
»Ich habe mich dort im Krankenhaus erst nach einem halben Jahr erinnert, wer ich war.«
»Du wusstest auch, dass wir uns nur zum Schein haben scheiden lassen. Felix ließ diesen Akt dann wieder rückgängig machen. Du warst für mich gestorben, und ihn konnte ich wenigstens noch schätzen.«
»Hast du ihm gesagt, dass wir ein halbes Jahr miteinander gelebt haben?«
»Ich habe gesagt, dass wir uns zufällig getroffen haben und du mir dort zu überleben geholfen hast.«
Sie bemerkte, dass sie ihn damit verletzt hatte.
»Entschuldige, aber wozu wäre das gut gewesen? So schätzt er dich wenigstens weiterhin. Er war es, der mich zu dir geschickt hat.«
Ungläubig setzte er sich hin.
»Er hat dich geschickt, damit du hier mit mir ...?«
»Um Gottes willen, nicht deswegen! Die Sozialdemokratie ist gerade bis aufs Blut wegen des Zusammenschlusses mit den Kommunisten zerstritten!«
»Ja, aber was soll ich ...«
»Du bist in ihrem Zentralkomitee. Er möchte sich mit dir bald einmal diskret beraten.«
»Vor dem Krieg konnte er mich nicht einmal riechen!«
»Er glaubt, dass du dem Radikalismus abgeschworen hast. Angeblich hätten es ihm deine Verse gesagt. Er selbst hat mir die Sammlung gegeben, er ahnte nicht, dass ich sie gleich nach ihrem Erscheinen gelesen ... und mich dabei ausgeweint habe, Jan ...«
Er sah, dass sie vor Kälte zitterte, stand auf und legte ihr seinen Mantel um, den er aus den auf den Boden geworfenen Kleidern hervorzog.
»Und er hat nicht gemerkt, dass es um dich geht?«
»Du weißt, ich lüge nicht. Aber ich habe ihm erzählt, dass du dich dort in meine Freundin verliebt hättest, die nicht überlebt hat ...«
Und weiter wollte sie darüber nicht mehr sprechen.
»Könntest du vielleicht übermorgen am Nachmittag?«
Er nahm ihre Hände.
»Kommst du zu mir zurück?«
Sie antwortete, als hätte sie auf diese Frage gewartet.
»Jetzt geht es nicht mehr!«
»Warum denn nicht?«
»Er ist ... sehr gealtert ...«
»Na und?«
»Es gibt so etwas wie Solidarität ...«
Jan bekam Magenschmerzen, seit seiner Kindheit ein Warnsensor für seinen Seelenzustand.
»Hast du also mit mir geschlafen, nur damit ich ihm einen Rat gebe?«
Jetzt fuhr sie so schlagartig hoch, dass ihr der Mantel hinunterrutschte.
»Ich habe nicht aufgehört, dich zu lieben, wie du eben bemerken konntest.«
»Ich dich auch nicht, wie du bemerken konntest ... Aber wie geht es dann mit uns weiter?«
Nackt wie sie war, beugte sie sich zu ihrem Kostüm hinab und fischte aus seiner Tasche ein silbernes Zigarettenetui und ein Feuerzeug.
»Rauchst du immer noch nicht?«
»Immer noch nicht. Wie geht es weiter, Kamila?«
Sie zündete sich eine Zigarette an und widmete erst jetzt ihre Aufmerksamkeit dem gegliederten Raum, welcher mit Statuen und Gemälden auf Staffeleien überfüllt war.
»Wo sind wir?«
»Im Atelier eines Schulfreundes. Er gibt eine Ausstellung in der Schweiz, aber es sieht so aus, als ob er dort bleiben würde – nach den Ereignissen bei uns. Antwortest du mir?«
Aufgeregt zog sie an ihrer Zigarette und drehte sich zu ihm hin.
»Wenn du mir versprichst, dass du nichts in die Luft sprengst, dann will ich dich hier treffen, wann immer es geht. Ich fühle es, wie du es geschrieben hast!«
»Was?«
Die dunkle Altstimme rief ihm jenen Doppelvers ins Gedächtnis, der seine Sammlung ausklingen ließ.
Ich dank’ dir für die Liebe ohne Zwist.
Mein Leben lang werde ich wissen, dass du bist.
4
Unter der Woche konnten sie auf ihrem Bretterstapel, einem nicht allzu sehr besuchten Ort, höchstens Händchen halten. Am nächsten Sonntag wurden ihnen die Knie vor lauter Sehnsucht schon auf dem Weg ins Kino weich. Es regnete, und so war der Saal gefüllt. Als der bekannte Platzanweiser sie jedoch sah, gab er ihnen ein Zeichen, abzuwarten, bis er dem letzten Zuschauer einen Platz zugewiesen hatte. Dann führte er sie in seine Wohnung hinter dem Kino. Auf der Wäschekommode standen zwei Fotografien, auf denen junge Männer in Uniformen zu sehen waren. Zwei schwarze Schleifen waren um die Ecken gebunden. Der Vater rächte sich am deutschen Führer, indem er jetzt jeden Sonntag dessen Leibeigenen die verwaiste Wohnung überließ.
Einige blutjunge Mädchen, die Jan erobert hatten, bevor er Kamila traf, hatte er sich längst aus dem Kopf geschlagen. Und es schien, als hätte auch Kamila ihren Ehemann vergessen. Jan entdeckte zum ersten Mal seine Leidenschaft, sie entdeckte die ihre von neuem. Ganze einhundertdreiundsechzig Stunden in der Woche, ob sie wach waren oder schliefen, lebten sie im Geist auf jene fünf Stunden an den Sonntagen zu. Währenddessen redeten sie unentwegt über diese gemeinsame Zeit. Die ausbrechende Liebe löste die Hoffnungslosigkeit gänzlich auf, welche beide bereits das fünfte Jahr im Würgegriff hielt. Felix Fischer band Kamila nicht mehr an sich, sie war sich sicher, dass er sie verstehen würde. Er war wegen einer höheren Berufung von ihr gegangen, sie würde um eines stärkeren Liebesgefühls willen von ihm gehen.
In den Werkstätten mussten sie auch an Heiligabend nicht arbeiten. Im Kino spielte man nichts, aber der hinkende Mann wartete auf sie. Im Zimmer der verstorbenen Söhne fanden sie einen erleuchteten Christbaum, Nüsse, Äpfel und einen Weihnachtsstollen. Geschenke hatten sie keine, und so schenkten sie einander sich selbst. Dann schlug ihm Kamila vor, gleich nach dem Krieg zu heiraten.
»Und werden dich die Leute nicht auslachen, wenn ich viel jünger bin?«, fragte er unsicher.
»Sie werden mich beneiden, dass ich so anziehend bin!«
Die erste Katastrophe brach am 12. Februar 1945 herein. Jan wurde von Lkw-Motoren aufgeweckt. Man fuhr die Frauen in eine andere Fabrik, wohin man schon vorher einen Teil der Maschinen von der Front weg verlagert hatte. Er stand wie erstarrt am Drahtzaun, dessen Durchgang man versperrte, und versuchte vergeblich, wenigstens noch einen letzten Blick von Kamila zu erhaschen, bevor er zur Arbeit musste. Der unendliche Tag zehrte nur von der Hoffnung, dass womöglich nicht alle weggefahren waren. Am Abend war die benachbarte Baracke leer. In dieser Nacht konnte er vor lauter Verzweiflung nicht schlafen. Weder der klare Himmel noch der glitzernde frische Schnee vermochten ihn zu trösten. Danach begannen die Bomben noch vor den Alarmsirenen einzuschlagen.
Zunächst sah es nach einem Angriff auf die Industrieviertel aus. Stärker als sonst lebte die Legende auf, dass Dresden von der Liste der Ziele, die durch Flächenbombardements vernichtet werden sollten, gestrichen worden sei. Die Arbeiter sollten sich in Schutzbunker begeben, aber nicht alle gehorchten. Jan gehörte zu denjenigen, die geradewegs zur nicht weit entfernten Elbe losliefen. Den breiten und langen Überschwemmungsstreifen mussten die Flieger kennen, hierfür waren ihnen ihre Bomben bestimmt zu schade. Von der Stelle aus, wo er auf Kamila getroffen war, verfolgte er mit den Augen wie in einem Gruseltheater, wie ihm gegenüber die Semperoper und der Zwinger zerbarsten und einstürzten. Den lieblichen Pinsel Canalettos löste die grausige Farbpalette von Hieronymus Bosch ab.
Für die Mehrheit derer,