Reisen. Helon Habila
mir das Glas ab und stellte es behutsam ins Spülbecken. Ich nahm es wieder an mich und schenkte mir erneut ein. Eine Woche nach unserer Heirat waren zwei ihrer Freunde auf dem Weg nach Baltimore durch unsere Stadt gekommen und Gina wollte mich ihnen vorstellen. Sie hatte gekocht und ich hätte auf dem Heimweg von der Bibliothek, wo ich meine Englisch-Studenten unterrichtete, Wein mitbringen sollen, allerdings war mir die gesamte Sache völlig entfallen. Ärgerlicherweise tat ich nichts Wichtiges, sondern hockte lediglich mit einem Roman in der Bibliothek herum und als ich mich wieder erinnerte, war ich drei Stunden zu spät dran. Als ich heimkam, lag sie im Bett und sprach am nächsten Tag kein Wort mit mir.
„Entschuldige, ich hatte vergessen, dass wir heute Gäste haben.“ Sie sehe in ihrem roten Kleid wunderschön aus, fügte ich hinzu.
„Ich habe mehrmals angerufen. Dir auf die Mailbox gesprochen.“
„Ich kann noch schnell Nachschub holen, wenn es nicht zu spät ist …“
„Natürlich ist es zu spät. Dante hat ein paar Flaschen mitgebracht. Und wer ist dieser Typ? Irgendwie kommt er mir bekannt vor.“
„Er heißt Mark. Er war schon mal bei uns.“
„Was macht er hier?“
„Er braucht einen Platz zum Schlafen.“
„Zum Schlafen?“
„Ja. Ich erklär’s dir später.“
„Du kannst es mir jetzt erklären.“
„Zu kompliziert. Später.“
„Trink bitte nicht so viel“, sagte sie und verließ die Küche. Ich leerte das zweite Glas, diesmal langsam. Um mich den Gästen stellen zu können – so ungefähr das Allerletzte, wonach mir war –, benötigte ich einen Stimmungsaufheller und ein frisches Hemd. Als ich durch den Flur zum Schlafzimmer ging, sah ich, dass die Ateliertür offenstand. Auch dort waren Leute, ein Mann und eine Frau, die sich leise unterhielten. Ich blieb im Türrahmen stehen und räusperte mich. Im Dämmerlicht erkannte ich Manu und die Frau, deren Tochter ebenfalls anwesend war. Sie stand im Schatten einer Leinwand.
„Hallo“, sagte ich. Die drei drehten sich um und starrten mich schweigend an, als erwarteten sie einen Anschiss von mir. Die Frau stellte sich neben ihre Tochter.
„Ich wusste nicht, dass Sie hier drinnen sind“, ich hielt weiterhin den Blick auf Manu gerichtet. Alle starrten mich weiterhin schweigend an und als die Situation immer peinlicher wurde, meinte ich: „Ich bin gerade erst gekommen. Ich habe mich mit einem Freund getroffen.“ Sie sagten immer noch nichts und dann nahm die Frau die Tochter bei der Hand und drückte sich mit größtmöglichem Abstand an mir vorbei durch die Tür ins Wohnzimmer. Wieder sah ich Manu an, dann der Frau hinterher. „Ich weiß gar nicht, wie sie heißt.“
„Bernita.“
„Sie redet nicht viel, oder?“
„Sie ist schüchtern“, sagte er.
Ich betrat das Zimmer und stellte mich neben ihm vor eine der Leinwände. Insgesamt waren es sechs, der Größe nach geordnet, die größte, 150 × 130 cm, links und die kleinste, 60 × 50, rechts. Die Gemälde waren so aufgebaut, dass lediglich das Licht einer einzigen Lampe auf sie fiel. Manus Porträt, 150 × 130, erwiderte unseren Blick, nachdenklich, ein wenig müde, aber voller Würde, wie ein besiegter König inmitten seines zerstörten Palastes.
„Gut getroffen“, sagte ich.
Das nächste Porträt zeigte die Frau mit ihrem Kind. Ich sah die fertigen Gemälde zum ersten Mal. Gina verabscheute es, ihre Werke in halbfertigem Zustand zu zeigen, selbst mir. Die Frau saß da, auf ihrem Schoß schlief das Kind.
„Wie eine Pietà“, meinte Manu. Eine Frau, die ihr entkräftetes Kind hielt, trauerte, wie das nur eine Frau kann. Sie trug den voluminösen Wintermantel, betrachtete die in ihren Armen liegende Gestalt, das Licht umstrahlte ihren bedeckten Kopf wie ein Heiligenschein. Auf drei kleineren Leinwänden war das Kind allein skizziert – ich trat näher. Nein, es handelte sich nicht um dasselbe Kind. Es war ein weißes Kind, der Junge aus dem Heim für mutterlose Kinder, der über der Mauer hing und „Schokolade!“ rief. Und doch war es auf dem nächsten Bild nicht derselbe Junge. Es war ein eher exemplarisches Kindergesicht, ein Allerweltskind. Jedermanns Kind. Und das nächste war noch exemplarischer, geschlechtslos, weder schwarz noch weiß; deutlich zu sehen war jedoch ein geradezu anklagender Schmerz in seinen glänzenden Augen. Ich trat zurück und wandte mich an Manu. Was er wohl darüber dachte? Er hatte sich vorgebeugt, sein Gesicht dicht vor der Leinwand.
„So viel Traurigkeit“, sagte er. Als ich schwieg, fuhr er fort: „Aber das ist möglicherweise nur meine Interpretation.“
„Möchten Sie ein Bier? Ich ziehe mir rasch ein anderes Hemd an und dann bin ich bei Ihnen.“
Manu erzählte, er habe eine Tochter. Sie lebten in einem Flüchtlingsheim.
„Warum haben Sie sie nicht mitgebracht?“
„Sie hat heute Deutschunterricht.“
Ich versuchte, seinen Akzent zu erraten. „Kommen Sie aus dem Senegal?“
„Nein, aus Libyen. Mein Vater kam ursprünglich aus Nigeria.“
Mark saß mit einem Glas Wein in der Hand zwischen den zwei Frauen, die auf dem Balkon geraucht hatten, auf dem Sofa. Die eine hieß Ilse, sie war für die PR bei Zimmer verantwortlich, die andere hatte ich noch nie gesehen. Er schilderte den beiden sein Martyrium durch die Einwanderungsbeamten. Dante und Gina rückten näher und mittlerweile war Mark, dem die Aufmerksamkeit sichtlich gefiel, von einer kleinen Gruppe umringt. Er erzählte mit der für ihn typischen Prahlerei, gab der Geschichte einen humoristischen Anstrich, als wäre alles ein großer Spaß gewesen. Mir kam es vor, als hörte ich zum ersten Mal davon, als wäre ich nicht teilweise mit dabei gewesen und unwillkürlich musste ich seine Wandlungsfähigkeit bewundern. Die mir unbekannte Brünette im blauen Kleid, das nur bis zur Mitte der Oberschenkel reichte, lehnte sich zu Mark hinüber. „Also beantragen Sie jetzt Asyl? Das wäre doch das Einfachste für Sie, oder?“
„Mark ist Student“, sagte ich und trat näher.
„Ah so“, sie sah zu mir hoch. Sie wirkte wie Mitte vierzig. Eine Journalistin aus Frankfurt, wie ich später erfuhr. Sie hieß Anna. Wie Gina wohl an sie geraten war? Wahrscheinlich durch Ilse. Zimmer förderte und vernetzte seine Stipendiaten unermüdlich.
„Warum“, Mark wandte sich mit einem schelmischen Funkeln in den Augen an mich, „gehen Weiße immer davon aus, dass jede schwarze Person, die reist, ein Flüchtling ist?“
„Tun sie nicht“, sagte Anna. „Tue ich nicht“, verbesserte sie sich. „Schließlich kann ich nicht für jeden Weißen auf dem Globus sprechen.“
Ich klinkte mich aus und ging in die Küche, um mir Wein nachzuschenken; als ich zurückkam, waren die Frau und ihr Kind gegangen. Mir fiel Manu ins Auge, der mit einem Glas in der Hand etwas abseits in der Nähe der Tür stand. Er starrte die Gruppe an und als ich seinem Blick folgte, stellte ich fest, dass er Gina ansah, die sich mit Dante unterhielt. „Deine Frau ist extrem begabt“, sagte er.
„Komm doch zu uns“, meinte ich, „halt dich nicht so abseits.“
„Ich muss jetzt leider gehen. Es ist schon spät.“
Ich reichte ihm seinen Mantel und als ich mich wieder zu den anderen gesellte, fragte Anna Mark gerade, ob er in Berlin Rassismus erlebt habe, denn bestimmt sei Berlin doch die liberalste und offenste Stadt Europas, in der man die Menschen herzlich willkommen heiße. Mark lächelte unbeeindruckt. „Mir gefällt’s hier. Sogar in Berlin sehne ich mich nach Berlin.“
„Hahaha“, Anna lachte entzückt. Ihr Lachen war erstaunlich laut. „Das gefällt mir. Darf ich Sie zitieren?“
Mark hob die Hand, sein Gesicht war weingerötet. „Bevor Sie mich zitieren, möchte ich noch Folgendes sagen … mir ist auch aufgefallen, dass Frauen, wenn ich in der Nähe bin, unweigerlich ihre Taschen umklammern. Und zwar