Vor der Wand. Michael Göring
Geburtstag gefeiert. Beim Haar half sie seit Jahren etwas nach, sodass es blond blieb, aber kaum ein Fältchen trübte Wangen, Mund oder Kinn. Lediglich an den Rändern der Augen, die heute müde blickten, waren welche zu sehen. Mutter hatte die feine Perlenkette angelegt, sie wollte offenbar auch im Krankenhaus Eindruck machen. Die weiße Bluse war wie stets fein gebügelt. Sie trug einen schlichten dunklen Rock. Mutter hatte Georg oft gesagt, wie sehr gepflegtes Aussehen in schwierigen Situationen hilft. Jetzt hatte sie ihm von zu Hause Kaffee mitgebracht, starken Kaffee, schwarz, in der roten Thermoskanne, die früher ihre Ausflüge begleitet hatte. Auf dem weißlackierten Metallnachttisch neben dem Bett des Vaters schien sie Georg fehl am Platz.
Vater wirkte mitgenommen. Die Haut über den Wangen war schlecht rasiert, was Georg gar nicht an ihm kannte. »Wenn du keine Zeit gehabt hättest, hätten die für mich einen Bundeswehrsoldaten besorgt, der auch Blutgruppe A negativ hat«, sagte er zur Begrüßung.
Mutter war irritiert und beeilte sich hinzuzufügen, wie schön es doch sei, dass Georg sich gleich aufgemacht hätte, sodass Vater noch heute frisches Blut von ihm bekäme. Vater grummelte etwas Unverständliches. Ja, vielleicht wäre ein Bundeswehrsoldat besser gewesen, dachte Georg.
Er trank den heißen Kaffee in kleinen Schlucken. Die Augen seines Vaters waren unruhig. »Es wird alles wieder gut«, sagte Mutter, »du brauchst jetzt Kraft für die Bandscheiben-Behandlung und ein bisschen von Georgs Blut.« Das war also ihr offizieller Text: Kraft für die Bandscheiben-Behandlung.
Einige Minuten später saß Georg vor Professor Nordmann in dessen kleinem Sprechzimmer am anderen Ende des Flurs. Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ihre Mutter hat Angst vor der Wahrheit, Herr Mertens, doch es ist schon richtig, wenn Sie Ihrem Vater jetzt Mut macht.« Georg schätzte Professor Nordmann zwischen fünfundvierzig und fünfzig. Er war ein mittelgroßer Mann mit Stirnglatze und einer feinen goldenen Brille, über deren oberen Rand er nun zu Georg aufsah. »Die von uns vorgesehene Zytostatika-Therapie, also was man gemeinhin Chemotherapie nennt, hätte bei den jetzigen Blutwerten Ihres Vaters wenig Erfolg. Sie wirkt sofort viel besser, wenn frisches Blut, Ihr Blut, die Versorgung optimal sicherstellt. Dazu brauchen wir Sie.«
»Und wie verantworten Sie, dass mein Vater die Wahrheit über seinen Zustand noch immer nicht kennt?« Georg hatte etwas mehr Schärfe in diese Frage gelegt, als er eigentlich wollte.
»Glauben Sie mir, dieses Versteckspiel passt mir auch nicht, Herr Mertens. Aber schließlich hat mich die Ehefrau des Patienten, seine engste Angehörige, Ihre Mutter, um diese Verschwiegenheit gebeten.« Nordmann machte eine kleine Pause, in der Georg stumm blieb. »Und ich muss Ihnen sagen, der Patient selbst, Ihr Vater, hat weder mich noch meinen Orthopädie-Kollegen bis heute auch nur ein einziges Mal nach der präzisen Diagnose gefragt. Wir können dieses Versteckspiel sofort aufgeben, und ich denke, wir sollten, wir müssen es tun!«
Dann stellte ihm Professor Nordmann ein paar Fragen zu seinem Gesundheitszustand, bat ihn, den rechten Arm frei zu machen, nahm ihm ein wenig Blut ab und maß den Blutdruck. Einige Minuten später führte eine junge, auffallend hübsche Schwester mit langem roten Haar Georg in ein Nebenzimmer, wo eine Liege für ihn bereitstand. »Ziehen Sie doch am besten die Schuhe aus, dann können Sie sich richtig hinlegen. Das ist viel entspannter«, sagte die Schwester. Sie hatte alles vorbereitet, legte eine Staubinde an, desinfizierte die Einstichstelle, nahm die Kanüle und stach zu. Georg sah, wie sein Blut dunkelrot und ein wenig träge in einen Plastikbeutel floss. Die rothaarige Schwester überprüfte noch einmal Puls und Blutdruck. Er hätte gern ein Gespräch mit ihr begonnen, wusste aber nicht worüber. Über Blut, diesen ganz besonderen Saft, wollte er nicht reden.
Während sich der Plastikbeutel langsam füllte, hantierte die Schwester im Hintergrund mit ein paar Glasröhrchen, verließ für einige Minuten den Raum, kam zurück, füllte Formulare aus und schaute immer wieder auf Georg, auf den Schlauch und auf den Beutel. Sie schien zufrieden, lächelte ihn an. Ein schönes Lächeln, dachte Georg, und wirklich wunderbare blaue Augen.
»Alles okay?«
Georg nickte. »Alles prima.«
Nach ungefähr zwanzig Minuten öffnete sie einen Schrank, in dem sich eine silberne Thermoskanne und Plätzchen verbargen, kam zu ihm, drehte an einem Rädchen am Plastikschlauch und entfernte die Kanüle. »500 ml, das war die Vorgabe vom Chef.« Sie lächelte ihn wieder an, war offenbar zufrieden. Georg versuchte beim Kaffee und den Plätzchen mit ihr ins Gespräch zu kommen. Er fand heraus, dass sie in einem der umliegenden Dörfer wohnte, jeden Tag mit der Bahn in die Stadt kam und nun ihren Führerschein machte. Dann brach die Unterhaltung ab. Die Schwester überprüfte noch einmal Georgs Blutdruck, lächelte ihn an und ließ ihn gehen.
Als er ins Zimmer seines Vaters kam, stand der Infusionsständer schon neben dem Bett. Charlotte bestand darauf, dass Georg im bequemen Besucherstuhl Platz nahm und reichte ihm Kaffee aus der roten Thermoskanne. Nach wenigen Minuten kam Professor Nordmann, hängte den mit Georgs Blut gefüllten Schlauch an den Ständer, legte den Zugang, machte die Kreuzprobe und die Bluttransfusion begann. »Sie werden sehen, Herr Mertens, mit dem Blut Ihres Sohnes werden Sie wieder jung.« Mit einem breiten Lächeln verließ Nordmann das Krankenzimmer. Georg starrte auf den Beutel am Haken über dem Bett. Langsam floss das dunkelrote Blut durch den dünnen Plastikschlauch in die Kanüle an Vaters Arm. Vater döste, nahm ihn wahr, wollte aber offensichtlich nicht mit ihm sprechen. Mutter spürte die Anspannung. »Ist das nicht großartig, Walter, dass dein Sohn das für dich …«
»Schon gut«, fuhr Vater ihr über den Mund. Dann schloss er die Augen und Georgs Mutter verstand, dass auch sie jetzt besser schweigen sollte. Ein wenig später kam die rothaarige Schwester, erkundigte sich nach Vaters Befinden und drehte an dem kleinen Rädchen unterhalb des Schlauchs. »Damit’s nicht gar so schnell läuft«, sagte sie. Dann wandte sie sich Georg zu: »Und wie geht’s Ihnen?«
Wieder dieser ungemein freundliche Blick aus den blauen Augen: »Gut, Schwester, sehr gut!«
Nachdem sie mit einem breiten Lächeln und einem aufmunternden, wieder an Vater gerichteten »Wird schon« das Zimmer verlassen hatte, begann Georg leise von der Vorbereitung auf die nun kommenden Prüfungen zu berichten, den ersten Teil des Staatsexamens, was Vater mit »so so« quittierte. Mutter erkundigte sich nach Marie. Dann erstarb das Gespräch. Georg stand auf. »Ich geh dann jetzt in die Stadt.« Er musste seiner Mutter versprechen, in der Stadt etwas Herzhaftes zu essen, dann schloss er leise die Tür.
Im Aufzug stand Professor Nordmann. »Kommen Sie nur«, rief er, als er sah, dass Georg zögerte. Er überragte den Arzt um rund zwanzig Zentimeter. »Hat mein Vater eine Chance?«, fragte er. »Natürlich hat er eine Chance«, antwortete der Arzt und schaute über den Brillenrand zu Georg hinauf. »Als Folge der Krebserkrankung ist es bei Ihrem Vater zu einer Anämie gekommen. Mit Ihrem Blut erhöhen wir jetzt den Hämoglobinwert und bringen seine Abwehr auf höchstes Niveau. Die moderne Chemotherapie und unsere Bestrahlungsmöglichkeiten können viel erreichen, Herr Mertens. Aber«, er senkte seine Stimme, »da sind die Metastasen in der Wirbelsäule und leider auch schon in der Leber. Sie müssen jetzt mit Ihrem Vater sprechen.«
Die Aufzugtür öffnete sich. Sie gingen schweigend den Korridor zur Pforte entlang. Professor Nordmann gab ihm die Hand. Er könne um siebzehn Uhr gern in sein Zimmer auf der Station kommen, dann sei er zurück und habe Zeit, auch für ein persönliches Gespräch. Georg verabschiedete sich.
Er schlug den Weg zur Innenstadt ein. Er hatte Langenheim vor gut fünf Jahren verlassen, gleich nach Beendigung des Zivildienstes. Er konnte das Studium zwar erst zum Wintersemester 1977 beginnen, war jedoch schon im Juli, drei Monate vorher, nach Köln gezogen. Es war eine Flucht gewesen. Dr. Ringbohm hatte sich völlig verrückt aufgeführt. »Sie müssen fort, Sie zerstören eine Ehe, fort, fort von hier. Sie sind 20 und ein unverantwortlicher Kerl, ein Miststück«, dann hatte er am Telefon nur noch vor Wut gestammelt. Ringbohm hatte wenig später seine Mutter zu Hause aufgesucht und sie eingeschüchtert. Als Elsie nicht zur Generalprobe kam, begann man im Chor zu tuscheln. Erst die Frauen aus dem Sopran, dann drehten sich auch die aus dem Alt nach ihm um. Es war unerträglich. Nur eine Woche nach Abschluss des Zivildienstes fuhr Bärbel ihn in ihrem Käfer nach Köln, wo er nah an der Universität ein großes, helles Zimmer zur Untermiete gefunden