Reisen. Helon Habila
mit eingerissenen Nägeln, höchstwahrscheinlich ruiniert von der Arbeit in einer Hotelwäscherei oder Spülküche.
Mark kam aus dem Atelier und stand vor der Wohnzimmertür, lächelte gequält, in der einen Hand hielt er seine rote Jacke, in der anderen immer noch den gelben Flyer. Gina in ihrem farbbespritzten Overall stand bereits wieder an der Staffelei, tupfte mit zusammengekniffenen Augen an ihrem Gemälde herum.
Ich bot ihm an, mit ihm zur Bushaltestelle zu gehen. Ich hatte den ganzen Tag lesend in der Wohnung verbracht und musste mir die Beine vertreten. Vielleicht tat er mir auch leid, weil er den Weg umsonst gemacht hatte, eventuell machte mich neugierig, dass er anders, an ihm etwas Besonderes war, was wohl auch Gina bemerkt und weshalb sie ihn abgelehnt hatte. Genau diese Ausstrahlung hatte auf mich die gegenteilige Wirkung, weckte mein Interesse. In diesem Moment machte Mark einen deprimierten Eindruck, als hätte er die fünfzig Euro bereits verplant gehabt, fünfzig Euro, die er nun nie zu Gesicht bekommen würde. Ich fragte ihn, ob er schon einmal Modell gesessen habe. Er verneinte. Wer habe das schon, von professionellen Modellen abgesehen, außerdem sei er der Meinung gewesen, sie brauche Leute von der Straße, ganz normale Leute, und er sei doch normal.
Ich ging vor Mark die Treppe ins Erdgeschoss hinunter aus dem Haus. Ich wollte ihn nur bis zur Bushaltestelle begleiten und anschließend, wie schon des Öfteren einen Spaziergang um den kleinen See auf der anderen Straßenseite machen. Doch als wir ankamen, fuhr der Bus gerade los und ich beschloss, mit ihm auf den nächsten zu warten und als der nicht kam und Mark meinte, er wolle zu Fuß gehen, sagte ich aus einer Laune heraus: „Ich komme mit.“ Es war Frühling und im Westen drückte sich die Sonne herum, wollte so gar nicht untergehen, ihre schrägfallenden Strahlen waren für die Jahreszeit ungewöhnlich warm und hell. Perfektes Wetter. Wir mischten uns unter die Menge, die aus der S-Bahn geströmt kam, gingen am Wurststand, an einem erdbeerfarbenen Erdbeerstand vorbei. Die Berliner saßen Eis essend unter Sonnenschirmen. Vor uns kreischte eine winzige, dralle Dame in roter Jacke „Nein! Nein!“ in ihr Handy, während sie auf dem Gehweg auf und ab spazierte, dabei sämtliche Passantenblicke niederzwang. Und je mehr die Leute glotzten, desto schriller wurde ihre Stimme, für einen kurzen Moment war sie berühmt. „Nein, ich weiß es nicht“, schrie sie und sonnte sich in ihrer Prominenz.
Wir kamen an einer Bank vor einem Kaiser’s vorbei, auf der ein Roma-Paar saß, die abgestumpften Kulleraugen auf ihre Tochter gerichtet, die mit einer Schale in der Hand auf dem Gehweg stand. Mark murmelte mit gesenktem Kopf vor sich hin.
„Was für ein schöner Tag“, sagte ich. Er nickte. Ich begleitete ihn zwar, aber ihn aufzumuntern war nicht meine Aufgabe. Direkt vor uns gingen zwei Frauen Hand in Hand im selben Tempo wie wir, uns immer ein paar Schritte voraus, sie trugen die gleichen Jeansjacken, ihre schlanken, wohlproportionierten Körper und ihr bei jedem Schritt wippendes Blondhaar waren ein hübscher Anblick. Die beiden passten zu diesem Tag. Die eine war älter, vierzig vielleicht, die andere sah aus wie zwanzig, Mutter und Tochter oder Schwestern, Freundinnen oder ein Paar. Ihre ineinander verschränkten Hände verströmten im Kontrast zu den grob quietschenden Reifen und dem Hupen auf der Straße große Behutsamkeit.
Auf beiden Straßenseiten kreischte Neonschrift von Ladenfronten: McFit, McPaper, McDonald’s – ein sehr amerikanischer Firnis auf den eher traditionellen Gassen und Seitenstraßen, den verschlafenen Vierteln, die still vor sich hin pulsierten wie die unter Beton und Asphalt begrabenen Straßenbahnschienen. In unseren ersten Berliner Monaten waren Gina und ich durch diese schmaler werdenden Straßen gewandert, die vom Kurfürstendamm wegführten, immer weiter, vorbei an Handwerksbetrieben, Suppenküchen, Blumenläden und Einfamilienhäusern, in denen Kinder und Eltern um den Abendbrottisch saßen. Noch vor wenigen Monaten waren diese Straßen leer und schneebedeckt gewesen, in jedem entlaubten Baum, vor jedem Laden hing grellbunte Weihnachtsbeleuchtung, wie Talismane gegen die bösen Wintergeister. Am George-Grosz-Platz verschwanden die beiden Frauen in einer Parfümerie. Mark und ich setzen uns und beobachteten die gelben Doppeldeckerbusse, die anhielten und abfuhren, wieder anhielten, die ein- und aussteigenden Menschen. Schweigend saßen wir da, genossen die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Angesichts der Leute, die vor den Straßencafés saßen, Kaffee tranken und rauchten, meinte Mark: „Das könnte genauso gut in Paris sein.“ Nach ungefähr einer halben Stunde seufzte er und stand auf, winkte zum Abschied und ging mit langsamen Schritten zur U-Bahnstation Adenauerplatz. Ich fragte mich, was er wohl für eine Geschichte hatte, ob ich ihn wiedersehen würde.
Gedankenverloren blieb ich im Dämmerlicht sitzen. Ein Mann mit feistem Gesicht rannte unbeholfen hinter einem M29-Bus her, zu spät. Er blieb stehen, wedelte frustriert mit den Armen, umflattert von seinem offenen Trenchcoat. Als er sich umdrehte, stellte ich fest, dass es kein Mann, sondern eine Frau war, die Hängebacken missmutig verkniffen. Eine junge Frau stieg auf hohen Absätzen aus dem M19-Bus und setzte sich auf die Bank neben mir. Sie holte Lippenstift und Spiegel heraus. Als sie beides in ihre Tasche zurückstopfte, sah sie auf und unsere Blicke trafen sich. Sie lächelte und dann war sie weg, mit einem für die Leute hier typischen Affenzahn. Ich hätte ein Gespräch anfangen können, hätte „Hallo“ sagen können und vielleicht hätten wir dagesessen und uns unterhalten, elegant wie Pariser. Hätten vielleicht über George Grosz geredet, den Namenspatron des Platzes, Maler, Intellektueller, Rebell, der den Ersten Weltkrieg überlebte und im Zweiten den Nazis Paroli bot, nach Amerika floh, nur um heimwehkrank nach Berlin zurückzukehren und nach einer durchzechten Nacht eine Treppe hinunterzustürzen.
„Ein schöner Tod“, hätte sie vielleicht gesagt. Während ich ihr nachsah, spürte ich die unüberbrückbare Kluft zwischen mir und dieser Stadt größer werden. Selbst wenn ich ihre Sprache spräche, die Sprache dieser Stadt, würde die junge Frau mich verstehen? Vor einem Monat wollte ich bei der Post einen Brief aufgeben und die Frau am Schalter, eine flachsblonde Schreckschraube, hatte mich angestarrt, sich geweigert, mit mir Englisch zu sprechen, und wir lieferten uns ein Blickduell, während die Schlange hinter mir immer länger wurde. Sie brüllte mich auf Deutsch an und ich antwortete auf Englisch, dass ich Briefmarken kaufen und meinen Brief aufgeben wolle, bis schließlich vom Ende der Schlange eine Frau nach vorn kam und dolmetschte. Es war eine verkrampfte Pattsituation und ich schwitzte, als ich auf die Straße trat. Eine Woche später nahm ich Deutschunterricht.
2
„Du musst mitkommen, Darling“, sagte Gina vor einem Jahr in unserer Wohnung in Arlington. „Ich kann das nicht ohne dich.“ Sie hatte das renommierte Berliner Zimmer-Kunststipendium erhalten. Ein Jahr Berlin. Vielleicht war das genau das Richtige, um aus unserem festgefahrenen Leben, unserem Alltag auszubrechen. Jedes Jahr wählte die Zimmer-Jury zehn Künstler aus aller Welt aus – Schriftsteller und Maler, Filmregisseure und Komponisten – und in diesem Jahr war Gina eine von zwei Stipendiatinnen aus den USA. Sie war Juniorprofessorin an der Universität von Arlington, ich brachte in einem Hinterzimmer der Stadtbibliothek koreanischen Einwanderern Englisch bei. Außerdem arbeitete ich an meiner Hochschule als wissenschaftlicher Assistent, damit waren die Studiengebühren abgedeckt. Beim Unterrichten ging ich äußerst besonnen vor; jedes Mal, wenn ich vor den erwartungsvollen jungen Gesichtern stand, fühlte ich mich wie ein Hochstapler. Würden sie alles, was ich ihnen erzählte, für bare Münze nehmen, und welches Recht hatte ich, welches Wissen, welche Erfahrung, um mich als Autorität zu gerieren? Ich war erst fünfunddreißig, vielleicht wenn ich fünfzig wäre, mehr gereist wäre, mehr erlebt hätte …
„Es ist nur ein Job, Darling“, sagte Gina, pragmatisch wie immer. „Du siehst das zu kritisch.“
Oder vielleicht liege es auch an meiner Angst, mich festzulegen, mutmaßte Gina und bezog sich nicht nur auf meine halbfertige Dissertation, sondern auch auf unser Vorhaben, nach unserer Promotion zu heiraten. Sie hatte ihre bereits. Drei Jahre lang hatten wir in ihrer winzigen Studentenbude mit Blick auf einen Parkplatz zusammengelebt. Aber nein, sagte ich, das liege nur an meinem migrantischen Charakter, der mich auf ein Zuhause, auf Beständigkeit in dieser neuen Welt hoffen, aber auch vor langfristigen Bindungen zurückscheuen und ständig Fluchtpläne schmieden lasse.
Wir heirateten dann doch noch und die Ehe war gut, stabil, wir hatten einen geregelten Tagesablauf wie die meisten Ehepaare. Wir wachten gemeinsam auf, gingen zur Arbeit, abends saßen wir auf unserem schmalen