Vor der Wand. Michael Göring
entschuldigen Sie, ich habe wohl vor mich hingesprochen.«
Georg nahm einen Schluck Kaffee. Er sah sich auf einmal mit einem kleinen, vielleicht vier- oder fünfjährigen Jungen an der Hand, und er ging mit ihm durch einen Garten, stand vor einem Teich mit Seerosen darin. Es war der Garten in der Görresstraße, der Junge zeigte auf den Starenkasten, der in der alten hohen Fichte hing, und dann war auf einmal er dieses Kind. Er ging an der Hand seines Vaters durch den Garten und sein Vater sang:
»Ich bin nur ein armer Wandergesell,
gute Nacht, liebes Mädel, gut’ Nacht.
Gar dünn ist mein Wams und gar dick ist mein Fell,
gute Nacht, liebes Mädel, gut’ Nacht.«
Es war seine älteste Erinnerung an den Garten. Vielleicht war es der erste bewusste Gang dort gewesen, damals, kurz nachdem Vater das Haus an der Görresstraße gekauft hatte. Vater hatte leise gesungen, dennoch »mit Ausdruck« und nur für ihn, nicht am Klavier vor einer Tischgesellschaft, sondern für ihn, den fünfjährigen Georg im Garten.
»Und oft da dacht ich,
ich packte das Glück,
doch immer
da zog’s mir die Patschhand zurück,
Da hab ich geweint und gelacht.«
Georg wunderte sich, dass er den Text immer noch im Kopf hatte. »Patschhand«, sagte er auf einmal im Café Haase. Zum Glück hatte ihn niemand gehört.
Er erinnerte sich auch, wie sie einmal im Garten ein Wettrennen gemacht hatten, Vater und er. Er war vielleicht fünf oder sechs, Vater war aus dem Büro direkt durch das kleine Tor in den Garten gekommen. »Wer nach fünf Runden zuerst wieder am Gartentörchen ankommt, hat gewonnen«, und Vater in Anzughose und weißem Hemd lief vor ihm, lief und lachte, machte große Schritte, es war schon die dritte, dann die vierte Runde, da stolperte Vater und fiel auf den Rasen, lag flach, langgestreckt, wie ein Insekt, seine Brille landete einen Meter vom Gesicht entfernt im Beet. Georg stoppte, einen Moment stockte alles, Stille, dann lachte Vater, lachte laut, und Georg lachte mit, konnte sich gar nicht mehr halten vor Lachen, während Vater noch immer neben ihm im Rasen lag, mit der dunklen Hose und dem weißen Hemd, das jetzt dreckig war, und dann drehte sich Vater sogar und fuchtelte mit Armen und Beinen wie ein Maikäfer, der auf den Rücken gefallen ist. So hatte Georg Vater noch nie gesehen, und er musste so sehr lachen, dass er den Urin nicht länger zurückhalten konnte, die Blase leerte sich und es floss warm an seinen Beinen herunter. Da kam Mutter hinzu, ängstlich, weil sie Vater auf dem Rasen liegen sah, und Bärbel erschien mit erstauntem Gesicht. Nun sahen sie, wie Vater und er lachten, einfach nur lachten und wie es unter Georgs kurzer Hose hindurch an seinen Beinen heruntertröpfelte. Da lachten auch Mutter und Bärbel, aber ihm verging das Lachen, er war doch schon fast sechs, kam bald in die Schule, und es war eklig, so eklig, und auch die drei hörten jetzt auf zu lachen. Mutter holte ein Handtuch, trocknete ihn ab und ging mit ihm ins Badezimmer. »Das kann passieren, Georg«, sagte sie und ließ Wasser in die Wanne laufen. Eine Stunde später beim Abendessen machte Vater dann eine hässliche Bemerkung über das Ende ihres Wettlaufs. Jetzt im Café Haase konnte Georg sich nicht mehr ins Gedächtnis rufen, was Vater damals gesagt hatte. Er erinnerte sich nur noch daran, wie er sich am Esstisch unendlich geschämt hatte.
Georg trank den letzten Schluck Kaffee und schaute gedankenverloren auf den Grund der Tasse. Als er am Samstag nach dem ersten kurzen Besuch bei Vater nach Köln zurückgekehrt war, hatte Marie ihn bereits in seiner kleinen Einzimmerwohnung erwartet. Es hatte so unendlich gut getan, sie in den Arm zu nehmen, waren doch noch all die Bilder vom Krankenzimmer in seinem Kopf. Er hatte überlegt, ihr an diesem Wochenende vorzuschlagen, zur Vorbereitung auf sein Examen ab sofort ein oder zwei Wochentage in ihrer Wohnung in Düsseldorf zu lernen. Dann hätten sie während der Woche mehr Zeit miteinander, mehr Alltag. Seine Verpflichtungen als studentische Hilfskraft an der Kölner Uni könnte er auf zwei Tage pro Woche verdichten. Er suchte den passenden Moment für diesen Vorschlag, sah vor seinem geistigen Auge die gewünschte Reaktion, ein breites Lächeln, sich öffnende Arme, aber er war sich nicht ganz sicher.
Am Sonntagmorgen war er nach dem Aufwachen auf ihre Seite des Bettes gekrochen und hatte sie an sich gedrückt. Während er Brust und Bauch an ihren Rücken schmiegte, erzählte ihm Marie ausgiebig von einem älteren Amtsrichter, der immer ganz bedeutsam aufträte und sie am letzten Donnerstag zu einem Abendessen beim Italiener eingeladen hatte, um ihr ein paar wichtige Geheimnisse anzuvertrauen. Diese hatten sich bei der Pasta dann als Banalitäten entpuppt. Beim Tiramisu waren sie endgültig reichlich plumpen Komplimenten gewichen. Es war schön, Maries genüsslicher Beschreibung zuzuhören, und sie hatten beide im Bett über den Amtsrichter gelacht.
Ja, Marie schien endlich unbesorgt und entspannt. Georg liebte es, ihre Wärme zu spüren, er zog ihren Po so eng wie möglich an sich heran, schob seine rechte Hand unter ihr dünnes Nachthemd und legte die Hand auf ihren Bauch, während er mit seinem linken Arm unter ihren Nacken fuhr. Sie waren unter ihrer Bettdecke wie ein einziger Körper. Er hatte gehofft, es würde nun das passieren, was sich schon oft aus einer solchen Aufwachsituation ergeben hatte. Sein Wunsch konnte Marie nun wirklich nicht verborgen bleiben, und er wartete auf ein kleines Zeichen von ihr, vielleicht würde sie sich zu ihm umdrehen und ihm einen Kuss geben, das vertraute Startsignal.
Er würde ihr danach dann vorschlagen, demnächst bei ihr in Düsseldorf zu lernen. Aber es kam kein Zeichen, im Gegenteil, sie schien plötzlich wieder recht angespannt. Als er begann, mit seiner Hand über ihren Bauch zu streicheln und durch leichten Druck sein Begehren zu verdeutlichen, sagte sie nur: »Bitte heute Morgen nicht, Georg, mir ist nicht danach.« Den ganzen Vormittag über war er nervös, auch ein wenig verärgert. Erst am Nachmittag, als sie ihn zum »Mittagsschlaf« einlud, wurde er lockerer. Er nahm sich sogleich vor, die Zeit danach für die Eröffnung seines Planes zu nutzen, aber es lag ein Schatten auf ihrem Beisammensein und Georg blieb nicht verborgen, dass Marie nur ihm zuliebe in den Mittagsschlaf eingewilligt hatte. Als sie danach ganz ruhig nebeneinander lagen, spürte er, dass es wieder einmal nicht der richtige Moment für Vorschläge war. Er blieb stumm und war am Ende eingeschlummert.
»Noch etwas zu trinken, junger Mann, ein Bier vielleicht?«, fragte die Kellnerin. »Lieber noch einen ordentlichen Kaffee«, erwiderte Georg und unterstrich seinen Wunsch mit einem Lächeln. Er ärgerte sich darüber, bis heute nicht den Mut aufgebracht zu haben, Marie um eine Erklärung zu bitten. Da war doch etwas, das spürte er seit drei Wochen! Hatte sie Zweifel? War sie in jemand anderen verliebt? Aber jetzt war er in Langenheim und die nächsten Tage würde sein Vater im Mittelpunkt stehen. Da würde es nur abends längere Telefongespräche mit Marie geben, nach neun, wenn es billiger war und sie ausführlicher reden konnten. Vielleicht sollte er ihr einen Brief schreiben?
Die Kellnerin brachte den Kaffee. Die Mädchen am Tisch am Fenster baten um die Rechnung. Aus dem Nachbarzimmer klang das Klickklick der Billardkugeln.
»Möchten Sie ein Stück Kuchen zum Kaffee? Sie sind doch der junge Herr Mertens, nicht wahr?« Frau Haase stand vor ihm mit einem Teller, auf dem ein Stück Käsekuchen lag. »Ich habe Sie gleich an Ihrem blonden Lockenkopf erkannt. Sie haben sich kaum verändert. Der Käsekuchen geht auf’s Haus. Sie sind so still heute, so ganz für sich, ist was mit Ihnen?«
Er nahm den Kuchen und erzählte ihr, dass sein Vater im Krankenhaus liege und man nicht wisse, wie es ausgehen wird. »Ja, dann ist mir alles klar«, sagte Frau Haase teilnahmsvoll und dehnte wie früher die Vokale. »Gute Besserung für Ihren Vater und schön auch, dass Sie mal wieder bei uns vorbeigeschaut haben!« Frau Haase verschwand in der Küche. Georg beeilte sich mit dem Kuchen, trank den Kaffee und zahlte. Er hatte viel zu lange im Café Haase gesessen.
Es war kurz nach fünf, als Georg in Professor Nordmanns kleinem Sprechzimmer im achten Stock Platz nahm. Er hatte sich sehr beeilt und ärgerte sich, als der Arzt ihm schon beim Hineinbitten sagte, dass er leider nur wenig Zeit hätte. »Es ist ein kleinzelliger Krebs, Herr Mertens, der leider schnell streut und sich gern ausbreitet.« Nordmann füllte Kaffee in die beiden Tassen, die seine Sekretärin bereitgestellt hatte. Seinen großen ledernen Schreibtischstuhl hatte er schon zuvor weit hochgefahren. Jetzt sah er auf Georg