Voll relativ! Der Tag, an dem die Zeit verschwand. Anastasia Braun

Voll relativ! Der Tag, an dem die Zeit verschwand - Anastasia Braun


Скачать книгу
erzählte ich schnaufend. »Ich glaube, meine Eltern sind zu Golems geworden.«

      »Ach! Deine etwa auch?« Elli runzelte fragend ihre Sommersprossenstirn. Sie stellte den Schulranzen auf der Wiese ab und zog ihre neongrüne Brotdose heraus. »DAS hat mir mein Papa heute Morgen eingepackt.«

      Ploppend sprang der Deckel auf. Kurz darauf müffelte es überall nach Gammelkäse.

      Ich trat einen Schritt näher und blickte auf einen schlaffen Hausschuh.

      »Örgs, ist das eklig!« Basti hielt sich die Nase zu. »Schnell, mach den Deckel wieder drauf. Mir wird ganz übel.«

      Auch ich verzog angewidert das Gesicht. »Gehört der etwa deinem Vater?«

      »Noch schlimmer«, sagte Elli, während sie den Stinkepantoffel zurück in die Box quetschte. »Der ist von meinem Opa. Und er trägt nie Socken.«

      »Deine Eltern sind also auch verrückt geworden«, stellte ich grübelnd fest. Ich schaute zu Basti. »Wie sieht’s bei dir aus?«

      Er zuckte mit den Schultern. »Hmm, keine Ahnung. Meine Eltern waren eigentlich so wie immer.«

      Ich schnaufte nachdenklich. Denn die Sache mit Bastis Eltern war die, dass sie sich andauernd irgendwie seltsam benahmen. Einmal wurden sie von der Polizei eingesammelt, weil sie sich nackt an einen Baum gekettet hatten. Sie wollten dadurch den Bau des neuen Einkaufszentrums verhindern. Meine Mama hatte mir damals erklärt, Bastis Eltern seien Umweltaktivisten. Was das aber genau war oder warum sie dabei nackt sein mussten, konnte ich nicht so ganz nachvollziehen. Weil aber Basti meistens bei mir übernachten durfte, wenn seine Eltern gerade die Umwelt aktivierten, unterstützte ich ihre Absichten natürlich gerne.

      Ich heftete meinen Blick auf Bastis Ranzen. »Zeig mal deine Brotdose!« Woraufhin mein Freund genervt schnaubte: »Wenn’s unbedingt sein muss.«

      Er wühlte eine ganze Weile im Chaos seiner Hefte. Dann holte er ein Stück Seife und eine Thermoskanne hervor. »Was soll das denn bitte schön sein?« Basti blinzelte irritiert, schraubte die Kanne auf und schnupperte mit gerümpfter Nase daran. »Kaffee? Okaaaay! DAS ist selbst für meine Eltern etwas zu schräg.«

      Elli, Basti und ich schnappten gleichzeitig nach Luft.

      »ACH DU HEILIGER BAMBUS«, riefen wir im Chor. Es gab keinen Zweifel mehr daran: Unsere Eltern waren allesamt übergeschnappt.

      »Und was machen wir jetzt?«, fragte Elli besorgt. »Wenn jemand davon erfährt, dass unsere Eltern nicht mehr alle Tassen im Schrank haben, dann landen die in der Klinik. Und wir im Kinderheim.«

      »So weit wird es nicht kommen«, sagte ich, während ich Bastis Kram einsammelte und zurück in seinen Ranzen stopfte. »Wir werden der Sache auf den Grund gehen. Nach der Mathestunde treffen wir uns wieder hier.«

      Ich schaute meine Freunde ernst an und senkte die Stimme, damit mich niemand hörte. »Vorher verliert ihr kein Wort darüber. Zu niemandem! Abgemacht?«

      Elli und Basti wippten mit den Köpfen. »Abgemacht!«

      Kapitel 4 Freiheit für alle!

      Die Schulklingel schien mal wieder zu spinnen. Kein Wunder, unsere Schule war sogar noch älter als die Stinkefüße von Ellis Opa.

      Als Elli, Basti und ich das Klassenzimmer der 4a betraten, herrschte dort gespenstische Stille. Selbst Konstantin saß friedlich an seinem Tisch und starrte nach vorne zum Lehrerpult.

      Wir schlichen an den Tischen vorbei und ließen uns geräuschlos auf unsere Stühle gleiten. Der Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich traute mich nicht, zu atmen. Erst als ich mir sicher war, dass wir es geschafft hatten, holte ich tief Luft. Unsere Verspätung war niemandem aufgefallen.

      Puh! Schwein gehabt! Auf Nachsitzen hatte ich nun wirklich keinen Bock. Unpünktlichkeit hasste Frau Besserdich, unsere Deutschlehrerin und gleichzeitig die Direktorin der Schule, nämlich noch mehr als süße Hundewelpen. Ich war mir sicher, in ihrem früheren Leben musste Frau Besserdich eine Hexe gewesen sein. Obwohl es unter meinen Mitschülern ziemlich oft Streit gab, schienen sich zumindest darüber doch alle einig zu sein. Sogar die anderen Lehrer machten einen großen Bogen um sie. Ganz besonders Herr Nimmerfroh, mein Religionslehrer, bekam jedes Mal Schnappatmung, wenn er ihr im Gang zufällig begegnete. Es gab Gerüchte, dass Frau Besserdich besondere Kinder, wie zum Beispiel Konstantin, in den Pausen durch ein Fernglas beobachtete und über ihr Verhalten Protokoll führte. Aber auch sonst entging Frau Besserdichs Adleraugen nichts und niemand. Deshalb wunderte es mich auch, dass sie uns heute keinerlei Beachtung schenkte.

      Mit weit aufgerissenen Augen stand sie neben der Tafel, die Arme hingen schlaff an ihrem zerknitterten Blümchenkleid hinunter. Der rote Lippenstift, den sie normalerweise peinlich genau nach jeder Stunde nachzog, war verschmiert und sah jetzt aus wie eine traurige Grimasse. Dieser Clownsmund in Kombination mit dem starren Blick jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken.

      Creepy! DAS war der Stoff, aus dem Horrorfilme gemacht wurden.

      »Was ist denn mit der los?«, flüsterte ich meinem Tischnachbarn zu.

      »Sie ist schon die ganze Zeit so!« Konstantin antwortete, ohne sich zu rühren. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben, und das wiederum machte mir Angst. Davon abgesehen, dass Konstantin fast doppelt so groß und doppelt so breit war wie ich (was daran lag, dass er zweimal die Klasse wiederholen musste), hatte er kein besonders sonniges Gemüt. Um es auf den Punkt zu bringen: Er war ein Fiesling. Das war spätestens sonnenklar, wenn man seine Antworten in den Freundebüchern der Erstklässler las (die er ihnen übrigens immer geklaut hat!)

      Eine ganze Weile musterte ich Frau Besserdich aufmerksam, dann wandte ich mich erneut todesmutig an meinen Tischnachbarn. »Sie blinzelt ja nicht einmal!«

      Im gleichen Moment bereute ich es auch schon, denn er rammte mir seinen Ellenbogen in den Bauch und knurrte: »Halt die Klappe! Oder willst du, dass sie durchdreht? So schaut sie nämlich immer, wenn ich etwas angestellt habe. Und glaub mir, das würdest du kleiner Popel nicht überleben.«

      Er warf mir einen vernichtenden Blick zu, bevor er seinen Kopf wieder zur Tafel drehte.

      Ich sank verunsichert tiefer in meinen Stuhl. Was sich da vor meinen Augen abspielte, war einfach völlig verrückt.

      So ruhig hatte ich meine Klasse noch nie erlebt. Obwohl Frau Besserdich nicht einen einzigen Ton von sich gab, saßen alle Schüler kerzengerade auf ihren Stühlen. Niemand dekorierte wie sonst die Tische mit Schimpfwörtern, schoss Papierkugeln umher oder klaute seinem Sitznachbarn Süßigkeiten aus dem Ranzen. Ganz im Gegenteil. Manche hatten sogar unser Deutschbuch aufgeschlagen und schienen freiwillig darin zu lesen.

      Irre!

      Unauffällig sah ich zu Basti und Elli rüber. Sie wirkten genauso verwirrt wie ich. Als Basti mit dem Finger zum hinteren Teil des Klassenzimmers deutete, riskierte ich einen schnellen Blick über die Schulter.

      Verflixt und abgestaubt!

      Die Uhr war weg!

      Anders als zu Hause bemerkte ich das sofort, denn hier drin war die Uhr überlebensnotwendig. Sie erlöste mich täglich von den Qualen des Unterrichts. Und nun war sie nicht mehr da! Was zum Kuckuck führte der Dieb im Schilde?

      Auf das Ende des Unterrichts zu warten, während man den Sekundenzeiger beobachten konnte, war schlimm. Aber im Klassenzimmer zu sitzen und nicht zu wissen, ob die Stunde überhaupt je vorbei sein würde, war unerträglich. Als wir es irgendwann alle nicht mehr aushielten und sogar die Streber ihre Bücher zugeklappt hatten, wanderten wir gemeinsam vom Deutsch- in den Matheraum.

      Dort


Скачать книгу