Vor der Wand. Michael Göring

Vor der Wand - Michael Göring


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gestellt. Er hatte ihm nur mitgeteilt, er solle ein Konto eröffnen. »Ich werde dir monatlich 650 D-Mark überweisen, davon musst du dann aber auch alles bezahlen. Und eins lass dir gleich gesagt sein: Von Studienabbrechern halte ich nichts. Ich akzeptiere deine Entscheidung, Geschichte zu studieren, denn damit kannst du später wenigstens Studienrat werden. Dass du eine große Sänger-Karriere aus mir unerklärlichen Gründen einfach ausschlägst, musst du vor dir selbst rechtfertigen.« Leiser fügte er hinzu: »Du wirst es noch bereuen, aber du weißt ja immer alles besser.« Kein Handschlag, aber Georg hatte auch nichts erklären müssen.

      Es gab ja auch nichts zu erklären. Fast nichts. Er hatte im Januar nach einer überlangen Probe für Haydns »Schöpfung« mit Elsie an einem Tisch gesessen. Sie hatten zwei Bier getrunken, er hatte ihr zugehört. Sie war erst seit Kurzem im Philharmonischen Chor, war vor einem halben Jahr mit ihrem Mann und den drei Kindern aus Stuttgart nach Langenheim gezogen, hatte erst wenige Bekannte, wollte viel wissen und auch gern erzählen. Georg und sie waren schnell beim Du, wie das unter Chorsängern üblich ist. Er mochte ihre zugewandte Art, das Fackeln in ihren blauen Augen, ihr helles, aber niemals aufdringliches Lachen. Auch nach den nächsten Proben gingen sie wie alle Chormitglieder noch auf ein Bier. Um ruhiger reden zu können, hatten Elsie und er sich allerdings bald für ein kleineres Lokal entschieden, abseits der Gaststätten, die die anderen bevorzugten. Anfang Juni, zwei Wochen vor der Aufführung, gab es einige sehr warme, schon fast heiße Tage. Elsie hatte die Kinder für ein paar Tage zu ihrer Mutter ins Rheinland gebracht. Dr. Ringbohm war auf einer Geschäftsreise. Sie genoss sichtlich die freie Zeit. Es war Georgs Idee mit dem mitternächtlichen Schwimmen im Waldsee. Elsie sagte zu seiner Verblüffung zu.

      Sie war fünfunddreißig. Ihr halblanges schwarzes Haar betonte das klare Profil ihres fein geschnittenen Gesichts. Sie hatte am See schnell ihr Kleid über den Kopf gezogen, den BH geöffnet, den Slip abgestreift. Der Mond gab ausreichend Licht. Als sie vor ihm ins Wasser lief, folgte Georgs Blick ihrem festen, straffen Po, bis sie ins kalte Wasser des Waldsees eintauchte. Er beeilte sich, zu ihr aufzuschließen. Das Seewasser war viel kälter, als sie erwartet hatten. Als sie aus dem Wasser stiegen, war der romantische Zauber dahin. Georg bot sein Unterhemd an, mit dem sie sich schweigend abtrocknete. Dann standen sie fröstelnd voreinander, nackt in der grauen Nacht.

      Sie schaute ihm direkt in die Augen: »Das mit dem Baden ist Unsinn gewesen, Georg, richtiger Unsinn. Ich unterhalte mich gern mit dir, ich mag deine Art, deine Zurückhaltung, dein Zuhören, aber dabei muss es auch bleiben.« Georg sah im Mondlicht Angst in ihren Augen. »Bitte nimm mich jetzt ganz fest in deine Arme, drück mich kräftig und halt mich fest, ganz fest, aber es gibt nur dieses eine Mal.«

      Und es gab nur dieses eine Mal. Bei der nächsten Chorprobe hatte sie keine Zeit für ein Bier. Ihr Mann sei zurück, hatte sie ihm zugeraunt. »Irgendwer muss ihm irgendeinen Quatsch erzählt haben. Er wollte mich gar nicht gehen lassen, er dreht irgendwie durch.« Danach war sie nicht mehr im Chor erschienen.

      Dr. Ringbohm hatte ihn einige Tage später bei der Zivildienststelle im Altersheim angerufen. »Es gibt nichts zwischen Ihrer Frau und mir«, hatte Georg auf die Anschuldigungen entgegnet und dann aufgelegt.

      Jetzt hatte Georg die Lange Straße, die Hauptgeschäftsstraße von Langenheim, erreicht, die vor einigen Jahren zur autofreien Einkaufsstraße erklärt worden war und auf der nur die Stadtbusse die Fußgänger störten. Seit Beginn des Studiums war Georg nur noch an den Feiertagen nach Hause gefahren und hatte auch dann seine Gänge durch die Stadt auf das Notwendigste beschränkt. Das Wenige, das er als Student brauchte, kaufte er in Köln, und seine Mutter sorgte ohnehin jedes Jahr zu Weihnachten für ein neues Hemd und einen neuen Pullover.

      Vom Marktplatz ging er an der Marienkirche vorbei hinauf in Richtung Stadttheater. Nach wenigen Minuten hatte er das Café Haase erreicht, ein Pennälercafé, dessen Inhaber, die Familie Haase, zwar oft ein volles Haus, aber wahrscheinlich eher mageren Umsatz hatten. Jetzt in den Herbstferien war wenig Betrieb. Georg fand einen ruhigen Tisch an der Seite. Die Kellnerin brachte ihm die Speisekarte, deren bescheidenes Speisenangebot sich seit der Gymnasialzeit kaum verändert hatte.

      Sein Vater würde wahrscheinlich sterben. Doch es wollte ihm nicht gelingen, diesen Gedanken wirklich zu fassen, sich ihm ganz zu widmen. Er ging zu seinem Anorak, in dessen Taschen ein Päckchen Zigaretten steckte, und lief langsam zurück zu seinem Tisch. Er rauchte selten, aber jetzt tat es ihm gut, langsam an der Zigarette zu ziehen, den Rauch zu spüren und zu beobachten, wie er sich im Café verflüchtigte. Ein junger Mann kam mit dem Billardqueue aus dem Seitenzimmer, ging zur Musikbox und wenig später klang Procol Harums »A Whiter Shade of Pale« aus dem Lautsprecher. Doch Georg hörte plötzlich eine ganz andere Musik, ein Stück, von dem er als Kind einmal gedacht hatte, er würde es beherrschen.

      Straßburg, St Thomas, Juni 1968

      Miserere mei

      Der Palestrina war sehr gut gelaufen. Die vollbesetzte Kirche hatte eine sehr feine Akustik für Chormusik, gerade auch in kleiner Besetzung. Auch der Gabrieli hatte schön geklungen, den Monteverdi hingegen hatten sie vor zwei Monaten in Paris besser gebracht. Die Anspannung stieg. Die Generalprobe unter dem Prof war am Vormittag völlig problemlos abgelaufen, fast zu harmonisch, fand Georg. Da war er wie nahezu alle Sänger abergläubisch. In einer Generalprobe musste es mindestens einmal krachen, erst dann konnte die Aufführung tatsächlich gut werden. Aber der Prof war zufrieden gewesen, nickte viel, gab hier und da ein deutlicheres Ritardando vor, machte aus so manchem Piano ein Pianissimo, aber das war es auch schon.

      Der Gesualdo klang aus. In der kleinen Pause, die nun folgte, gingen Georg und Wommi, der den zweiten Cantus sang, ein paar Schritte nach vorn, es formten sich leise die Fünfer- und die Vierer-Gruppe, die nun vor den restlichen Chormitgliedern stehen und singen würden. Wie immer in diesem Moment schaute das Publikum gebannt auf die Neupositionierung im Altarraum.

      Der Prof hob den Dirigierstab. Vor vier Jahren, kurz vor seinem neunten Geburtstag hatte Georg bei ihm in Regensburg vorgesungen. Es war Vaters Idee gewesen. Er hatte ein halbes Jahr lang mit ihm geübt, Volkslieder, Kirchenlieder, Tonleitern, Intervalle, freies Ton-Ansingen. »Sing mir ein G, Georg, und jetzt darauf ein D, höher Georg, höher, und jetzt eine Terz abwärts.« Als der Prof ihn aufgenommen hatte, hatte Vater gestrahlt und Mutter geweint. »Nach Regensburg, so weit weg!«

      Der Prof gab den Einsatz. Die ersten Takte verströmten die ruhige, nachdenkliche Stimmung des Stückes. Sie ließen noch nicht vermuten, was da kommen würde. Wommi, der jetzt links neben ihm stand, und er waren ein eingespieltes Team. Wommi wusste genau, wann er als zweiter Cantus etwas stärker werden oder wo er ganz zurücktreten musste. Sie trauten sich längst zu, dieses Stück auch ohne den Prof aufführen zu können, so präzise war alles einstudiert. Takt 20: Georg sang ein klares glockenhelles C, der Prof nickte. Auch nach den vielen Silben »Incerta et occulta sapientiae tuae manifestasti« kam der Sprung in Takt 44 völlig glatt. Er hatte den Mund geöffnet, weit geöffnet und spürte, wie alle Konzertbesucher in der Kirche auf ihn starrten. Er kannte das. Dreimal musste er den Wahnsinnssprung auf das dreigestrichene C noch wiederholen, das erste Mal nur 20 Takte weiter, als der Viererchor zunächst allein sang und bei seinem langen G alle in der Kirche ahnten, dass der Sprung, dieser gewaltige Sprung wieder anstand. Georg schloss die Augen.

      »Du schlüpfst hier in die Rolle all der Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, und bittest den Herrn um Vergebung, miserere mei«, hatte ihm der Prof in einer der ersten Proben erklärt. »Solch ein Bittsteller muss einfach wunderschön singen!«

      Jetzt kam der letzte Schlag auf dem G, und da war das C, glockenrein, ein Ton direkt aus dem Himmel, wie der Prof in den Proben gern sagte, ein Ton direkt aus der Hölle, wie Wommi immer wieder flüsternd verbesserte. »Et exsultabit lingua mea justitiam«, die vierte und vorletzte Stelle stand an, der Prof nahm Blickkontakt auf, war etwas nicht in Ordnung, nein, alles war prima, öffnen, ganz öffnen, der Ton sitzt oben im Himmel und du bist der Engel, der Todesengel, der für alle bittet, öffnen, den Mund öffnen – aber was war das? Es wurde kein C, es wurde gar kein Ton, es wurde eine Art Schrei, da war plötzlich ein Schrei im Kopf, kein Ton aus dem Himmel, sondern ein krächzender Schrei. Georg fing sich erst beim G, der Prof machte große Augen, starrte ihn an, dirigierte mechanisch weiter, dann kam die Koloratur


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