Vor der Wand. Michael Göring

Vor der Wand - Michael Göring


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und sorgte so dafür, dass der Krankenbesuch kurz ausfiel und Georg und seine Schwester sich schon bald mit dem Jungen auf den Weg ins elterliche Haus in der Görresstraße machten.

      »Will Charlotte die Diagnose wirklich vor Vater geheim halten?«, fragte Bärbel, nachdem sie den Wagen gestartet hatte. »Man muss Vater doch aufklären!«

      Georg nickte. »Du kennst Mutter doch. Mit schlimmen Nachrichten rückt sie nicht raus, sie will immer alle schonen.«

      »Aber Vater hat doch ein Recht darauf, zu wissen, wie es um ihn steht.«

      Am gleichen Abend noch hatten Bärbel und er ausführlich mit Mutter gesprochen. Bärbel war vier Jahre älter als er und seit Längerem schon zu einer richtigen Gesprächspartnerin für Mutter geworden, erst recht, nachdem sie vor drei Jahren selbst geheiratet und ein Jahr später Lukas bekommen hatte. Sie war eine gestandene Frau, seit einem halben Jahr wieder im Schuldienst, zwar mit verminderter Stundenzahl, aber immerhin. Sie hatte für Vater und Mutter einen Status in der Familie erreicht, der Georg trotz seiner nunmehr 27 Jahre weiterhin vorenthalten wurde. Doch Charlotte blieb jetzt auch bei Bärbel eisern.

      »Vater darf nichts wissen, und wenn, dann ist es ja wohl meine Sache, ihm die Wahrheit über sein Rückenleiden zu sagen!« Sie führte das weiße Taschentuch, das sie bei diesem Gespräch ständig mit ihren Händen geknetet hatte, an ihre Augen, um ein paar Tränen abzuwischen. »Und überhaupt ist ja Krebs nicht gleich ein Todesurteil. Professor Nordmann hat gesagt, es gäbe jetzt eine ganze Menge Möglichkeiten, viele neue Therapien, und eine davon würden sie in der nächsten Woche bei Vater probieren.« Dann hatte Mutter wieder zu weinen begonnen.

      Es war Georg übel bei dem Gedanken an dieses verlogene Theaterspiel vor Vater, dennoch hatte er am Ende klein beigegeben: »Wenn du meinst, Charly.« Er sah, wie gut ihr das kumpelhafte »Charly« tat, ihr altes Codewort für Vertrauen und Verständnis. Am nächsten Morgen war er nach Köln zurückgefahren.

      Ein tiefes, lautes Hupen schreckte Georg aus seinen Gedanken auf. Er hatte den Stadtpark erreicht und auf der anderen Seite der Lippe schob sich ein feuerroter Schienenbus langsam voran. Der Triebwagen hatte gerade erst den Bahnhof verlassen und noch wenig Fahrt aufgenommen. Im ersten Wagen stand ein kleines drei- oder vierjähriges Mädchen auf dem schmalen Holztischchen am Fenster und zeigte auf die Schwäne, die sich in der Lippe treiben ließen. Er sah von der Seite das Profil der Mutter des Kindes, ihr langes dunkelblondes Haar. Lisa, dachte er, und musste lächeln. Vor zehn Jahren war er manchmal auf dem Weg zum Städtischen Krankenhaus gewesen, in dem Lisa gearbeitet hatte. Im letzten Wagen war ein Fenster heruntergelassen und ein vielleicht zehnjähriger Junge im dunkelgrünen Anorak lehnte sich heraus. Als er auf Georgs Blick traf, lachte er über den Fluss herüber und begann zu winken. Er rief Georg etwas zu, das er jedoch nicht verstand. Georg winkte zurück. Die Herbstferien hatten diese Woche begonnen und wahrscheinlich war der Junge mit seinen Eltern oder Großeltern auf dem Weg nach Münster in den Zoo. Diesen Ausflug mit der Bahn hatte er als kleiner Junge auch so manches Mal gemeinsam mit seiner Großmutter unternommen, damals in den Jahren vor Regensburg. Als der rote Schienenbus mit lautem Hupen und knarzendem Grunzen endlich beschleunigte, sagte Georg die Stationen auf, die der Zug durchfahren würde: Cappel, Liesborn, Wadersloh, Diestedde, Beckum. Er hatte sie noch alle im Kopf. Sein Vater war nie mit ihm im Zug nach Münster gefahren. Wenn sie unterwegs waren, dann im zartgelben DKW mit dem grünen Dach, den Vater erst nach vielen Jahren gegen den neuen Opel Rekord eingetauscht hatte.

      Georg sah auf die Kopfweiden, die den Weg am Bahndamm säumten. Man hatte sie kräftig zurückgeschnitten und so saß auf jedem Stamm nur ein hölzerner Knubbel, aus dem einzelne dünne Ästchen mit ihren Blättern ragten. Die Knubbel erschienen Georg wie Fäuste, die die Bäume am Wachsen hinderten. Noch eine gute Viertelstunde würde er bis zum Krankenhaus brauchen. Er wunderte sich, dass dieser Weg so unerwartet viele alte Bilder in ihm hochkommen ließ.

      In einer Stunde würde er seinem Vater Blut spenden. Sein Blut für seinen Vater – eine seltsame Vorstellung. Das feierliche »Mein Blut, für Dich vergossen« kam ihm in den Sinn, obwohl er schon seit Jahren nur noch zu Weihnachten in die Heilige Messe ging. Und mit Altar und Opfer hatte eine Blutübertragung ja eigentlich gar nichts zu tun, dachte er. Er würde den Arzt auf jeden Fall heute noch sprechen wollen, um von ihm zu erfahren, wie es um Vater tatsächlich stand und ob eine Blutübertragung bei Krebs überhaupt helfen könne. Georg war skeptisch. Ob Vater immer noch an diese Bandscheibengeschichte glaubte? Er war doch nicht blöd. Jetzt, wo die Blutübertragung anstand, hatte Vater diesen Dr. Nordmann bestimmt schon nach der Wahrheit gefragt.

      Georg verließ den Stadtpark am Nordausgang und bog in die von Kastanien gesäumte Straße ein, die zum Städtischen Krankenhaus führte, dessen neu erbautes achtgeschossiges Bettenhaus er schon von Weitem sehen konnte. Es war jetzt Viertel vor zehn. Mit sechzehn hatte er sein Interesse an Vater verloren, als habe jemand eine Leitung gekappt, keine Verbindung mehr. Das Interesse war auch in den Jahren des Studiums nicht wiedergekehrt. Letzten Freitag, als er ihn im Krankenhaus besucht hatte und diese verdammte Unsicherheit spürte, hatte er sich gefragt, ob er ein schlechtes Gewissen haben müsste. Vater hatte ihm als Kind so viel bedeutet, die ganze Singerei mit ihm, dieser Ernst und dieser Spaß, den sie dabei hatten! Doch schon bald nach der Rückkehr aus Regensburg war es nicht mehr dasselbe gewesen. Vater war Anfang des Jahres zweiundsechzig geworden, ein stattlicher Herr, gut einen Meter achtzig groß, noch immer eine Stütze im Tenor des Männergesangvereins Harmonia 98, ein Mann, der Hüte liebte und selten ohne einen in der Stadt anzutreffen war. Nach dem Krieg hatte er in Langenheim Arbeit gefunden als kaufmännischer Angestellter in einem metallverarbeitenden Betrieb, der mit dem Wirtschaftswunder schnell größer geworden war. »Dass ich ursprünglich aus Breslau komme, hört doch schon längst keiner mehr«, hatte er oft gesagt, stolz darauf, seinen schlesischen Dialekt abgelegt zu haben. 1950 hatten die Eltern geheiratet, Charlotte Steinkamp war erst zweiundzwanzig Jahre alt gewesen. 1951 war Bärbel auf die Welt gekommen, 1955 er, der Stammhalter, wie Großmutter ihn gern nannte. Vier Jahre später waren sie aus der Mietwohnung im Norden der Stadt ausgezogen. Vater hatte das geräumige Eckhaus mit großem Garten in der Görresstraße gekauft. Er war zum Prokuristen aufgestiegen und leitete die Handelsabteilung. In der Firma man hielt viel von ihm, was die Familie jedes Jahr zu Weihnachten an der Güte des Cognacs und der Zigarren ablesen konnte, die der Vorstand in die Görresstraße schicken ließ.

      Jetzt, nur ein paar hundert Meter vor dem Eingang des Krankenhauses, sah Georg seinen Vater wieder im häuslichen Wohnzimmer. Entspannt lehnte er die linke Hand an das schwarze Klavier und sang »Oh Mädchen, mein Mädchen, wie lieb ich dich!« Er schaute dabei Mutter an, die geschäftig zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her lief und ihm liebevolle Blicke zuwarf. Anschließend würde Vater eine Zigarre rauchen, eine dieser dicken mit dem dunklen Blatt. Wenn er allerdings nervös war oder ihn Sorgen quälten, hatte er nur wenig und manchmal gar nicht gesungen. Dann rauchte er Senoussi-Zigaretten. In Georgs Kindheit hatten Gesang und Zigarren überwogen. Nur kurz vor seiner Einschulung, nachdem dieser hagere Mann im Haus erschienen war, hatte Vater monatelang fast nur Zigaretten geraucht. Gut zwei Jahre nach seiner Rückkehr aus Regensburg gab es dann erneut ziemlich häufig Senoussi-Zeiten. Daran war er schuld, er allein. Am Anfang hatten nur ein paar Fragen gestanden, politische Fragen, Fragen an die Geschichte, Fragen an Vater, die Georg mit 16 für entscheidend hielt. Im Sommer 1971 hatten sie sich dann richtig zerstritten. Weihnachten war es zum großen Knall gekommen. Vater hatte ihn vor allen Verwandten einen »arschblöden Pudel« genannt, wissend, dass er damit eine Wunde aufriss. Dabei hatte ihn nicht nur Vaters Verweis auf seinen damals ungeliebten Lockenkopf getroffen, viel stärker noch spürte er die Verachtung, die Vater ihm mit diesen beiden Worten gezeigt hatte. Danach war man sich aus dem Weg gegangen. War Georg daheim, zog er sich auf sein Zimmer zurück.

      Georg öffnete die große gläserne Eingangstür des Krankenhauses. Station 8A, Zimmer 802. Es war kurz vor zehn. Neben dem Portal standen zwei Männer in blauen Trainingsanzügen und rauchten. Sie nahmen keine Notiz von ihm. An der Pforte nannte er seinen Namen und sagte, dass er erwartet würde. Die rundliche kleine Frau hinter der Scheibe drehte ihren Kopf Richtung Aufzug: »Das ist die Privatstation vom Professor. Nehmen Sie den Aufzug, junger Mann, 8A ist nämlich ganz oben.«

      »Ich war letzte Woche schon mal hier, ich kenne mich aus«, sagte Georg.

      Seine


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