Die Musikantenstadt. Max Geißler
Da nahm sie der kleine Prophet am Arm: „Du musst nun nicht furchtsam sein, Annemirl! Guck!“
Er deutete auf eines der glänzenden Strahlenbündel, das von oben her durch das Nadeldach rann. Das stand wie ein blankes Säulchen und stand fast so aufrecht, wie die Stämme des Waldes.
„Das ist der goldene Zeiger, den wir nach der Zeit fragen wollen. In der Nacht ist es ein silberner. Je schiefer er steht, desto tiefer sinkt die Sonne, desto tiefer schwimmt der Mond. Aber komm, wir gehen die drei Brunnen suchen!“
Sie waren noch nicht weit in der Schlucht gegangen, da weitete sich die zu einem ansehnlichen Talkessel. Zwischen den Stämmen stand auch richtig noch die alte Köhlerhütte, deren Dach mit den Breitseiten auf dem Moose ruhte und von Verfall redete. Der Junge schaute zu dem Loch im Dach hinein, und das Mädchen lugte mit Augen, die auf etwas Wunderbares warteten, durch die kleine Tür im Giebel. Eine Angel hatte der Rost zerfressen, darum hing das Türlein schief.
„Bub, ein Moosbett ist auch noch da; das hat sich einer vor zehn Jahren zusammengetragen oder noch früher, ist älter wie du und ist nun ganz neu überwachsen!“
Nicht weit davon hatten drei Steinpilze die dicken Köpfe durch Nadeln und Waldmoos geschoben. Mit einem Schrei fielen die Kinder darüber her; es waren die ersten im Jahr. Da leuchteten die Augen des Jungen:
„Siehst du! Zwar, viel werden hier auch nicht wachsen, aber wenn wir die Tücher voll heimtragen, so will ich mir die Füsse gerne wund gelaufen haben.“
Sie setzten sich auf den schattigen Grund, und die Annemirl säuberte die Stiele der Pilze von der feuchten Walderde. Immer mehr empfanden sie nun an ihren Füssen die wohltätige Kühle und sassen mit angezogenen Knien, damit ihre brennenden Sohlen flach auf dem Moose ruhen konnten. Auch merkten sie jetzt erst, wie müd’ sie geworden waren. Sie assen von dem schwarzen Brot und verzehrten den Rest der Brombeeren. Aber der Durst war noch nicht gelöscht.
Deshalb fragte das Mädchen, indem es Umschau hielt:
„Die drei Brunnen heissen sie’s hier? Wo sind sie denn? Du wolltest sie doch suchen.“
„Dort unter dem Gebüsch, glaub’ ich,“ sagte der kleine Prophet und erhob sich.
„Du bist aber sehr müde, Bub! Ich auch. Sieh’ einmal, ob du sie findest! Ich ruh’ mich inzwischen noch ein wenig aus.“
Die Ziegen lagen käuend im Moos und regten sich nicht. Da ging der Junge ein Stück zwischen den Stämmen dahin, und bald verkündete sein Ruf dem Mädchen, dass er die Brunnen gefunden habe. Das sprang auf und lief ihm nach.
„Zwei rinnen nicht mehr,“ sagte er, „aber der dritte, — schau!“
Aus einem Spalt im Gestein klang ein fadendünnes silbernes Wässerlein und fiel auf goldenen Sand, der war wie eine Schale aus Sonnenschein. Als die Kinder getrunken hatten, besahen sie auch die Stellen, an denen in anderer Zeit die Brunnen ans Licht getreten waren. Ringsum träumte schattenstiller Bergforst, und in dem Moose war deutlich ein Wildwechsel zu erkennen, der von den Tieren des Waldes wohl erst in der Dürre des Sommers getreten war, weil weitum nur noch die eine Quelle rann.
Nun gingen sie wieder zurück und durchsuchten die Hütte. Hinter den Sparren, die das Moosdach trugen, zog das Mädchen einen tönernen Stieltopf hervor.
„Ei,“ freute sich der Bub, „wenn wir nun doch über Nacht hier bleiben, so werden wir uns jetzt Schwämme braten! Bist du noch hungrig?“
Aber die Annemirl sah ihn mit unsicheren Blicken an: „Nun doch hier bleiben? Möchten wir nicht lieber heim?“
„Wir wollen Schwämme suchen und ein Feuer zünden. Was ist denn weiter dabei? Daheim sässen wir träg auf der heissen Bergweide.“ Er schaute nach dem goldenen Weiser der Himmelsuhr: „Es ist jetzt die Mitte des Nachmittags; vor dem späten Abende kommen wir gar nicht heim, und wir laufen uns auf dem sengenden Grunde die Füsse blutig.“
Dabei waren seine Augen so tief und leuchtend geworden, dass ihn das Mädchen lange verwundert ansah.
„Du, mir ist, du hast noch ein Geheimnis! Warum sagst du mir das nicht?“
Der kleine Prophet schnitt mit seinem Taschenmesser Fichtenreiser zur Deckung des Hüttendaches. Wie er dem Mädchen einen Teil der Zweige in den Arm gelegt hatte und selber mit einer grossen Last hinter ihm drein zur Köhlerhütte geschritten war, und wie sie das Dach geflickt hatten, sagte er endlich: „Ja, ich hab’ ein Geheimnis, und ich will mit dir hernach darüber reden. Erst wollen wir aber den Topf waschen und wollen auf dem Wege zu dem Brunnen noch mehr Schwämme suchen, damit wir ein Nachtmahl haben.“
Da gingen sie miteinander, und er verfiel alsbald wieder in sein schweigsames Sinnen.
Während sie nach den braunen Köpfen der Pilze spähten, begann das Pechschaberkind zu singen, erst leise und tastend, dann lauter. Da wusste der kleine Prophet, dass die Annemirl nun alle Furcht vergessen habe. Darüber ward er froh; denn er dachte, dass ihr Mut aus dem Vertrauen zu ihm wüchse. Sie hatte eine reine, klare Kinderstimme von wunderbarem Wohllaut; vielleicht wollte sie ihn auch erfreuen, weil er ihr wieder zu nachdenklich war; denn sie wusste: Sein verträumtes, besinnliches Wesen gab sich ihren Liedern hin wie Liebkosungen.
Weil der tiefe, geheimnisvolle Zauber eines ihnen fremden Waldstriches um sie war, und weil auch die feuchte Kühle des Quellgebietes um ihre Stirnen floss, die der Hochwald um das Dorf seit langen Wochen ihnen versagt hatte, oder auch, weil das ‚Geheimnis‘ sein Herz erfüllte, dachte er, sie habe noch nie so schön gesungen wie jetzt. Und doch lauschten des Abends die Leute vor den Hütten, wenn vom Steinhofhause her die Lieder der Pechschaberleute über das Dorf tönten. Sie sagten: „Die Alten haben noch die vorige Zeit in sich, in der sie landfahrend gewesen sind. Aber die kleine Annemirl kann’s doch besser wie sie alle.“
Wie der goldene Zeiger der Himmelsuhr nun schon ganz schräg im dämmerigen Grün unter dem Nadeldache stand und das goldene Gespinst der untergehenden Sonne die Luft erfüllte, sassen die Kinder vor einem Feuer, das um den Topf mit den siedenden Pilzen loderte.
Während das Mädchen hernach mit einem Stöcklein rührte, suchte der kleine Prophet in der Köhlerhütte, ob etwa ein Waldgetier unter dem verlassenen Dache sich heimisch gemacht habe. War aber nichts da als das trockene, weiche Moosbett; nicht einmal ein Duft von Moder und Walderde schwamm in dem Häuslein, über das nun länger als drei Monate kein Regen geronnen war.
Dann erstickten sie das Feuer mit feuchtem Moos, tauchten die Würfel des Schwarzbrots, die sie sich geschnitten hatten, in das Schwammgericht und assen.
Der Sonnenzeiger war nun nicht mehr da.
Darum banden sie die Ziegen an einen Stamm vor der Hütte, gingen hinein und legten sich auf das weiche Moosbett. Sie wollten aber noch nicht schlafen, sondern nur ausruhen und ihre Füsse schonen. Das Mägdlein lag auf dem Rücken, hatte die Hände über der Brust gefaltet und sagte: „Ich denke, wir gehen ganz früh vor der Sonne fort.“
Aber der kleine Prophet stützte den Kopf auf seinen Arm und neigte sein Gesicht über das ihre:
„Annemirl, nun will ich dir mein Geheimnis verraten! Ich habe immer, wenn ich mit der Ziege auf der Bergwiese gewesen bin, an die Rede der Steinhöferin denken müssen; denn ich glaube, sie hat sich ihre Geschichte nicht ersonnen. Es wird schon etwas Wahres daran sein. Manchmal, wenn ich an einer Runse im Gestein vorübergehe oder die goldenen Flechten hoch an den Felsen leuchten sehe, so ist mir, es müsse irgendwo das Tor sein, durch das die Menschen hingehen können in die Tiefen der Erde, in denen die grossen Schätze liegen, von denen die Steinhöferin meiner Mutter erzählt hat.“
„Freilich wohl,“ entgegnete das Mädchen. „Aber diese Türen — hat uns der Lehrer doch gesagt — müssen sich die Leute erst schlagen und tun das auch. Du weisst ja, sie graben Schächte und Stollen durch das Gestein und schürfen als Bergleute Erze, woraus dann das kupferne, silberne und goldene Geld geschlagen wird; oder sie graben Eisen und machen die Flinten und Hämmer und Axte daraus.“
Darauf schwieg der kleine