Voll relativ! Der Tag, an dem die Zeit verschwand. Anastasia Braun
24 Kinder und Kröte Konstantin. Nervöses Gemurmel breitete sich aus, bis Elli nach vorne neben die Tafel trat und das Wort ergriff. Augenblicklich verstummten alle und richteten ihre Blicke auf sie.
»Leute! Jetzt mal keine Panik«, sprach sie mit ruhiger, selbstbewusster Stimme. Kein Wunder, dass sie zur Klassensprecherin gewählt worden war. Und zwar einstimmig. Nicht zuletzt, weil Konstantin persönlich dafür gesorgt hatte. Jeder (außer Elli) wusste, dass er in sie verliebt war. Ihn damit aufzuziehen, traute sich natürlich niemand. Es gab gewiss angenehmere Arten, ins Gras zu beißen.
Elli räusperte sich und fuhr fort: »Bleibt bitte auf euren Plätzen. Ich bin mir sicher, bald wird der Unterricht wie gewohnt …«
»… wir sollten von hier verschwinden«, unterbrach Rüdiger sie grunzend. »Kein Lehrer, kein Unterricht.« Er streckte seine Faust in die Luft. »Freiheit für alleeeeeee!«
Lautes Gejubel brach im Klassenzimmer aus. Wie in einer wild gewordenen Affenbande sprang einer nach dem anderen über die Tische und stürmte zum Ausgang, wo ihnen Konstantin jedoch den Weg versperrte.
»Ihr kleinen Popel tut das, was sie euch sagt, kapiert?« Er blähte sich zu seiner vollen Größe auf, und keiner traute sich an dem Koloss vorbei.
Elli nickte zufrieden, als sich Rüdiger mit eingezogenem Kopf zurück an seinen Tisch setzte.
Doch plötzlich war es Elli, die zum Fenster sprang und mit weit aufgerissenen Augen nach draußen deutete. »Ist das etwa ein Lagerfeuer?«
Sofort klebten alle Schüler wie Aquariumputzerfische an der Glasscheibe.
Rüdigers Mund klappte auf. »Ist das Frau Hoppe?«
Auch ich traute meinen Augen kaum. Unsere Musiklehrerin hüpfte mitten auf dem Schulhof um das Feuer herum und gab seltsame Laute von sich.
»Das ist verrückt«, murmelte ich und rieb mir die Augen. Vielleicht träumte ich ja nur? Das konnte doch schließlich alles nicht wahr sein:
Frau Besserdich starrte benommen die Wand an, Herr Quark fehlte unentschuldigt, und Frau Hoppe hielt sich offenbar für eine Feuerbeschwörerin.
Dieser Tag lief völlig aus dem Ruder.
Nachdem der Feueralarm losgegangen war und Rüdiger heulend nach seiner Mami gerufen hatte, machte Konstantin dann doch den Weg frei. Einige gingen nach Hause, die meisten gesellten sich zu Frau Hoppe ans Lagerfeuer. Kam schließlich nicht alle Tage vor, dass man auf dem Schulhof sein Pausenbrot grillen durfte. Konstantin hatte sich mit den Worten »Gehe Erstklässler quälen« aus dem Klassenraum verabschiedet.
»Das ist so abgefahren!« Basti grinste wie ein Honigkuchenpferd übers ganze Gesicht. »Sei mir nicht böse, Elli, aber Schule ist langweilig.« Dabei zeigte er auf den Stapel Mathebücher, der heute unberührt im Regal liegen blieb. Aufgeregt klatschte er in die Hände. »Jetzt lassen wir’s so richtig krachen! Sollen wir eine Party in der Sporthalle schmeißen?« Er überlegte. »Oder doch zuerst das Lehrerzimmer plündern?«
Mein Freund sah mich auffordernd an.
Ich räusperte mich. Dass der Unterricht heute ausfiel, freute mich ja mindestens genauso sehr wie ihn. Vor Elli traute ich mich aber nicht, das zuzugeben. Sie liebte die Schule, das wusste ich. Elli wollte wie meine Mutter Ärztin werden. Und irgendwer hatte ihr mal gesagt, dazu müsste sie richtig gute Noten haben. Übertrieben gute Noten. Deshalb nahm sie vermutlich auch die Schule so übertrieben ernst.
Elli stützte die Fäuste in die Hüfte. »Hier wird gar nichts geplündert! Und unerlaubte Partys kommen auch nicht in die Tüte.«
Basti verdrehte die Augen und seufzte. »Komm schon, Max. Lass wenigstens du mich nicht hängen!«
»Na ja, ich weiß nicht«, stammelte ich. »Was ist, wenn Herr Quark doch noch kommt? Oder ein anderer Lehrer?« Außerdem war da ja noch die Sache mit den Uhren …
»Boah, ey. Ihr Spielverderber. Ihr könnt machen, was ihr wollt, aber ICH hole mir jetzt meine Actionfiguren zurück.« Damit wandte er sich von uns ab und marschierte zielsicher in Richtung Lehrerzimmer.
Etwas neidisch sah ich Basti hinterher. Denn da gab es etwas, was auch ich unbedingt wiederhaben wollte.
Es war nämlich so, die Lehrer nahmen uns alles ab, was uns irgendwie Freude bereitete: Tauschfiguren, Kaugummis, Sticker, Steinschleudern, Blinkschuhe, Hamster … »Das lenkt euch nur vom Lernen ab«, schimpfte Frau Besserdich immer. Deshalb wurden unsere Schätze in einer fensterlosen geheimen Kammer gehortet, die sich direkt hinter dem Lehrerzimmer befand. Um diese Kammer gab es unter den Schülern viele Verschwörungstheorien, Gerüchte und Geheimnisse. Noch nie zuvor hatte ein Kind diesen sagenumwobenen Raum betreten. Und genau in dieser Kammer lag irgendwo mein Schweizer Taschenmesser, das mir Herr Nimmerfroh vor den Weihnachtsferien abgenommen hatte, als ich Konstantins fiese Schmiererei von der Jungentoilette wegzukratzen versucht hatte.
Davon abgesehen könnten vielleicht auch alle Uhren in die Kammer des Versteckens gebracht worden sein. Wenn ich Elli die Klassenuhr zurückbringen würde, dann wäre ich ihr Held.
Versöhnend stupste ich Elli an. »Komm schon! Ich werfe nur einen kurzen Blick hinein. Und dann finden wir heraus, was hier los ist. Versprochen!«
»Mist. Verschlossen«, zischte Basti. Er rüttelte verzweifelt am Türgriff. Ich hatte ihn gerade eingeholt, als plötzlich auch Konstantin um die Ecke bog.
»Na, wen haben wir denn da?« Konstantin verschränkte seine Finger ineinander und ließ jeden einzelnen Knöchel eindrucksvoll knacken. Er schaute sich heimtückisch um. »Wo habt ihr Elli gelassen?«
»Och … sie kommt gleich«, flunkerte ich, obwohl ich wusste, dass sie im Klassenzimmer auf uns wartete. Die Sache war die, dass Konstantin vor Elli immer den Netten spielte.
Doch ich kannte sein wahres Gesicht. »Wolltest du nicht mit Erstklässlern spielen?«, fügte ich schnell hinzu, um vom Thema abzulenken.
»Heute nicht! Die kleinen Scheißer sind mir zu gut gelaunt.«
Nun stierte er uns an. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Wie die eines Hais, der gerade Blut gerochen hatte. »Was ist mit euch? Was treibt ihr zwei hier?«
»Wir … wir …«, stotterte ich.
»Wir wollten da rein«, erklärte Basti eilig. »Aber die Tür ist zu.«
Konstantin trat langsam auf uns zu. Einen Schritt, noch einen Schritt. »So, so. Ihr wollt also das Lehrerzimmer plündern?«
Basti und ich stolperten rückwärts. Einen Schritt zurück, noch einen Schritt zurück. Bis wir die Tür im Rücken spürten. Das war’s also. Nun würde uns Konstantin zu Apfelmus zerquetschen.
Ich griff nach Bastis feuchter Hand. Wenigstens musste ich nicht alleine sterben.
»Na dann. Zur Seite, ihr Popel«, befahl Konstantin auf einmal. »Und haltet eure Unterhosen fest. Jetzt rappelt’s nämlich.«
Er nahm Anlauf. Wie ein durchgeknalltes Walross schmiss er sich, den Kopf voraus, gegen die Tür. Sie gab sofort nach, als wäre sie bloß aus weicher Pappe.
Bastis Kinnlade klappte runter. »Was seine Eltern ihm wohl zu essen geben?«
»Egal, was es ist, auf jeden Fall bekommt er eimerweise davon.«
Konstantin streckte protzig den Kopf aus dem Lehrerzimmer. »Seid ihr fertig mit eurem Kaffeekränzchen?«
Um das Walross