Reisen. Helon Habila
eine andere Hochschule in Potsdam besucht. Sein Stipendium läuft aus. Offenbar ist er demnächst mit dem Studium fertig, ihm fehlt nur noch die Abschlussarbeit.“
Eine geradezu kafkaeske Situation – für einen Gerichtsprozess musste er beweisen, dass er eine Visumsverlängerung beantragt hatte (was nicht der Fall war), doch um eine Visumsverlängerung zu beantragen, musste er beweisen, dass er immer noch Student war (was rein theoretisch der Fall war, auch wenn er keine Förderung mehr erhielt und seit einem Jahr das Unigelände nicht betreten hatte und weil er mehrmals die Hochschule gewechselt hatte, waren seine Unterlagen durcheinander, verheddert wie das Haar eines Rastafaris). Trotzdem sah der Anwalt optimistisch aus, Lorelle hingegen skeptisch und ich wahrscheinlich verwirrt.
„Es wäre tatsächlich einfacher, wenn er einen Asylantrag stellt“, erklärte er.
„Wie ein Flüchtling?“
„Genau.“
„Das macht er nie im Leben“, sagte Lorelle.
„Warum nicht, das vereinfacht die Sache …“
„Weil er kein Flüchtling ist, sondern Student.“
Wir fuhren mit der S-Bahn zur Justizvollzugsanstalt, ein Gebäude im Brutalismusstil, geradezu dem nationalsozialistischen Architekturkatalog entsprungen, wo wir etliche Formulare ausfüllen mussten. Julius erledigte das und händigte die Unterlagen einer Beamtin aus, die Frau Grosses Zwillingsschwester hätte sein können. Zeile für Zeile ging sie jedes Blatt durch, fuhr dabei mit ihrem dicken Zeigefinger die Zeilen nach, ehe sie einen Stempel herausholte und ihn unten auf jede Seite donnerte, wobei jedes Mal der Tisch bebte. Dann sah sie uns an und zeigte in Zeitlupe auf eine Stuhlreihe an der Wand. Wir setzten uns. Ich war bereits jetzt schon erschöpft und kam mir vor, als stünde ich vor Gericht, würde gleich in letzter Instanz verurteilt und gehängt. Ich vermied den giftigen Blick der Vorzimmerdame und betrachtete den langen, rechteckigen Raum. Auf einer Seite befand sich hoch oben eine Reihe quadratischer Fenster, an den Eisenstangen davor scheiterte jegliche Hoffnung auf Flucht. An einer der Türen zu unserer Rechten hing ein „Zutritt verboten“-Schild. Ein Mann kam herein und unterhielt sich mit Julius; als er sich an uns wandte, wechselte er ins Englische und forderte uns auf, ihm zu folgen. Wir gingen durch viele Türen, jede von ihnen wurde mit einem anderen der vielen Schlüssel aus dem Bund geöffnet, den er in der Hand hielt, bis wir schließlich in einer Art Vorzimmer gegenüber einer weiteren Tür Platz nehmen sollten. Nach einer Weile ging die Tür auf und Mark kam in Begleitung eines Wachmanns heraus, der sich diskret, aber gut sichtbar an der Tür positionierte. Nach dem festungsähnlichen Eingang, den vielen Türen und der Bürokratie hatte ich erwartet, dass Mark in Ketten hereingeschlurft käme. Er trug wie immer seine rote Jacke, darunter ein T-Shirt. Ohne seine Kopfbedeckung sah er niedergeschlagen, verletzlich und ein wenig verloren aus.
Mark bedankte sich bei mir. „Alles wird gut“, sagte ich.
Lorelle saß angespannt und aufrecht auf ihrem Stuhl, den Blick unverwandt auf Mark gerichtet, als wäre sie am liebsten zu ihm hingerannt und hätte ihn umarmt, aber sie blieb sitzen, lächelte jedes Mal, wenn sich ihre Blicke trafen. Wie sich herausstellte, gab es Grund für Julius’ Optimismus: Zwei Tage später wurde Mark entlassen. Der Anwalt rief mich an und wir trafen uns in seiner Kanzlei. Mark war ebenfalls anwesend, die Baseballkappe wie üblich tief in die Stirn gezogen, er trug wie immer seine rote Jacke über Hemd und T-Shirt, Converse und Hochwasserjeans. Er war vorläufig frei. Die Hochschule hatte bestätigt, dass er weiterhin immatrikuliert war und die Visumsverlängerung war beantragt. Mark hatte man in die Obhut des Anwalts entlassen. Beeindruckt schüttelte ich Julius’ Hand.
„Er muss jederzeit zur Verfügung stehen, wenn ihn eine Behörde kontaktiert. Er darf Berlin nicht verlassen. Die wollten eine Adresse, reine Formalität. Wir haben Ihre angegeben, ist das okay?“
„Natürlich“, versicherte ich, verkniff mir die Frage, wie er an meine Adresse gekommen war. „Aber wo soll er unterkommen?“
„Im Heim“, sagte Julius und ergänzte auf meinen ratlosen Blick hin, „im Flüchtlingsheim.“
Dort wo die Asylsuchenden auf das Ergebnis ihres Antrags warteten. Ich sah Mark an – was dachte er darüber? Er betrachtete einen Ast draußen vorm Fenster.
„Aber er ist doch kein Asylant“, sagte ich.
Julius zuckte die Achseln. „Das ist lediglich eine Übergangslösung.“
„Weißt du was“, meinte ich zu Mark, „komm mit zu mir, da kannst du ein, zwei Tage bleiben, ehe du woanders unterkommst.“
Mark zuckte schweigend mit den Schultern. Ein Dankeschön wäre nett gewesen, andererseits hatte er einiges durchgemacht. Bevor wir gingen, nahm Julius mich beiseite. „Wie gut kennen Sie ihn?“
„Wir kennen uns ungefähr seit zwei Monaten. Warum?“
Er zuckte wieder mit den Achseln. „Sie sollten mit ihm reden.“ Er wirkte, als läge ihm noch etwas auf der Zunge, aber offenbar fand er schweigen ratsamer. Er sah Mark, dann mich an. „Reden Sie einfach mit ihm. Um … um mehr über ihn zu erfahren, Sie verstehen?“
„Okay.“ Ich war verwirrt. Verheimlichte Mark mir etwas? Er würde mir doch bestimmt sagen, wenn es gefährlich wäre, ihn aufzunehmen? Wir gingen erst mal in eine Kneipe und ich gab ein Bier aus, um Marks Freiheit zu feiern. „Mein erstes Bier seit Tagen“, sagte er und schwieg dann die meiste Zeit. Gern hätte ich Julius’ Bemerkung erwähnt, aber wie brachte man so etwas zur Sprache? Ich beschloss, das Thema zum geeigneten Zeitpunkt möglichst taktvoll aufs Tapet zu bringen. Als wir ausgetrunken hatten, sah er auf. „Hoffentlich ist deine Frau nicht sauer, wenn du ein Findelkind anschleppst.“
„Sie wird’s verkraften“, sagte ich, obwohl mir klar war, dass ich mit dieser Aktion zu weit ging, einen nur schwer rückgängig zu machenden Schritt tat. Von nun an war ich für Mark verantwortlich. Was immer er tat, was immer mit ihm geschah, würde direkte Auswirkungen auf Gina und mich haben.
6
Als ich die Wohnungstür aufschloss, hörte ich Stimmen und mir fiel ein, dass wir an diesem Tag Gäste hatten. Gina war mit ihrer Reisenden-Serie fertig und hatte ihre Modelle sowie einige von den Zimmer-Leuten zur privaten Vernissage eingeladen – und ich hätte auf dem Heimweg die Getränke dazu mitbringen sollen. „Scheiße“, entfuhr es mir leise und ich sann fieberhaft nach einer Entschuldigung.
„Alles in Ordnung?“, fragte Mark mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich lächelte und winkte ihn herein.
Gina stand, ein Glas in der Hand, im Wohnzimmer und unterhielt sich mit einem Mann, der sein Ralph-Lauren-Hemd ziemlich weit aufgeknöpft trug, damit man seine behaarte Brust bewundern konnte. Sie machte den Mund auf, schloss ihn aber wortlos, als sie Mark sah. Ihre Augenbrauen hoben sich fragend. Ich ging zu ihr und küsste sie auf die Wange. „Hi, Darling“, sagte ich. Auf dem Balkon standen zwei Frauen mit einem Glas Wein in der Hand und rauchten. Ich winkte ihnen zu und schüttelte dem Mann die Hand.
„Du bist Ginas Mann“, konstatierte er. „Ich bin Dante.“ Er war Franzose oder Italiener, womöglich Spanier. Ob er sich wohlfühlte mit so exponierter Brust? Ich nickte und drehte mich zu Mark um. „Das ist Mark, ein Freund.“ Ich wartete, ob Gina sich an ihn erinnerte, wenn ja, ließ sie es sich nicht anmerken.
„Mark, das ist meine Frau, Gina.“
Gina sah von Mark zu mir, immer noch mit fragendem Blick, gab ihm dann die Hand. Mark mit seiner Baseballkappe, seiner gerade einmal bis zu den Knöcheln reichenden Jeans, dem einschultrig getragenen Rucksack, dem Geruch nach Inhaftierung wirkte neben dem elegant aufgeknöpften Dante dermaßen fehl am Platz, dass ich mich für ihn schämte.
„Komm“, sagte ich, nahm seinen Rucksack und zeigte Mark das Badezimmer, damit er sich die Hände waschen konnte; außerdem musste ich kurz allein sein, um mich zu fassen. Am dringendsten brauchte ich jedoch etwas Alkoholisches. In der Küche standen zwei offene Weinflaschen auf der Arbeitsplatte, eine rot, eine weiß. Während ich im Büfett nach einem