Reisen. Helon Habila

Reisen - Helon  Habila


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zuzusagen: Was, wenn wir hingingen und die Dinge zwischen uns anders wurden? Was, wenn uns Berlin mehr veränderte als angenommen? Mir war bewusst, dass Gina sich, abgesehen von seinem Prestige und der Wichtigkeit für ihre Karriere, auch deshalb für das Zimmer-Stipendium beworben hatte, weil ich über afrikanische Geschichte des 19. Jahrhunderts, mit Schwerpunkt Berliner Konferenz 1884, promovierte, und was würde mich mehr zur Recherche animieren als ein Jahr Berlin? Trotzdem zögerte ich, denn bekanntermaßen ist jede Abreise ein Tod, jede Rückkehr eine Wiedergeburt. Die meisten Veränderungen sind nicht geplant und hinterlassen unweigerlich eine Narbe.

      Zwei Monate nach der Hochzeit wurde Gina schwanger. Das war so nicht geplant und ganz bestimmt hatten wir nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, dass die Schwangerschaft im siebten Monat enden könnte. Beide waren wir am Boden zerstört, aber Gina hatte sich verändert. Sie ging nicht mehr aus dem Haus, weinte den ganzen Tag, aß nicht mehr. Ich konnte nicht viel tun; ich saß neben ihr, hielt ihre Hand, erinnerte sie daran, dass wir jung waren und es noch oft probieren konnten. Ich las ihr Gedichte vor, was ich vor unserer Heirat häufig getan hatte. Ihr zweiter Name war Margaret und ich rezitierte Gerard Manley Hopkins’ Frühling und Herbst: Margaret, ist dein Herz so taub, / weil in Goldengrove nun gilbt das Laub? Normalerweise munterte sie das auf und sie lächelte dann kopfschüttelnd, diesmal jedoch nicht. Sie drehte das Gesicht zur Wand und rollte sich wie ein Fötus zusammen, machte sich winzig klein. Gina war immer stark gewesen, vielleicht stärker als ich, ganz sicher dynamischer als ich, und nun erlebte ich sie zum ersten Mal ganz hilflos. Wie plötzlich und unerwartet alles anders geworden war, gerade noch waren wir ein normales Ehepaar gewesen, jung, die Zukunft vor uns, im nächsten Moment vom Unglück gebeutelt, am Boden zerstört und hilflos.

      Irgendwann fuhr sie zu ihren Eltern nach Takoma Park und kehrte nicht zurück; am nächsten Tag kam ihre Mutter, warf Ginas Sachen in eine Tasche und sagte, Gina müsse sich ausruhen, erholen, fügte sie hinzu. Ihr Verhalten deutete darauf hin, dass sie mir die Schuld am Zusammenbruch ihrer Tochter gab. Mit dem Vater kam ich besser aus, einem emeritierten Professor, der in den Achtzigern dank eines Fulbright-Stipendiums ein Jahr in Nigeria verbracht hatte und auf dieses Jahr voller Zuneigung zurückblickte. Ich hockte allein und einsam in unserer Zwei-Zimmer-Wohnung und rief Gina jeden Morgen an, wollte wissen, wie es ihr ging, und herausfinden, wann sie zurückkam. Und, da ich nichts anderes zu tun hatte, als vor dem Fernseher Däumchen zu drehen, fing ich an zu trinken. Zuerst trank ich nur abends, dann nachmittags, schließlich morgens. Ich konnte diese Abwärtsspirale aus eigener Kraft nicht stoppen.

      Gina blieb sechs Monate bei ihren Eltern und in dieser Zeit bewarb sie sich für das Zimmer-Stipendium. Auf den Tag sechs Monate, nachdem sie gegangen war, betrat sie aufgeregt unsere winzige Wohnung, ihre Augen glänzten hoffnungsvoll, als sie mir die Antwort-E-Mail zeigte. An diesem Abend fuhr sie nicht zu ihren Eltern. Wir hielten uns die ganze Nacht umfangen. Berlin. Vielleicht war das die Lösung für uns. Ein Ausbruch aus unserem auseinanderbrechenden Leben.

      3

      „Sogar in Berlin sehne ich mich nach Berlin“, sagte Mark gern. Er lebte mit seinen drei Freunden Stan, Eric und Uta in Kreuzberg in einer leerstehenden Kirche an der Spree. Sie war schief, wirkte, als könnte man sie mit der Fingerspitze umstupsen. Eines dieser verfallenen Bauwerke, die man in Berlin gelegentlich sieht, vom Krieg verschont, von der Abrissbirne übersehen und die sich neben neueren Gebäuden seltsam ausnehmen. Die Barockfassade samt ihrem Kirchturm mit gedrehter Spitze lag hinter einem engmaschigen Drahtzaun, der das Gemäuer von den Nachbarhäusern und vorüberfahrenden Autos abschirmte. Die meisten Türen und Fenster fehlten. Im Innenhof trieb der Wind wie ein ruheloser Geist Papierfetzen und Bierdosen über den wild wuchernden Rasen auf den Gehweg. Mark und seine Freunde hatten das Gebäude von einer anderen Gruppe „Alternativer“ übernommen, die auf der Suche nach größeren Herausforderungen im Kampf gegen das Establishment nach Stockholm weitergezogen war, nachdem ihnen Berlin zu zahm geworden war.

      „Ich musste die Kirche bei unserem Einzug erst einmal entwidmen“, sagte er. „Es spukte nämlich. So etwas spüre ich.“ Es war einer dieser haarsträubenden, nebenbei geäußerten Kommentare, die sich bei jedem anderen verrückt angehört hätten, aus Marks Mund jedoch normal, geradezu vernünftig klangen. Wir waren uns, der Frühling war schon fast vorbei, in einer Galerie wiederbegegnet. Wenn sie nachts durchgearbeitet hatte, schlief Gina tagsüber und stand erst spätnachmittags auf, sah trotzdem erschöpft, fast durchsichtig aus, schnappte sich aus dem Kühlschrank ein Sandwich und machte sich sofort wieder an die Arbeit. Auf mich allein gestellt, ließ ich mich von einem Ort zum andern treiben, hauptsächlich Galerien und Bibliotheken. Von der fraglichen Ausstellung hatte ich durch eine Mail erfahren, die Gina von den Zimmer-Leuten bekommen hatte. Die Galerie stellte Porträts aus, die südafrikanische Fotografen während der Apartheid gemacht hatten. Am Eingang drückte mir eine junge Frau ein Heftchen in die Hand, auf dem in fetter Helvetica der vollmundige Titel der Ausstellung stand: Apartheid, Exil und proletarische Internationale. Auch Fotografien und Videoinstallationen hiesiger schwarzer Künstler waren zu sehen. Ich ließ mich von Raum zu Raum treiben, las die Texte unter den Porträts – die meisten Fotografien waren aus den Siebziger und Achtziger Jahren und stammten von Südafrikanern, die in Ost- und Westberlin Exil gefunden hatten. Ich betrachtete die ernsten Gesichter. Was für eine Ironie der Geschichte, dass sie ausgerechnet hier vor Verfolgung und Apartheid Beistand gesucht hatten, in einer Stadt, in der nur ein paar Jahrzehnte zuvor die Nazis eine ganz besondere Hetzjagd veranstaltet hatten. Wie kamen sie mit dem Essen zurecht, der neuen Sprache, dass sie so sichtbar anders waren, mit dem klirrend kalten Winter des Exils? Die meisten von ihnen waren nach Südafrika zurückgekehrt, diejenigen, welche die Bitterkeit des Exils überlebt hatten, waren dort nun die neuen Führer, in die Positionen der weißen Unterdrücker gerückt, die ihrerseits vom düsteren Kapitel der Geschichte ins Exil verbannt worden waren.

      Bald reichte mir der Anblick der einander ähnelnden grauen, freudlosen Gesichter und ich ging ins Untergeschoss zu den Videoinstallationen. Offenbar hatte ich den Raum ganz für mich, es fühlte sich etwas gespenstisch an, mitten im Raum zu stehen, umgeben von mehreren flimmernden Monitoren, auf denen Leute tonlos ihre Münder öffneten und schlossen. Ich nahm Platz in einer der Kabinen und setzte einen Kopfhörer auf. Plötzlich bekamen die stummen Gesichter Stimmen. Sie sprachen deutsch. Es riss mich beinahe hoch, als eine Hand meine berührte. Ich drehte mich um. Aus dem dunklen Raum schälte sich neben mir eine Gestalt heraus, deren rote Jacke im Dämmerlicht mit dem roten Sofa verschmolzen war, auf dem wir saßen, daher hatte ich den Mann übersehen. Er hielt mir die Hand hin. Sie war schlank und weich und kurz glaubte ich, er wäre eine Frau. Er bemerkte, wie ich stutzte, und lächelte. Er war es wohl gewohnt, für etwas gehalten zu werden, was er nicht war. Seine Hand noch in meiner sagte er: „Ich bin Mark.“

      Es war der von Gina abgewiesene Porträtkandidat. Er erkannte mich ungefähr gleichzeitig. Das Schweigen hing eine Weile zwischen uns, dann deutete ich auf die drei Bildschirme. „Was soll das darstellen?“

      Die Monitore bildeten ein Triptychon: links von uns war eine Frau zu sehen, rechts ein Mann und in der Mitte lief ein alter Film. Die beiden Gesichter links und rechts unterhielten sich offenbar über den Film, der lief. Alles auf Deutsch. „Bei dem Film handelt es sich um Whity von Rainer Werner Fassbinder. Und die beiden unterhalten sich darüber, wie darin die Rassenfrage behandelt wird.“ Fassbinder kannte ich, aber Whity hatte ich noch nicht gesehen.

      „Die Frau da“, sagte Mark und zeigte auf die Frau mit dem Lockenkopf, „hat die Installation gemacht. Sie ist halb Nigerianerin.“ Mark war, wie sich später herausstellte, Filmstudent oder es zumindest einmal gewesen – bei Mark war nichts eindeutig. Wir saßen eine Weile in der dunklen Kabine und starrten auf den Film, dessen bedeutungslose deutsche Wörter aus dem Kopfhörer in meine Ohren drangen. Mark setzte seinen Kopfhörer ab und bot an, den Inhalt des Films zusammenzufassen; es war beeindruckend, mit welcher Intensität er das tat. Anschließend bedankte ich mich und fragte, ob ich ihn an der Bar auf ein Bier einladen könne. Mark legte den Kopfhörer weg und setzte seine Baseballkappe auf. Die Bar befand sich ebenfalls im Untergeschoss, gleich neben dem Ausstellungsraum, und war bis auf ein Paar, das auf einem Sofa in der Ecke saß, leer. Wir bestellten Bier.

      „Woher kommst du?“, wollte er


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