Vor der Wand. Michael Göring
»Das ist doch absolut lächerlich! Seit du dieses komische Buch gelesen hast, wirst du zum Psychopathen!« Vater setzte die Brille wieder auf.
»Psychokranke, das wart doch ihr! Ihr, die ihr diesem Idioten nachgelaufen seid, die ihr Millionen von Juden einfach vergast habt, nur weil Adolf Hitler es euch befahl. Hier kannst du lesen, wie sie es getan haben, wie Ärzte ihre Versuche an lebenden Mädchen vollzogen haben. Ich les es dir vor.« Georg hielt »Die Ermittlung« aufgeschlagen in seiner Hand. Er zitterte, sein Herz schlug schnell, er spürte, wie das Blut vor seinem Kehlkopf pulsierte, und konnte nicht verhindern, dass vor lauter Heftigkeit Tränen in seine Augen stiegen und er gar nicht lesen konnte. Vater stoppte ihn.
»Diese Leute konnten gar nicht anders, Georg, wenn die ihre Pflicht nicht erfüllt hätten, hätte man sie an die Wand gestellt. Davon habt ihr ja keine Ahnung!« Vaters Gesicht lief rot an. Er griff zur Senoussi-Packung neben der Zigarrenkiste. Mutter verließ fluchtartig das Wohnzimmer, »wir haben doch nichts davon gewusst, Georg, rein gar nichts«, und ließ die Tür hinter sich laut ins Schloss fallen.
Georg hatte sich wieder gefangen und las jetzt:
»Wie groß waren die Gruppen der Menschen,
die Sie zur Tötung abzuführen hatten?
Im Durchschnitt 150 bis 200 Stück
Waren Frauen und Kinder darunter
Ja
Fanden Sie es richtig
dass Frauen und Kinder
zu diesen Transporten gehörten
Ja, damals bestand eben
die Sippenhaftung«
Vater sprang aus seinem Sessel auf. »Hör auf, das vorzulesen, ich will das nicht hören! Ich will das in meinem Haus nicht hören!«
Vater lief jetzt im schnellen Schritt durch das Wohnzimmer. Aber Georg setzte nach: »Vater, das waren wehrlose Familienväter, das waren Frauen und Kinder, keine bewaffneten Soldaten der feindlichen Armee, gegen die man kämpfen musste, nein, Männer, Frauen und Kinder, die nur einen ›Fehler‹ hatten, sie waren Juden oder sonstige ›Untermenschen‹.«
»Ich habe dir gesagt, dass ich das nicht hören will, Georg. Ich weiß das, aber ich will es nicht hören!« Vater schrie. »Natürlich war es schrecklich, was da geschah, aber was hätte ein Einzelner ausrichten können? Was hättest du in diesen Jahren getan? Du bist zehn Jahre nach Kriegsende auf die Welt gekommen, du hast in deinen 16 Jahren nur Frieden und Wohlstand erlebt und glaubst, du kannst jetzt richten über all die, die damals ihre Pflicht taten?«
»Vater, sag mir bitte eins: Du warst in der Kriegszeit bei der Reichsbahn, bis auf diese kurze Unterbrechung 1944. Du hattest bei der Bahn eine wichtige Aufgabe, das hast du ein paarmal erwähnt, du warst in der Reichsbahndirektion in Berlin. Hast du gewusst, wer in diesen Zügen war, die da von Berlin nach Auschwitz fuhren? Was hast du gewusst? Was? Sag es mir bitte!«
»Nichts habe ich gewusst, nichts!« Vater schrie wieder. An seinen Augen hinter den Brillengläsern sah Georg, welche Wut er empfand. Die Hand mit der Zigarette zwischen den Fingern zitterte. Dann nahm er einen langen Zug, inhalierte über Sekunden hin. »Ich habe Fahrpläne entworfen, Georg. Ich habe sie optimiert, an ihnen herumgefeilt. Am Schreibtisch. Ich habe solche Züge nie gesehen. Es gab am Ende immer weniger Loks und Rollmaterial. Ganze Strecken fielen wegen Bombenschäden aus. Da war es meine Aufgabe, den Bahnbetrieb trotz alledem irgendwie aufrechtzuerhalten, einen einigermaßen passablen Fahrplan zu gewährleisten. Wir wussten doch gar nicht, dass es KZs gab!«
»Ich kann das nicht glauben, dass ihr alle nichts gewusst habt! Lies dieses Buch, Vater, ihr habt den Menschen die Hölle bereitet.«
»Ich werde den Teufel tun, dieses Buch zu lesen! Und sag nicht noch einmal ›ihr habt‹, dazu hast du kein Recht.« Vaters Stimme war jetzt leise und drohend geworden. Doch dann brach es aus ihm hervor. »Ich habe den Menschen nicht die Hölle bereitet! Ich nicht!« Vater betonte jede Silbe. »Du bereitest mir jetzt die Hölle! Du, mein eigener Sohn!« Mutter riss die Tür auf.
»Ja, schämst du dich denn gar nicht, Georg, deinen Vater so aufzuregen! Das hat dein Vater wirklich nicht verdient.« Sie ging auf Vater zu, der sich an einem Wohnzimmersessel abstützte. »Wie kann der Dr. Schubert dir nur ein Buch empfehlen, das deinen Vater geradewegs zum Herzinfarkt treibt.«
Das war vor einer Woche gewesen. Seitdem waren Vater und er sich aus dem Weg gegangen. Mutter hatte gestern noch einmal ganz ruhig nachgefragt, ob er denn tatsächlich nach dem Abi in die Schweiz auswandern wollte. Er hatte nur genickt.
Die Entenmutter auf der Lippe schwamm mit ihren Jungen nah ans Ufer heran. Sie schnatterte laut und hoffte offenbar auf etwas Essbares für sich und ihre Kleinen. Georg hatte nichts in der Tasche. Nein, es war nicht die Zeit, Vater zu bitten, ein Bild von Schümann zu erwerben und ihn zum Kauf mit ins Atelier zu nehmen. Überhaupt schien Georg plötzlich ein Bilderkauf etwas ganz und gar Unwirkliches zu sein.
Dienstag, 28. September 1982
Die Blamage
Als er aufwachte, lag er auf dem Boden des Krankenzimmers. Jemand hatte ihm ein Kissen unter den Kopf gelegt, eine große hagere Schwester stand vor ihm, hatte seine Beine angehoben und sagte langsam und gedehnt: »Na, wird ja schon, wird ja schon, junger Mann!« Georg hatte eine kleine Platzwunde an seiner rechten Schläfe, etwas Blut lief am Ohr entlang und tropfte auf das helle Linoleum des Zimmerbodens. Seine Mutter nahm ein Tempotaschentuch und tupfte das Blut am Ohr und an der Schläfe weg.
»Er war schon immer ein empfindsames Kind, das wenig von sich herausließ, aber sich immer viel mehr Gedanken machte, als wir glaubten. Georg hatte früher oft Kopfweh, richtig Migräne, müssen Sie wissen. Und jetzt anderthalb Liter Blut, ich hab’s ja gewusst«, jammerte sie.
»Na, Frau Mertens, das wird schon, das wird schon, und es waren auch nur 500 ml, nicht mehr, und nachher gibt der Professor ihm ’ne Aufbauspritze«, sagte die große Hagere und hob Georgs Beine noch weiter in die Höhe. »Sehen Sie, er ist ja schon wieder bei sich!«
Eine zweite, jüngere Schwester kam mit dem Blutdruckmessgerät. Sie reichte ihm ein Glas Wasser. Sie solle schnell drei, vier frische Handtücher holen, sagte die Hagere zu ihr, man müsse dem jungen Mann helfen. Erst jetzt spürte er die Nässe am Unterleib und an den Oberschenkeln. Eine Nässe, die langsam kälter wurde. Er sah den dunklen Fleck vorn an der Hose und an den Hosenbeinen, der größer wurde, und nun roch er den Urin. Wie grässlich, er schloss die Augen. Ihm war elend, wie hatte das nur passieren können? Er würde sich jeden Moment übergeben müssen. Was sollten nur die Schwestern denken und Vater. Es war zum Kotzen! Er ballte die Hände zu Fäusten.
Zwanzig Minuten später saß er im Besuchersessel, ein kleines Pflaster an der Schläfe, ein Glas Wasser in der Hand. Langsam war das Schwindelgefühl gewichen, ein leichtes Unwohlsein blieb. Während er noch vor dem Bett auf dem Boden gelegen hatte, hatte seine Mutter ihm schon die Hose ausgezogen. Fachmännisch, ohne ein Wort zu sprechen, hatten die beiden Schwestern ihm dann zwei große Handtücher über den Unterleib gelegt und ihm beim Abstreifen der völlig durchnässten Unterhose geholfen. Wie peinlich das war. Er musste sich im Liegen waschen, vor dem Bett seines Vaters, denn als er versuchte, sich aufzurichten, kam der Schwindel zurück und Vaters Krankenbett drehte sich. Georg nahm den Waschlappen aus der Hand der Schwester, die ihn mit warmem Wasser getränkt hatte, und säuberte sich. Wie gut, dass die Rothaarige mit dem Minirock keinen Dienst mehr hatte. Wenn die ihn hier so liegen sähe? Dann trocknete er sich ab. Mutter reichte ihm eine Unterhose aus Vaters Schrank. »Frisch gewaschen«, sagte sie, »ganz frisch gewaschen.« Auch das Hemd war unten etwas feucht, die jüngere Schwester half ihm, es auszuziehen. »Das kann passieren, wenn man ohnmächtig wird«, sagte die Ältere, »machen Sie sich da mal keine Gedanken, das kennen wir.«
Nach ein paar Minuten konnte Georg wieder schwindelfrei aufstehen. Mutter hatte aus dem weißen Schrank im Krankenzimmer jetzt auch eine Hose, ein Unterhemd und einen leichten Pulli von Vater hervorgeholt. Damit bekleidet, saß er nun im Sessel. Die Hose war oben zu weit