Mild ist die färöische Sommernacht - Ein Färöer-Krimi. Jógvan Isaksen
auf Hiroshima und Nagasaki wurden gesondert beschrieben. In dem Artikel über Europa nach dem Krieg stand ein wenig über die Werwölfe und die Organisation ODESSA, die alten Nazis half, und daß viele von ihnen sich in Südamerika versteckten. Dieser Abschnitt war auch rot unterstrichen, und es war ein Fragezeichen dahinter gesetzt worden. ODESSA? Ob das etwas mit der Wirklichkeit zu tun hatte? Ich hatte vor vielen Jahren einen Film mit diesem Namen gesehen, der von faschistischen Zusammenkünften und ähnlichem handelte, hatte aber die Handlung immer als freie Phantasie abgetan.
Summa summarum: die Namen zweier deutscher Offiziere in Italien waren unterstrichen sowie die Hypothesen - denn war es mehr als eine Hypothese? - von den Werwölfen und ODESSA. Was konnte ich daraus schließen? Ich versuchte, intensiv nachzudenken, aber ganz gleich, wie ich die wenigen Erkenntnisse, die ich hatte, auch drehte und wendete, ich kam nicht von der Stelle. Ich war kurz davor zu glauben, das Ganze sei nur ein Hirngespinst.
Jemand rief, daß sie jetzt nach Hause gingen. Ich rief zurück, ich käme gleich. Ich ging in Sonjas Büro und schaute ein letztes Mal auf ihren Computer. Der Artikel über Italien und der über Deutschland nach dem Krieg standen in einer Rubrik für sich, geschrieben genau um 4.59 in der Nacht, bevor Sonja starb. Ich sah die beiden Artikel durch, konnte aber nichts entdecken, was sich vom Gedruckten unterschied. Nicht, bevor ich bis ans Ende kam, da stand: Sjeyndir? Hugo. Nur diese beiden Worte, nichts anderes.
Ich hatte ins Schwarze getroffen. “7-dir” bedeutete sowohl Sjeyndir als auch die siebte dir. Wieviel Rätselraten ich noch vor mir haben sollte, das ahnte ich nicht.
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Die Whiskyflasche schaute mich nicht mehr so verlockend an. Es war nur noch wenig übrig, womit sie hätte locken können, und jetzt, wo der Abend schon etwas fortgeschritten war, waren wir miteinander vertraut geworden. Es war jedenfalls besser, mit ihr zu reden, als sich immer und immer wieder die gleichen Fragen zu stellen: Wer? Warum? Wie?
Es gab keine Antwort.
Was ging da vor sich? Die Fragen ließen mich nicht so einfach in Ruhe. Ich lehnte mich mit dem Glas in der Hand zurück. Was willst du? Was geht da vor sich? Was übersiehst du? Der Alkohol übernahm langsam das Steuer, so daß es im Kreis ging.
Du akzeptierst nicht, daß die Leute in großer Zahl um dich herum sterben. Nicht, daß die Welt für dich still stehen soll. Du weißt, daß alles, was still steht, stirbt, Leben ist Bewegung. Aber du willst nicht, daß die Menschen, die du kennst, und die dich gekannt haben oder die, die oftmals dasselbe wie du erlebt haben, mit denen du gemeinsame Erinnerungen hast, sterben. Das empfindest du wie einen Diebstahl, als würde jemand das Dasein schrumpfen lassen, eine systematische Amputation, und zum Schluß bist nur noch du übrig.
Vielleicht möchtest du ja doch, daß die Welt still steht?
Also, was sind denn das für Katastrophengedanken? Außerdem ist die Chance, daß du die Mehrheit überlebst, nicht besonders groß. Krebs oder ähnliches Teufelszeug haben dich sicher bereits geschafft, ehe deine Bekannten überhaupt die ersten Anzeichen des Alterns bemerkt haben.
Ich nahm einen großen Schluck.
Es ist unglaublich, wie sentimental man von Schnaps wird. Bevor ich es recht wußte, würden die Tränen fließen.
Es gab nur zwei Möglichkeiten, dem zu entkommen. Entweder schlafen oder in die Stadt gehen. Damit die Gefühle etwas Abstand gewinnen konnten.
Eine dritte Möglichkeit bestand darin, den Fernsehapparat anzuschalten. Ich versuchte diesen Mittelweg, aber nein, das Färöische Fernsehen sendete montags nicht. Auf dem Fußboden unter dem Fernsehapparat stand ein Videogerät, und ein paar Kassetten lagen auch herum. Sie waren nicht beschriftet. Ich nahm eine, schob sie in den Apparat und befand mich in einer finnischen Sendung über die Färöer.
Sie erwies sich schnell als ausgesprochen komisch, als ein färöischer Spezialist sich verschiedene färöische Mythen vorknöpfte: Die Färöer kann man als eine Nation von Fixern charakterisieren, die ihren Schuß von Dänemark benötigen, es wird für alle Arbeitsplätze so viel Unterstützung gezahlt, daß das Land faktisch eine große beschützte Werkstatt ist, die färöischen Alkoholiker sind Luxusalkoholiker, die zum Entzug nach Island geschickt werden, damit sie von vorn anfangen können, wenn sie zurückkommen. Ich saß da und brüllte vor Lachen, aber das lag vielleicht auch am Whisky?
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Nachdem die R.C.Effersøesgøta lange Zeit eine der ruhigsten Straßen der Hauptstadt gewesen war, wurde sie vor ein paar Jahren zu einer der meistbefahrenen. Hübsch ist die Straße nicht, aber sie dient ihrem Zweck, den Verkehr vom Zentrum und Hafen hinauf zum Industrieviertel á Hálsi zu führen. Der Verkehr ist fast immer fürchterlich, und mitten am Tag und gegen fünf Uhr herrscht ständig Stau. Das wird nicht besser durch die Tatsache, daß das größte Einkaufszentrum des Landes an der Straße liegt und es keine separaten Ein- und Ausfahrten besitzt.
Ich stand mit dem Kadett, den ich mir bei einer Autovermietung ausgeliehen hatte, mitten auf der Straße und wartete auf eine Lücke im Verkehr. Nachdem ich mich auf das Gelände des Einkaufszentrums gedrängelt hatte, stellte ich das Fahrzeug so schnell wie möglich ab. Als ich mich von dem Wagen entfernen wollte, sah ich ein Schild: Nur für die Kunden der Apotheke. Ich dachte, es würde sicher nicht leicht sein, herauszufinden, wer wo einkaufte, also brauchte man sich nicht darum zu kümmern.
Als die Brötchen und der Kaffee gerutscht waren und die erste Zigarette dieses Tages entzündet, fühlte ich mich besser. Es saßen nur wenig Leute in der Cafeteria, die Kinder waren noch nicht da. Möglicherweise machten sie mit ihren Eltern Urlaub und konnten deshalb nicht in das größte Vergnügungszentrum der Hauptstadt kommen.
Man hatte sich viel Mühe gegeben, und ein großes, hübsches Kunstwerk aus Glas erhob sich über drei Etagen. Drumherum wanden sich zwei Wendeltreppen aus Marmor. Es war wie in dem Lied “If I Were a Rich Man”: eine um hinaufzugehen und eine um hinunterzugehen. In dem Lied gibt es noch eine dritte nur zum Schmuck, aber das mußte die Treppe am anderen Ende des Zentrums sein.
Die Uhr besagte, daß die Bank jetzt geöffnet hatte, und ich setzte mich deshalb langsam im Bewegung.
Während der Zusammenkunft mit der Whiskyflasche am gestrigen Abend war mir Hugos Auto eingefallen, und woher er wohl das Geld dafür hatte. Vielleicht war ja gar nichts Merkwürdiges dabei, aber eine Untersuchung war es schon wert. Wie es um Sonjas finanzielle Situation stand, wußte ich nicht, und ich wollte nicht dieses spröde Frauenzimmer auf Suðuroy fragen, aber im Brief hatte Sonja Auslandsreisen erwähnt. Sie mußte etwas erwartet haben. Blieb nur noch die Frage, in welches Geldinstitut ich gehen sollte. Ab und zu hatte ich einen Scheck von ihr bekommen, und mir war so, als wäre er von der Filiale hier auf Trapputrøðin. Es war zumindest einen Versuch wert.
Am Schalter fragte ich nach dem Geschäftsführer, es würde mir sowieso niemand sonst Informationen geben. Ein junges blondes Mädchen in einem so winzigen Rock, wie ich ihn vor mehr als zwanzig Jahren das letzte Mal gesehen hatte, fragte, ob ich einen Termin hätte. Ich sagte, daß dem so wäre und bat sie, mir das Büro des Geschäftsführers zu zeigen. Ohne nachzudenken deutete Sie den Flur hinunter, und bevor sie etwas sagen konnte, war ich schon auf dem Weg zur Tür.
Mitten im Zimmer stand ein großer alter Schreibtisch, und an der Weg gegenüber der Tür hing ein entsprechend großes Bild der Insel Mykines, auf dem das Abschlachten der Grindwale dargestellt war. Der Mann, der hinter dem Schreibtisch saß, entsprach in seinen Maßen weder den Dimensionen noch der Brutalität des Gemäldes. Er war klein und dünn, blaß mit Nickelbrille, und seine Glatze glänzte, als wäre sie poliert. Zwei kalte, blaue Augen, so schmal wie der Spalt einer Muschel und genau so scharf wie diese sahen mich an.
“Was bilden Sie sich ein, hier einfach so hereinzuplatzen?”
“Ich brauche einige Informationen und dachte, so ginge es am schnellsten.”
“Mir gefällt Ihr Auftreten nicht.”
“Das spielt keine Rolle. Es ist sowieso nicht zu verkaufen.”
Der Kopf fuhr zurück,