Vor der Wand. Michael Göring
Eine junge Ärztin kam, ein dunkler Bubikopf mit dunkelroten, aber schmalen Lippen und langen schwarzen Wimpern. Sie überprüfte den Puls, maß noch einmal den Blutdruck, fragte, ob er jemals epileptische Anfälle gehabt habe, und schien ganz zufrieden, als Georg dies verneinte und ihr erzählte, dass er an diesem Nachmittag sehr viel Kaffee getrunken und schon seit einiger Zeit starken Harndrang gehabt hätte. Die Ärztin wies die Schwester an, ihm zwanzig Tropfen eines bestimmten Kreislaufmittels zu geben. Von diesem Mittel solle er auch vor dem Zubettgehen und morgen früh je zwanzig Tropfen nehmen. Die Schwester würde in einer Stunde, kurz vor Ende der Besuchszeit, noch einmal Blutdruck und Puls messen. Wenn Georg wolle, würde sie ihn gerne morgen wieder untersuchen, sagte sie, wahrscheinlich habe er aber schon am Abend dieses Schwächegefühl vergessen. Sie sei überhaupt verwundert, denn eine halbe Stunde nach der Blutentnahme habe Georg einen völlig normalen Blutdruck und Puls gehabt, sodass ein Schwächeanfall nicht zu befürchten gewesen wäre. Aber der heftige Kaffeekonsum könne in so angespannten Situationen schon einiges auslösen.
Fünf Minuten später kam die junge Schwester noch einmal zurück, dieses Mal mit einer Tasse Kräutertee und einem kleinen braunen Fläschchen mit den Tropfen für die Nacht und den nächsten Morgen. Sie lächelte ihn freundlich an. Er solle viel Zucker in den Tee tun, damit verabschiedete sie sich.
Vater hatte die ganze Zeit geschwiegen. Erst als sie zu dritt allein im Zimmer waren, wandte er sich Mutter zu und sagte: »Georg hat schon als Kind manchmal das Wasser nicht halten können.«
»Aber Walter«, antwortete seine Mutter, »das gehört doch jetzt nicht hierher, das ist doch heute etwas ganz anderes. Georg hatte einen Kreislaufkollaps!«
Wenige Minuten später kam Bärbel mit dem kleinen Lukas. Georg hatte nicht gewusst, dass auch sie heute kommen würde, sie allerdings schien nicht überrascht, ihn im Krankenhaus anzutreffen. Sicherlich hatte Mutter ihr bereits gestern am Telefon erzählt, dass er da sein würde, um Vater Blut zu spenden. Bärbel wunderte sich, Georg in der Hose und im Pulli ihres Vaters zu sehen. Mutter erzählte schnell, was passiert war, und flüsterte zweimal gut vernehmlich: »Er hat alles unter sich gehen lassen, die Schwestern mussten ihn waschen.« Georg ballte die Hand zur Faust. Ihm war elend. Mutter würde diese Geschichte noch mehrfach erzählen.
Bärbel strich ihm durchs Haar, »poor boy« sagte sie und setzte Lukas, der vergnügt blabberte, auf den Schoß ihrer Mutter.
»Jetzt seid ihr wieder alle hier an meinem Krankenbett wie letzte Woche schon«, sagte Vater, »sieht ja so aus, als würde ich tatsächlich bald sterben.«
»Aber nicht doch, Walter«, sagte Mutter laut, »Bärbel hat doch diese Woche Herbstferien, sie wollte ohnehin kommen. Thomas kommt in zwei Tagen nach, sie machen ein paar Tage Urlaub bei uns, damit ich nicht so allein bin.«
»So, so«, antwortete Vater nur und ließ offen, ob Mutters Erklärung ihn überzeugt habe.
Bärbel widmete sich nun ganz ihrem Vater, rückte ihren Stuhl dicht an sein Bett, berichtete kurz von der Fahrt von Bielefeld nach Langenheim und erzählte von der Schule. Ihr Oberstudiendirektor habe am Freitag angefragt, ob sie im nächsten Jahr eine Klasse als Klassenlehrerin übernehmen wolle. Georg sah und hörte ihren Stolz. Ob das Vater überhaupt interessierte? Ja, Vater hörte ihr zu, aufmerksam, hielt die Augen auf sie gerichtet, während sie erzählte. Wie selbstbewusst Bärbel war und wie sehr sie sich über ihr Lehrerinnen-Dasein freute! Die beiden gingen viel vertrauter miteinander um, als es ihm mit Vater je möglich war. Wie Vater zuhörte, nachfragte, mit Bärbel lachte. Georg spürte, dass er seine Schwester um dieses unangespannte, gleichberechtigte Verhältnis beneidete. Bärbel hatte als Jugendliche ihre Probleme mit Mutter gehabt, vor allem weil Mutter ihr immer vorschreiben wollte, was sie anziehen sollte. Aber zwischen Vater und ihr war die Verbindung immer gut geblieben und nie abgebrochen.
Bärbel hatte nach dem Abitur ihre beiden Lieblingsfächer Deutsch und Englisch zu Studienfächern gemacht. Fünf Jahre später hatte sie ein glänzendes Erstes Staatsexamen in der Tasche und einen Verlobungsring an der linken Hand. Auch die Vorbereitung auf das Zweite Staatsexamen ging zielsicher und ohne jede Aufregung voran. Bärbel war fast einen Meter achtzig groß, hatte blondes, mittellanges Haar, eine tadellos proportionierte Oberweite und offenbar keine Probleme, auch eine Klasse kräftig pubertierender Vierzehnjähriger ruhigzuhalten. Mutter hatte ihm immer wieder von den guten Stundenbewertungen berichtet, die Bärbel bei ihrem Referendariat von den Oberstudienräten und dem Schulleiter einsammelte. Dann hatte Thomas vor drei Jahren beim Weihnachtstreffen plötzlich von Heirat gesprochen. Es war nur gut, dass er, der kleine Bruder, zu diesem Zeitpunkt schon mit Marie zusammen war, sonst hätte ihm diese Ankündigung sicher sehr weh getan.
Jetzt meldete sich Lukas mit leichtem Geweine und heftigen Armbewegungen Richtung Bärbel. Mutter versuchte angestrengt, ihr Enkelkind zu beruhigen, doch Bärbel stand kurz auf und nahm ihren Jungen auf den Schoß. Lukas hörte sofort auf zu weinen. Bärbel berichtete Vater von Thomas’ Idee, in Bielefeld eine Bürgerinitiative zu gründen, um ihre Straße einzuengen und sie zur Spielstraße mit Tempo 30 herunterzustufen.
Georg fühlte sich in der Verkleidung mit Vaters Sachen unwohl. Bärbel schien ihn gar nicht zu beachten. Niemand beachtete ihn, auch Mutter schaute nur auf Bärbel und hörte ihr gespannt zu. Zwischen Bärbel und ihm waren eben doch stets vier Jahre Distanz, wenn die Kluft nicht gar noch größer war. Was wusste er eigentlich von seiner Schwester? Was wusste sie von ihm?
Während Bärbel vom Plan einer Straßenversammlung sprach und Lukas auf ihrem Schoß hin und her schaukelte, überlegte Georg, dass sie größere Vertrautheit und Gemeinsamkeit als Kinder eigentlich nur in den Urlauben erlebt hatten. Das hatte vor allem an den vier Jahren gelegen, die er in Regensburg verbracht hatte und in denen sie sich immer nur in den Ferien trafen oder kurz zu Weihnachten oder Ostern. Jetzt im Krankenzimmer des Vaters sah er sich und Bärbel im Sommer an der Nordsee, in Cuxhaven-Duhnen, in dem kleinen Hotel »Meeresbrandung«. Da hatten sie im Wattenmeer gemeinsam dieses blaugelbe Plastikflugzeug mit den rotierenden Flügeln steigen lassen. Er musste aber auch an einen späteren Urlaub denken, in dem Bärbel nicht mehr gemeinsam mit ihm spielen wollte, sondern nur faul im Strandkorb lag und sich sehr bemühte, einem Sebastian zu gefallen, der zwei Sandburgen weiter mit seinem Bruder in einem Strandkorb saß und auffallend oft zu ihr herüberschaute. Irgendwann hatte dann Bärbel neben diesem Sebastian zwei Sandburgen weiter gelegen und er hatte den Kinder-Strandkorb der Familie Mertens ganz für sich alleine. Langweilig war es gewesen, und er hatte sich schon im Urlaub wieder auf Regensburg gefreut, auf Wommi und die nächsten Chorreisen.
»Hey, Gorgi, wach auf!« Bärbel stand vor ihm und lachte ihn an. »Du träumst ja, Gorgi!«
Für einige Minuten hätte er tatsächlich schwören können, dass er die Nordsee-Luft gerochen und Möwen gehört hatte.
»Komm, nimm mal Lukas.«
Georg hasste es, wenn ihm so plötzlich der kleine Lukas auf den Schoß gesetzt wurde. Der quengelte immer gleich, war unruhig, fuchtelte mit den Händen und wollte zurück zu seiner Mutter. Von ihm aber wurde erwartet, dass er sich voller Dankbarkeit und mit überschwänglicher Liebe sofort seinem kleinen Neffen zuwandte, nichts schöner finden würde, als dieses unruhig zappelnde Kind zu bändigen, dessen Reaktion darüber entschied, ob er als guter oder schlechter Onkel angesehen wurde. Wenigstens hatte Lukas eine richtige Hose an und man setzte ihm den Jungen nicht mit seinen blanken Windeln auf den Schoß.
»Du bist noch schwach, gib ihn lieber mir«, sagte Mutter. Georg fühlte sich zwar nicht mehr schwach, aber er gab Lukas gern an Mutter weiter. Vater schien erschöpft, er hatte Bärbel lange zugehört und sich am Gespräch beteiligt. Nun schloss er immer mal wieder die Augen, atmete gleichmäßig und nickte recht zufrieden, als sie sich von ihm verabschiedeten.
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