Vor der Wand. Michael Göring
B hin, während Georg brav sein G hielt. Was würde aus dem fünften und letzten Sprung werden? Das Publikum hatte nach dem verunglückten Ton, dem Schrei, Oh und Ah und Stöhnen hören lassen, war aber jetzt wieder ganz still, vollkommen still. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, den ersten Sopran.
Die Fünfergruppe sang den siebzehnten Vers, »Domine, labia mea aperies«, ein paar Sekunden für Georg, um nachzudenken. Wommi war ganz nah an ihn herangerückt, sein rechter Arm berührte Georg, als wolle er ihn beruhigen. Was sollte er jetzt tun? Ansetzen und durch, das war die Regel, wenn etwas schiefgelaufen, aber nicht abgewunken worden war: kurz sammeln, atmen, den nächsten sicheren Ton sehen, andenken, ansingen, alles in wenigen Sekunden, in Teilen von Sekunden. Jetzt hatte er sogar reichlich Zeit, während die Fünfergruppe ihren Part zum Abschluss brachte. Er hatte nicht falsch gesungen, keinen Ton zu hoch, zu niedrig oder zu kurz angesetzt, er hatte – geschrien, statt zu singen, hatte ungeformt irgendeinen Laut von sich gegeben, unkontrolliert, dabei war Singen doch immer Kontrolle, Kontrolle über sich, vom Atmen bis zur Mimik, Kontrolle.
Georg setzte wieder ein: »Benigne, fac, Domine«. Der Prof sah ihn eindringlich an. Jetzt stand der letzte Sprung an, bei »Jerusalem« musste er zum letzten Mal aufs dreigestrichene C, »Je« und öffnen, der nächste Ton kommt von ganz oben, vom Himmel, aber Georg biegt ab, statt der Quart nach oben singt er die Quint nach unten, singt Wommis schlichtes zweigestrichenes C und springt erst beim F wieder in seine Stimme. Er wagt nicht, den Prof anzusehen, schaut auf den Boden. Erst als bei Takt 126 der Schlussvers erklingt, schaut er kurz zum Domkapellmeister auf, dessen Anblick hinter den ersten Tränen verschwimmt.
Das Publikum klatscht wie verrückt. Er weiß, das Klatschen soll ihn trösten, aber es kann ihn nicht trösten. Er verneigt sich gemeinsam mit Wommi, dreimal, viermal. Dann schießen noch mehr Tränen hoch. Der Prof kommt zu ihm. Wommi tritt zur Seite, nun verneigen sich der Prof und er gemeinsam vor dem Publikum, die Tränen rinnen, er schüttelt sich, er kann nicht anders, der Prof fährt ihm mit der Hand durch den Lockenkopf, noch einmal schwillt das Klatschen an.
»Bravo, bravo«, rufen jetzt einige, was ganz ungewöhnlich für ein Kirchenpublikum ist. Der Prof und er gehen zur Seite Richtung Sakristei. »Was war denn, mein Junge?«, flüstert der Prof und gibt ihm sein weißes Taschentuch. Noch mehr Leute rufen laut bravo, bravo und erheben sich von den Kirchenbänken. Georg schnäuzt sich, sie machen kehrt, gehen noch einmal zurück vor den Altar und verbeugen sich erneut.
Dienstag, 28. September 1982
Der Kollaps
Das Café war nur schwach besetzt. Aus einem Nebenraum klangen Geräusche vom Billardtisch. Zwei Jungen waren konzentriert bei der Sache. Georg hörte beständig das Klickklick der Kugeln, ab und zu ein lang gestrecktes mit Schimpfwörtern versetztes Stöhnen oder ein kurzes triumphierendes »Wunderbar«. An einem Tisch am Fenster saßen vier Mädchen, sechzehn- oder siebzehnjährig, vor ihren Colagläsern im Gespräch vertieft. Georg drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, bestellte ein Bier und Hühnersuppe.
Hier hatte er sich zu Oberstufenzeiten nachmittags oft mit Roland getroffen. Hier wurde auch die Idee mit Lisa geboren. Georg lächelte. Lisa, was für eine verrückte Idee damals! Aber sie waren ja erst 17 und schmerzlich unerfahren. Roland war nach Georgs Rückkehr aus Regensburg sein bester Freund geworden. Mit ihm war er gemeinsam in den philharmonischen Chor eingetreten, gleich nachdem sich die Stimme nach dem Stimmbruch wieder gefestigt hatte.
Auch jetzt im Café Haase dachte Georg immer wieder an Vater, wie er bleich in diesem Krankenhausbett lag, nicht einmal wissend, welche Krankheit ihn da tatsächlich befallen hatte. Oder tat Vater nur so? Wusste er vielleicht sehr genau, wie schwer seine Krankheit war, und spielte vor Mutter das gleiche Spiel wie sie vor ihm? Er würde mit Vater reden. Ja, er würde ihn aufklären. Er war schließlich sein Sohn. Aber wie redet man mit seinem Vater über den Tod?
Die Kellnerin brachte das Bier und die Hühnersuppe. Georg entdeckte zu seiner Freude, dass in der Suppe schöne große Fleischstücke lagen und sog genüsslich den Dampf ein, der sich aus dem heißen Teller erhob. »Lassen Sie’s sich gut schmecken, junger Mann.«
»Danke!«
Er würde heute Abend mit Marie telefonieren. Sie hatte womöglich ein paar gute Ideen, wie er das Gespräch mit Vater beginnen konnte. Vielleicht sollte er mit der Erinnerung an ihr gemeinsames Singen starten, damals bei der Vorbereitung auf Regensburg. Aber Vaters unerfüllte Hoffnungen in seinen Sohn an den Anfang eines Gesprächs zu setzen, war wahrscheinlich nicht besonders klug.
Georg spürte, wie ihm die heiße Suppe guttat und wie sie das Nachdenken über das zu führende Gespräch ein wenig erleichterte. Allzu ermutigend war Vaters Grummeln heute Mittag ja nicht gerade gewesen. Möglicherweise war es ihm nur peinlich, dass er, sein Sohn, ihm Blut spendete statt eines anonymen Spenders, der Geld dafür bekommen würde und dem er zu nichts verpflichtet wäre. Vielleicht würde Vater das Gespräch an sich ziehen und ihn fragen, was eigentlich damals vor über zehn Jahren so schiefgelaufen war, dass sie so weit auseinander geraten waren. Was würde er darauf antworten? Würde er Vater noch einmal die alten, die ganz alten Fragen stellen?
Die Kellnerin kam zurück. Georg lobte die Suppe und bestellte ein Kännchen Kaffee. Klickklick, oh, neeeiiin, klickklickklick, tönte es aus dem Seitenzimmer und von den Mädchen am Nachbartisch schwappte laute Empörung zu ihm herüber. Irgendein Robbie musste es faustdick hinter den Ohren haben. Ob Marie mit siebzehn in Göttingen ebenso mit ihren Freundinnen über Jungen hergezogen war?
Wieder fragte er sich, was wohl der Grund für Maries Ernsthaftigkeit sein könnte. Es war doch alles gut gelaufen. Ihr Examen im Sommer war ein glattes »Gut« geworden, ein Super-Prädikatsexamen. Sie hatte gleich einen Platz im Referendariat bekommen und arbeitete jetzt schon seit vier Wochen am Amtsgericht in Leverkusen. Dennoch war Marie nicht so unbeschwert wie sonst. Gut, sie war immer ein wenig ernster als die meisten anderen Mädchen, sie hatte keine Oberflächlichkeit, aber jetzt war da noch irgendetwas anderes. Er hatte sie vor einer Woche gefragt, ob sie sich Sorgen mache, ob sie etwas bedrücke. Doch sie hatte nur geantwortet, alles sei okay, sie sei halt noch immer ein wenig müde, kein Wunder nach all dem Examens-Stress.
Die Kellnerin brachte den Kaffee und nahm den Suppenteller mit fort. Gleich nach seinem Staatsexamen im Winter wollten sie zusammenziehen. Eine Heirat wäre allerdings noch besser, hatte sie vor drei Monaten einmal gesagt, dann könnte der Staat sie nicht so weit auseinanderreißen, sie für ihr Referendariat irgendwo in der Landesmitte am Amtsgericht und er ganz weit weg an einer Schule an der nordrhein-westfälischen Landesgrenze kurz vor Holland oder Hessen oder Niedersachsen. »Eins nach dem andern«, hatte er geantwortet, ohne weiter darüber nachzudenken.
Seitdem hatten sie nicht wieder über Heirat gesprochen. Er kannte Marie jetzt seit drei Jahren, er liebte sie, sie hatten das Jahr ihrer Trennung, als er in den USA studierte, sehr gut überstanden. Natürlich gab es Impulse von anderen Frauen, mitunter sogar überraschend kräftige, und jedes Mal irritierten sie ihn, aber er wusste, er liebte Marie, und er war sicher, dass sie ihn auch liebte. Jetzt hatte sie ihr Jurastudium abgeschlossen, er selbst stand kurz vor seinem Examen, eigentlich könnten sie tatsächlich in ein paar Monaten heiraten. Heiraten und ein Kind bekommen? Eltern werden? Der Gedanke war nicht ganz neu, aber er verfing nicht. Kinderkriegen war doch noch ganz weit weg, auch wenn er jetzt Marie hörte, wie sie ihm einmal erzählt hatte, sie wolle später mindestens drei, besser noch vier Kinder haben, weil sie sich als Einzelkind immer so allein gefühlt habe. Marie hatte vor einiger Zeit die Pille abgesetzt, seitdem verhüteten sie mit Kondomen. Das war nicht so schön wie sonst, aber er hatte sich daran gewöhnt. ›Und wenn’s jetzt reißen würde?‹, war ihm vor zwei Wochen ganz plötzlich durch den Kopf geschossen. Er hatte mit diesem Gedanken gespielt, während sie miteinander schliefen, und fand ihn ziemlich aufregend, ja, dieser Gedanke hatte ihn an jenem Abend mächtig erregt. Aber wenn er sich jetzt vorstellte, mit Marie darüber zu sprechen, wich alle Begeisterung. Nein, Heirat war nicht das Thema, gerade jetzt nicht, wo Vater starb und Marie irgendeine Sache mit sich herumtrug, die er noch nicht kannte. Dennoch sprach er einmal für sich ganz langsam aus, als probe er für eine Theateraufführung: »Ich möchte dich heiraten und will ein Kind mit dir.« Er war beruhigt: Der Satz klang tatsächlich fremd, sehr fremd.