DAS AJAX-PROTOKOLL (Project 7). Alex Lukeman
Existenz nur wenigen Amerikanern bekannt war.
Nick zog an seinem linken Ohr, wo ihm eine chinesische Kugel vor ein paar Jahren das Ohrläppchen abgerissen hatte.
»Direktorin, wieso habe ich das Gefühl, dass Sie mir gleich etwas erzählen werden, was ich eigentlich nicht hören will?«
Elizabeth drehte sich in dem großen Chefsessel, den sie so liebte, zu ihm um. Der Sessel ließ ihr ohnehin zierliches Äußeres noch kleiner erscheinen. Sie trug ihre bevorzugte Kombination aus einem schwarzen Hosenanzug und einer einfachen weißen Bluse. Nick war sicher, dass ihr Kleiderschrank eine reine Studie in Schwarzweiß sein musste. Eine smaragdgrüne Brosche an ihrem Jackett spiegelte die Farbe ihrer Augen wider.
»Sehen Sie sich das hier mal an.«
Harker tippte in ihre Tastatur. Auf einem Monitor an der Wand ihres Büros erschien ein Video, das Soldaten mit Sturmgewehren zeigte, die sich geduckt hinter steinerne Barrikaden kauerten, die sich quer über einen breiten Boulevard erstreckten. Aus einer Stadt im Hintergrund stiegen bedrohliche Rauchsäulen in den Himmel auf. Ein wilder Mob aus Menschen mit von Angst und Zorn verzerrten Gesichtern stürmte auf die Barrikaden zu. Nick sah, wie eine junge Frau mit einem Baby im Arm stolperte, fiel, und unter den Füßen des Mobs niedergetrampelt wurde. Niemand schien von ihr Notiz zu nehmen.
Die Soldaten eröffneten das Feuer, als die Menschenmenge über die Barrikaden kletterte. Dann verschwanden auch die Soldaten unter einem Meer aus kreischenden Menschen.
»Großer Gott«, stieß Nick hervor. »Wo ist das?«
»In Nowosibirsk. Das wurde vor etwa einer halben Stunde im russischen Fernsehen ausgestrahlt. Wir konnten es aufschnappen, bevor Moskau den Feed kappte.«
Sie tippte auf eine andere Taste. Das Bild wechselte zu einer Satellitenansicht. Die Kameras an diesem Vogel konnten aus einhundertneunzig Kilometern Höhe sogar noch eine Zeitung lesen.
Das Zentrum von Nowosibirsk glich einem Kriegsgebiet. Die Straßen waren verlassen. Hunderte Leichen lagen überall dort, wo sie zu Boden gesunken waren. Autowracks blockierten die Straßen. Es sah so aus, als hätten einige davon versucht, andere Fahrzeuge zu rammen. Schaufenster waren eingeworfen. Die Gehsteige waren mit Glasscherben übersät.
»Was ist da passiert?«, fragte Nick.
»Ich weiß es nicht. Aber was immer es war, es geschah sehr schnell. Alles verlief ganz normal. Doch dann scheint es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Laut dem Zeitstempel der Satellitenübertragung verging keine halbe Stunde zwischen der Normalität und diesem Ergebnis.« Sie deutete auf den Bildschirm.
»Das ist unmöglich. Es dauert seine Zeit, bis sich ein Aufstand ausbreitet.«
»Und doch haben wir diesen Vorfall. Irgendetwas ist dort passiert, und ich will wissen, was es war.«
»Sie glauben also nicht, dass das ein rein russisches Problem ist?«, fragte Nick.
»Nein. Alles, was eine moderne Stadt in ein Irrenhaus verwandeln kann, stellt eine Bedrohung dar. Vielleicht war etwas in ihrem Trinkwasser. Vielleicht experimentierten die Russen mit etwas und es geriet außer Kontrolle.«
»Zum Beispiel?«
»In Nowosibirsk befindet sich das Vector Institut. Vector ist das russische Zentrum für biologische Kriegsführung. Es ist gut möglich, dass dort etwas ausgetreten ist.«
»Ein Virus, das Menschen durchdrehen lässt? Es müsste in die Luft gelangt sein, um alle gleichzeitig infizieren zu können.«
»Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl bei dieser Sache«, sagte Elizabeth. »Suchen Sie Ronnie und Selena und bringen Sie sie rauf.«
Ronnie Peete und Selena Connor waren zwei Mitglieder aus Nicks Team. Lamont Cameron ein drittes, doch Lamont befand sich gerade im Bethesda-Krankenhaus, wo er sich von einer Schusswunde erholte, die er sich in Jordanien zugezogen hatte. Die Kugel war in seine Lunge eingedrungen und hätte ihm beinahe das Leben gekostet.
»Sie sind unten auf dem Schießstand.« Nick rieb sich über die Stelle an seinem Kinn, an der er sich heute Morgen beim Rasieren geschnitten hatte.
Harker sah ihn an. »Okay. Und worauf warten Sie noch?«
Kapitel 3
Vor der Tür, die in die unteren Stockwerke führte, wäre Nick beinahe über den großen orangefarbenen Kater gestolpert, der auf dem Boden neben einem Katzenkorb lag. Burps war so groß wie manche Hunde, und klüger als die meisten von ihnen. Seine Ohren waren zerfleddert und abgerissen. Der Teppich war feucht von seinem Sabber. Es war typisch für ihn, seinen Korb zu ignorieren und stattdessen auf dem Boden zu schlafen. Nick stieg über ihn hinweg und begann die Wendeltreppe hinabzusteigen.
Das Hauptquartier des PROJECTs befand sich im ländlichen Teil Virginias, nicht weit von Washington entfernt. Abgesehen von dem breiten betonierten Hubschrauberlandeplatz am Ende der Einfahrt sah es wie ein typisch amerikanisches Mittelklassehaus aus – ein Ranch-artiges Gebäude, umgeben von Rasenflächen und Blumenbeeten. Ein etwas kleineres Gebäude, bei dem es sich um eine Garage hätte handeln können, stand etwas abseits des Hauses, und jenseits der Rasenflächen befand sich ein Werkzeugschuppen.
Der Anschein von Normalität war aber nur Illusion. Die Fenster hielten selbst Kaliber-.50-Geschosse ab. Die Vordertür bestand aus Stahl, und um eintreten zu können, musste man einen Code eingeben und einen Bio-Scanner passieren. Selbst die Verandatüren, die in den Garten hinausführten, konnten einem Fahrzeug standhalten, welches hindurchzubrechen versuchte.
Unter dem Rasen und den Blumenbeeten befanden sich drei Bunker, die zu Zeiten des Kalten Krieges einmal eine Nike-Staffel beherbergt hatten. Die Raketen dieses Programms waren schon lange verschwunden und durch ein Operationszentrum, Notquartiere, einen großen Raum für Computer und ein voll ausgestattetes Fitnessstudio und einen Schießstand ersetzt worden. Direkt neben dem Schießstand schloss sich die Waffenkammer an. Und selbst einen unterirdischen Swimmingpool gab es hier.
Nick öffnete die Tür zu der Schießanlage und zuckte beim Echo des Pistolenfeuers zusammen. Ronnie und Selena standen an der Feuerlinie. Plexiglasscheiben trennten die einzelnen Schießstände voneinander. Am anderen Ende der Schießanlage ließen sich automatisierte Ziele nach Belieben aufrufen.
Selena befand sich an der dritten Station. Sie gab einen letzten Schuss ab und der Schlitten ihrer Pistole blieb in zurückgefahrener Position stecken. Nick warf einen Blick auf ihre Zielscheibe, eine menschliche Silhouette mit einem netten Muster aus Einschusslöchern in der Brust. Sicherheitshalber hatte sie noch drei Schüsse in die Stirn platziert.
Sie sah auf, als er hereinkam, und lächelte ihn an. Seit beinahe zwei Jahren waren die beiden nun ein Paar und Nick konnte von diesem Lächeln nie genug bekommen. Manchmal, wenn er sie verstohlen ansah, fragte sich Nick, wie er bei einer Frau wie Selena landen konnte. Kernig war sicher noch das Beste, was man über ihn sagen konnte. Bei Selena waren sich jedoch alle einig, dass sie wunderschön aussah. Einer ihrer Wangenknochen saß etwas höher als der andere, was ihrem Gesicht die Bürde der perfekten Schönheit nahm. Ihr rötlich-blondes Haar schimmerte im Licht der Deckenlampen.
»Hey«, begrüßte sie ihn.
»Gut geschossen«, kommentierte er.
Sie lächelte wieder, nahm ihre Schutzbrille ab, unter der ihre veilchenblauen Augen zum Vorschein kamen.
Ronnie legte seine Pistole auf die Ablage, nahm seine Ohrschützer ab und drückte auf einen Knopf, um die Zielscheibe zurückfahren zu lassen. Er studierte das Muster der Einschüsse in der Mitte der Silhouette und legte sie dann auf den Haufen mit den anderen Zielscheiben, auf die er an diesem Tag bereits gefeuert hatte.
»Die neuen Westen sind da«, sagte er. »Kamen heute Morgen rein.«
Er lief die Feuerlinie entlang, bis zu einem leeren Schießstand. Auf dessen Bank lagen sechs dunkle, gepanzerte Schusswesten, dafür entworfen, ihre Träger gegen jeden Treffer zu schützen, mit Ausnahme von Schüssen in den Hals,