Voll relativ! Der Tag, an dem die Zeit verschwand. Anastasia Braun

Voll relativ! Der Tag, an dem die Zeit verschwand - Anastasia Braun


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bevor Mama mit ihrem Hightechsauger um die Ecke kam. Vor Killerbakterien fürchtete sich meine Mama als Ärztin nicht. Doch alle Krabbeltiere, für die man kein Mikroskop benötigt, sorgten bei ihr für Kreischalarm. Sehr ungewöhnlich, dass sie heute so gelassen blieb.

      »Denk nach«, ermahnte ich mich. »Lass dich nicht von der niedlichen Spinne ablenken.«

      Jetzt musterte ich aufmerksam den Kreis, der sich deutlich vom Rest der ausgebleichten Tapete absetzte.

      Verflixt und zugekleistert!

      Es traf mich wie ein Limonadenrülps durch die Nase.

      Natürlich! Auf dem krummen Nagel hatte die Mutter aller tickenden Zeitmesser gehangen. Das Obermonster des Hauses.

      Ein zufriedenes Lächeln rutschte mir über die Lippen. Es musste über Nacht ein Dieb hier gewesen sein. Und er hatte nicht nur den Wecker aus meinem Zimmer geklaut, sondern auch die Wanduhr aus der Küche.

      Was für ein edler und ritterlicher Schurke! Im Kopf notierte ich mir, eine Dankesanzeige für den anonymen Helden an das Schnellbacher Wochenblatt zu schicken. Vielleicht hätte er ja nächste Nacht Interesse an meinem Halbjahreszeugnis, wenn ich es mit Keksen und einem Glas Milch aus Versehen auf der Fensterbank liegen ließe.

      Kapitel 2 Eine große Verschwörung

      Mir knurrte der Magen. Deshalb lief ich zum Kühlschrank und schnappte mir die Tupperschüssel mit dem Schokoladenpudding, der vom Nachtisch gestern übrig geblieben war.

      Mama stand immer noch wie angewurzelt vor dem schwarzen Mikrowellendisplay. Ich holte mir einen Löffel und steckte ihn in die wabbelige Masse. Weil Mama das anscheinend gar nicht mitbekam, schaufelte ich mir eine ordentliche Portion in den Mund, bevor ich nuschelte: »Daf isch dä Pudding eschen?«

      Ich befürchtete schon, dass sie mir gleich ihr Montags-Superfood-Frühstück um die Ohren hauen würde: Blumenkohlbrot mit Rhabarberwürfeln à la Örg-würgs.

      Doch stattdessen passierte Folgendes: Mama wandte der Mikrowelle den Rücken zu, setzte sich zu meinem Paps an den Tisch und nickte schweigend.

      Abgefahren! Ich war im Himmel.

      Nachdem ich den Pudding leer gelöffelt hatte, gönnte ich mir einen Schokoladenriegel zum Nachtisch.

      Ich setzte mich zu meinen Eltern an den Tisch und wartete.

      Blickte aus dem Fenster.

      Beobachtete eine Weile den mopsigen Nachbarskater auf dem Baum.

      Wartete.

      Gähnte.

      Nahm die Spinne näher unter die Lupe.

      Taufte sie auf den Namen Fred.

      Brachte Fred nach draußen in Sicherheit.

      Setzte mich zurück an den Tisch.

      Wartete weiter.

      Worauf eigentlich? Die ungewohnte Ruhe ödete mich allmählich an. Also fragte ich: »Müsst ihr nicht zur Arbeit oder so? Und ich in die Schule?«

      Fast glaubte ich, meine Eltern hätten mich nicht gehört, doch dann drehten sich ihre Köpfe in meine Richtung. Gleichzeitig. Im Schneckentempo.

      Nun starrten mich beide völlig benebelt an. Das rechte Auge meines Papas zuckte.

      »Aber … aber … wie? Wir wissen nicht, wie … wie … wie spät es ist«, stotterte er und zeigte wieder mit dem Finger zur leeren Stelle an der Wand.

      Unheimlich, wie hilflos meine Eltern auf einmal wirkten.

      »Ihr könnt doch nicht den ganzen Tag hier sitzen bleiben. So etwas tun Eltern einfach nicht«, erklärte ich und dachte an die Patienten meiner Mama, die sicherlich schon in der Praxis auf sie warteten. Weil alle Leute in Schnellbach wussten, wo wir wohnten, scheuten sie sich bestimmt nicht davor, ihre Grippe bei uns zu Hause vorbeizubringen. Oder noch schlimmer: Sie würden ihre kranken Kinder hier absetzen, damit diese verseuchten Biester meine ganzen Spielsachen kontaminieren konnten.

      Nein, danke! Das musste ich um jeden Preis verhindern. Dafür hatte dieser Tag zu schön angefangen.

      Ich musste die Sache also selbst in die Hand nehmen.

      Ich gab meinen Eltern einen ausgepackten Schokoriegel, den sie sich teilen sollten. Zu viel Zucker am Morgen tat Erwachsenen einfach nicht gut. Sie brauchten etwas ganz anderes. Ich kannte meine Eltern gut genug, um zu wissen, dass sie ohne Kaffee niemals (wirklich NIEMALS!) das Haus verließen. Was auch immer in dieser braunen, eklig riechenden Brühe drin war, es machte andere Menschen aus ihnen. Wären da nur nicht die vielen Knöpfe und Schalter an der Kaffeemaschine. Ich drückte alle der Reihe nach durch, bis das Ding ein summendes Geräusch von sich gab. Dann füllte ich das durchsichtige Gefäß mit Kaffeebohnen und drückte noch ein paar Knöpfe, die nun verdächtig schnell blinkten. Es krachte. Der Geruch von verbranntem Plastik stieg mir in die Nase. Ob es normal war, dass es so qualmte? Nachdem es erneut geknallt hatte, diesmal lauter, und der Rauch dichter wurde, zog ich vorsichtshalber den Stecker und entschied mich für Kaffeepulver, das seit fünf Jahren abgelaufen war. Das würden Mama und Papa ganz sicher nicht herausschmecken, wenn ich es wie Kakao mit Milch anrührte.

      Ich stellte die Tassen vor meinen Eltern auf den Tisch und kramte den beiden dann etwas Ordentliches zum Anziehen aus dem Wäscheberg im Bad. Mein Paps konnte unmöglich in diesem Aufzug in die Kanzlei.

      Schweigend befolgten sie meine Anweisungen. Die Art, wie sie sich bewegten, erinnerte mich an Zombies. Dass sie kein Wort sprachen, machte das Ganze nicht weniger schräg. Nachdem meine Mama ihre Brühe leer getrunken hatte, griff sie nach dem Telefon, steckte es in eine Butterbrottüte und schob es mir in den Schulranzen. Mein Papa zog währenddessen Alfi aus dem Aquarium und drückte ihm einen dicken Schmatzer auf den Mund. »Tschüss, Schatz. Bis heute Abend«, nuschelte er dem völlig verwirrten Goldfisch zu und stolperte über die Türschwelle. Mama folgte ihm nach draußen.

      Puh, was war das denn?

      Entweder meine Eltern waren über Nacht verrückt geworden, oder aber hier war eine große Verschwörung im Gange.

      DAS musste ich sofort meinen Freunden erzählen!

      Kapitel 3 Die Sache stinkt zum Himmel!

      Ich trat kräftig in die Pedale und nahm eine Abkürzung durch Herrn Müllers Garten. Mein Papa behauptete, er sei unser liebster Nachbar. Obwohl wir ihn so gut wie nie zu Gesicht bekamen. Weil Herr Müller nachts als Wachmann in der Papierfabrik arbeitete und tagsüber immer schlief. Vielleicht war Herr Müller auch gerade deshalb Papas liebster Nachbar. Ehrlich gesagt wusste ich nicht einmal, wie er aussah.

      Wie auch immer, sein Rasen musste jedenfalls dringend mal wieder gemäht werden.

      Auf dem Weg durch die Kirchengasse überholte ich einen kahlköpfigen Mann, der rückwärtslief und dabei laut vor sich hin zählte. Und als ich die Straße zum Schulgebäude überquerte, hätte ich beinahe eine Frau angefahren, die sich händeklatschend im Kreis drehte.

      Wortwörtlich AB-GE-DREHT! Und irgendwie spooky.

      Zum Glück entdeckte ich unter der großen Eiche meine Freunde. Sie war seit Jahren unser Treffpunkt, an dem wir uns immer vor dem Unterricht über die neuesten Ereignisse der Stadt austauschten und geheime Angelegenheiten besprachen.

      »Elli, Basti!«, rief ich vom Fahrradstellplatz rüber und eilte schnell zu den beiden. Ich zog mir den Helm aus


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