Reisen. Helon Habila
An diesem Tag ging die Kreuzberger Polizei frühzeitig auf Streife, schwärmte vom Hermannplatz bis zum Moritzplatz aus. Sie trug Schutzausrüstung samt kugelsicheren Westen, riegelte mit Streifen- und Mannschaftswagen einige Straßen ab, zu denen nur noch Anwohner mit Ausweis freien Zugang hatten. Um diese Absperrungen zu vermeiden, traf ich rechtzeitig vor Demonstrationsbeginn bei der Kirche ein. Alle standen schon in Stiefeln und Jeans abmarschbereit an der Tür. Mark unterhielt sich mit einer jungen Frau, die ich noch nie gesehen hatte, seiner Freundin Lorelle. Ich musste mich zusammenreißen, um die Nadeln und Ringe, die sie in Lippen, Nasenflügeln, Wangen und Augenbrauen trug und ihr Gesicht wie ein Nadelkissen aussehen ließen, und ihr Zungenpiercing nicht offen anzustarren. Das musste doch wehtun. Bestimmt verbargen sich unter ihrem ausgebeulten Sweatshirt noch weitere Piercings. Auf ihrer linken Wange prangte ein Mandala-Tattoo, dessen Rosa- und Blautöne ihr Gesicht wie ein Neonlicht erleuchteten. Ihr Haar, auf einer Seite vollständig abrasiert, war über den blonden Ansätzen ebenfalls ein Mix aus rosa und blau. Ich gab ihr die Hand.
„Nett, dich kennenzulernen“, sagte sie. „Mark hat mir viel von dir erzählt.“
Ihr Händedruck war fest. Ihre Stimme entsprach so gar nicht ihrem Äußeren, warm und leise, mit starkem amerikanischem Akzent. Sie war Amerikanerin, jedoch in Heidelberg geboren. Ihre Eltern waren bei den US-Streitkräften, mittlerweile zurück in die Staaten versetzt, sie war hiergeblieben, weil ihr das Leben in Deutschland besser gefiel. Wie Mark studierte sie Film.
Wir gingen durch Parks und Nebenstraßen, wichen den herumfahrenden Mannschaftswagen und größeren Menschenansammlungen aus. Unser Ziel war ein türkisches Café, dessen Inhaber Schwarzen keinen Zutritt gewährte, weil er der Meinung war, es seien alle Illegale und Drogendealer. Eine erstaunlich große Menge hatte sich bereits davor versammelt. Junge Leute in Jeans, Stiefeln oder Turnschuhen, manche hielten Transparente hoch, andere ihre Handys, weil sie die Demo aufnehmen wollten, taten das auch während sie in die Sprechgesänge einstimmten. Wir schlossen uns an, warfen Steine auf die Polizisten, die sich schützend vor das Café gestellt hatten, dessen Inhaber hinter der Theke kauerte. Wir marschierten um den Block, immer wieder, brachten den Verkehr zum Erliegen. Gegen Mittag war ich müde, hungrig und allmählich gelangweilt. Drüben schwenkten Mark und Uta, die in ihrer abgeschnittenen Jeans und dem feuerroten Halstuch sehr hübsch aussah, nebeneinander ihre Plakate wie Köder in Richtung Polizei. Ich beschloss, eine Auszeit zu nehmen, ging über die Straße und bestellte in einer Bäckerei ein belegtes Brötchen und einen Kaffee. Gina hatte zweimal versucht, mich zu erreichen. Als ich das Haus um sechs Uhr verlassen hatte, hatte sie immer noch in ihrem Atelier gemalt und ich hatte ihr nicht gesagt, wohin ich ging. Ich rief sie an, doch sie nahm nicht ab – wahrscheinlich schlief sie. Draußen hatte sich in der kurzen Zeit, die ich in der Bäckerei gewesen war, die Demonstrantenmenge beinahe verdoppelt und die Anspannung ringsum stieg spürbar. Zeit, heimzugehen. Auf der Suche nach Mark, um ihm mitzuteilen, dass ich mich ausklinken würde, geriet ich plötzlich in eine Woge aus Körpern mit direktem Kurs auf die Polizisten, die in Reih und Glied mit erhobenen Schlagstöcken hinter ihren Schutzschilden standen. Steine, Flaschen und Dosen zischten über unsere Köpfe hinweg gegen die Schilde. Jemand rammte mir seine Schulter in den Rücken und ich stürzte. Als ich aufstehen wollte, stießen mir Knie ins Gesicht, traten mir Füße auf die Hände. Alles rannte, verfolgt von der Polizei. Mehrmals versuchte ich, mich aufzurichten, kam aber gegen die endlose Welle aus Knien und Beinen nicht an, die über mich hinwegrollte. Ich blieb am Boden, hypnotisiert von einem matt schimmerndem, im Gehweg eingelassenen Messingquadrat – einem der sogenannten Stolpersteine. Die waren mir schon öfter aufgefallen, ganze Lebensgeschichten standen darauf, Name, Lebensdaten, Tag der Deportation, Todesort. Vier Namen, die Hartmanns: Elisabeth, Markus, Lydia und Eduard. Alle kamen nach Sobibor, alle starben am selben Tag, am 5. Dezember 1944. Ich war geblendet vom Messingglanz, schockiert von der brutalen Gleichgültigkeit der Geschichte, hatte Tränen vom Tränengas in den Augen und konnte mich vor Erschöpfung nicht rühren. Jemand zerrte mich hoch und kurz wehrte ich mich, im Glauben es wäre ein Polizist, aber es war Mark. Er lächelte euphorisch. „Alles okay?“, fragte er. Ich stand auf. Meine Handflächen waren zerschunden und brannten, meine Hose hatte an den Knien Löcher.
„Alles gut.“
Aber schon war er wieder weg, schleuderte einen Stein auf die Polizeikette. Neben mir landete ein Tränengaskanister, der sofort von einem strubbelhaarigen Jugendlichen Richtung Polizei zurückgeworfen wurde, der Rauchbogen hing wie eine Gewitterwolke in der Luft. Rechts von mir rannte Lorelle direkt auf eine schildbewehrte Reihe Polizisten zu, nutzte ihr beträchtliches Gewicht als Rammbock. Natürlich wurde sie niedergeschlagen und zu einem Polizeibus geschleift, während sie kreischend um sich trat. Vom Tränengas benebelt, stand ich da, mir liefen Augen und Nase. Ich war allein auf einer winzigen Insel und um mich herum wütete und tobte das Meer in unbändiger Wut.
„Ich muss los“, erklärte ich Mark.
„Nein, jetzt noch nicht. Er ist da. Das ist unser historischer Moment“, sagte Mark und wedelte dabei mit den Armen. „Das ist unser Sharpeville, unser Agincourt.“
Fast hätte ich über seine Übertreibung gelacht. Welcher Moment, hätte ich gern gefragt, wird das hier tatsächlich die sogenannten Kapitalisten und Rassisten umstimmen und ewigwährende Liebe und Harmonie in die Welt bringen? Und trotzdem war ich wider Willen beeindruckt. „Mit deinem abgelaufenen Visum willst du nicht verhaftet werden. Komm, wir gehen“, sagte ich.
„Wo sind die anderen?“, fragte er.
„Ich weiß nicht. Lorelle haben sie abgeführt, das habe ich mitbekommen. Los jetzt.“
Wir entfernten uns, bogen aufs Geratewohl um diese Ecke, in jene Straße, bis Sirenen und Sprechgesang ein fernes Flüstern im Wind waren. Wir setzten uns in eine Kneipe und bestellten jeder ein Bier. Mein Handy klingelte, es war Gina, doch ich war zu müde und zu durcheinander, um ranzugehen. Wir tranken unser Bier aus, aber Mark war noch nicht in Aufbruchstimmung. Er bestellte ein zweites Bier.
„So muss es sein“, sagte er und schlug auf den Tisch. „Widerstand gegen das System.“ Wir tranken aus und bestellten noch eine Runde. Allmählich spürte ich, wie ich runterkam. Draußen gingen im Dämmerlicht die rauchgelben Straßenlaternen an. Der Tag war beinahe zu Ende. Ein Streifenwagen heulte vorbei, sein blitzendes Blaulicht vermischte sich mit dem Straßenlampengelb.
„Ich sollte nach Hause.“
„Ach, komm“, sagte Mark, der bereits betrunken wirkte, „ich geb noch eine Runde aus.“ Er bestellte einen doppelten Whisky.
„Für mich nicht. Beeil dich. Ich bring dich heim, dann bin ich weg.“
Auf dem Heimweg blieb Mark an einer Currywurstbude stehen. Ein junger Typ mit alkoholgerötetem Gesicht ließ sich, obwohl seine Freundin ihn am Arm weiterziehen wollte, neben uns auf die Bank fallen. Das Gesicht in den Händen beugte er sich vor. „Scheiße“, murmelte er unentwegt vor sich hin. Das Mädchen trug ein Cosplay-Outfit und viel Make-up, hatte ihre Augen mit Kajal auf mandelförmig geschminkt. Auf der anderen Straßenseite stand in einem düsteren Zugang ein Mann mit Hoodie, der die Vorübergehenden leise „Alles gut?“, fragte, ihnen dabei aber nie richtig in die Augen sah.
„Auf nach Hause, Mark.“
Da er nicht mehr gerade gehen konnte, legte ich seinen Arm über meine Schulter, musste mich dabei komisch verbiegen, weil er viel kleiner war als ich. So schwankten wir zur S-Bahn-Station. Als wir zur verlassenen Kirche kamen, war die Tür aus den Angeln gerissen und lag im Eingangsbereich. Die Lampen brannten. Die Stühle waren umgeworfen, Papiere auf Tischen und Boden verstreut.
„Verdammte Scheiße!“
„Was ist denn da passiert?“
„Keine Ahnung. Sieht aus wie eine Razzia.“
Mark ging von Raum zu Raum, stellte Stühle wieder hin und hob Bücher auf. Sein Zimmer lag am Ende des Flurs neben der Küche. Seine dünne Matratze war zerfetzt und beinahe durchgeschnitten. Sein Rucksack, der seine wenigen Habseligkeiten enthielt, lag geöffnet mitten im Zimmer.
„Was für Arschlöcher! Das war die Polizei, die hat uns schon seit einiger Zeit im Visier.“