Maigret und der einsame Mann. Georges Simenon
»Was hat er angestellt? Sie sind von der Polizei, nicht wahr?«
Er wurde merklich misstrauisch.
»Kommissar Maigret von der Kriminalpolizei.«
Monsieur Joseph blieb unbeeindruckt.
»Suchen Sie ihn?«
»Nein. Wir haben ihn leider schon gefunden. Mit drei Kugeln in der Brust.«
»Wo ist das passiert?«
»Zu Hause … Wenn man das so nennen kann. Wissen Sie, wo er wohnte?«
»Nein.«
»Er hauste in einem abbruchreifen Haus. Ein herumstreunender Junge hat ihn dort entdeckt und die Polizei verständigt. Erkennen Sie ihn?«
»Ja … Wir nannten ihn hier nur Aristo, weil er sich immer so aristokratisch gegeben hat.«
»Kam er häufig hierher?«
»Das war ganz unterschiedlich. Manchmal tauchte er einen ganzen Monat nicht auf, und dann kam er zwei- oder dreimal in der Woche.«
»Kennen Sie seinen Namen?«
»Nein.«
»Auch nicht den Vornamen?«
»Nein.«
»Er war wohl nicht sehr gesprächig?«
»Er hat überhaupt nicht geredet. Er setzte sich in den erstbesten Lehnstuhl, ließ seine Lider sinken und alles mit sich machen. Ich selbst habe ihn gebeten, sich Schnurr- und Kinnbart wachsen zu lassen. Das wird wieder modern, und die jungen Friseure müssen lernen, wie man so einen Bart ordentlich stutzt. Das ist schwieriger, als man annimmt.«
»Wie lange ist das her?«
»Drei oder vier Monate.«
»Vorher hatte er keinen Bart?«
»Nein. Er hatte so schönes Haar. Man konnte alles Mögliche damit anstellen.«
»Kam er schon länger zu Ihnen?«
»Seit drei oder vier Jahren.«
»Ich sehe hier vor allem Clochards.«
»Ja. Sie wissen, dass ich jedem nach einem Vormittag oder Nachmittag ein Fünf-Franc-Stück zustecke.«
»Ihm auch?«
»Natürlich.«
»War er mit einigen Ihrer Stammkunden bekannt?«
»Mir ist nicht aufgefallen, dass er sich jemals mit irgendwem unterhalten hat. Und wenn man ihn ansprach, tat er so, als hätte er es nicht gehört.«
Es war fast zwölf. Die Scheren klapperten immer schneller. In einigen Minuten würden alle hinausrennen, wie in der Schule.
»Wohnen Sie hier im Viertel?«
»Ich wohne mit meiner Frau im ersten Stock, genau eine Etage höher.«
»Sind Sie ihm manchmal auf der Straße begegnet?«
»Ich glaube nicht. Und wenn doch, kann ich mich nicht daran erinnern. Würden Sie mich jetzt entschuldigen? Es ist Zeit.«
Er drückte auf einen Klingelknopf hinter einer Art Tresen, vor dem sich sofort eine Schlange bildete.
Maigret stieg langsam die Treppe hinunter. Nach all den Jahren bei der Kriminalpolizei, darunter auch jene als Bereitschaftspolizist auf den Straßen und Bahnhöfen, meinte er, die gesamte Fauna der Pariser Unterwelt zu kennen, aber er erinnerte sich nicht, jemals auf einen Mann wie diesen Aristo gestoßen zu sein.
Langsam ging er zur Straßenecke der Rue Rambuteau, an der der Wagen geparkt war. Beinahe im selben Moment tauchte Torrence dort auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Hast du etwas in Erfahrung bringen können?«
»In der Rue du Cygne habe ich die Boulangerie gefunden, wo er sein Brot gekauft hat.«
»Ging er jeden Tag dorthin?«
»Fast. Meistens am späten Vormittag.«
»Kennt ihn die Inhaberin etwas besser?«
»Nein. Er hat den Mund nur aufgemacht, um eine Bestellung aufzugeben.«
»Hat er sonst nichts eingekauft?«
»Dort nicht, aber in der Rue Coquillière. Aufschnitt oder eine Wurst … An der Straßenecke gibt es einen Stand, an dem Pommes frites und nachts Bratwürstchen verkauft werden. Manchmal ging er sich gegen drei Uhr morgens welche holen.
Ich habe die Fotos auch in zwei oder drei Bistros herumgezeigt. Er ist hin und wieder vorbeigekommen, um einen Kaffee zu trinken. Wein oder Schnaps hat er nicht angerührt.«
Das Bild, das der Unbekannte hinterließ, wurde immer merkwürdiger. Aristo, wie Monsieur Joseph ihn nannte, schien keinen Kontakt mit anderen Menschen gepflegt zu haben. Scheinbar ließ er sich nachts in den Markthallen anheuern, um Obst- oder Gemüsekisten abzuladen.
»Ich muss im Gerichtsmedizinischen Institut anrufen«, sagte der Kommissar.
Was ihm die Gelegenheit bot, sein zweites Glas Bier an diesem Morgen zu trinken.
»Verbinden Sie mich bitte mit Doktor Lagodinec.«
»Einen Augenblick, ich muss ihn zurückrufen. Er geht gerade zur Tür.«
»Hallo? Lagodinec? Maigret hier … Ich vermute, Sie sind noch nicht dazu gekommen, die Obduktion vorzunehmen?«
»Ich fange gleich heute Nachmittag damit an.«
»Würden Sie dabei bitte auf das Gesicht achtgeben? Ich brauche noch ein paar Fotos.«
»Kein Problem. Wann schicken Sie den Fotografen?«
»Gleich morgen früh, zusammen mit einem Friseurschüler.«
»Und wozu?«
»Er soll Schnurr- und Kinnbart abnehmen.«
Torrence setzte ihn vor seiner Wohnung am Boulevard Richard-Lenoir ab.
»Soll ich heute Nachmittag weitermachen?«, fragte er.
»Ja.«
»Im selben Viertel?«
»Gehen Sie doch auch zu den Quais. Vielleicht hat er eine Weile dort übernachtet.«
Madame Maigret spürte gleich, dass ihn etwas beschäftigte, und tat so, als merkte sie es nicht.
»Hast du Hunger?«
»Kaum.«
Aber diesmal war es ihm ein Bedürfnis, über das zu sprechen, was er am Morgen erlebt hatte.
»Ich habe es gerade mit einem Menschen zu tun, der nicht ungewöhnlicher sein könnte.«
»Mit einem Verbrecher?«
»Nein, einem Opfer. Der Mann ist tot … Er hat in einem verlassenen Haus gelebt, das schon seit Jahren abgerissen werden soll. In einem einigermaßen bewohnbaren Zimmer. Dort hat er haufenweise seltsamen Krempel angehäuft. Er muss all die Dinge in Mülltonnen oder auf verwilderten Grundstücken gefunden haben.«
»Ein Clochard also.«
»Nur sah er aus wie ein vornehmer Mann.«
Er erzählte von der Friseurschule und zeigte seiner Frau die Fotos.
»Natürlich ist es schwer, sich anhand des Fotos von einer Leiche ein Urteil zu bilden …«
»In seinem Viertel wird man ihn doch gekannt haben.«
»Niemand kennt seinen Namen, nicht einmal seinen Vornamen. In der Friseurschule nannte man ihn Aristo. Die Fotos erscheinen am Nachmittag in der Zeitung. Vielleicht erkennt ihn ja ein Leser.«
Wie angekündigt, aß er ohne Appetit. Es gefiel ihm nicht, vor einem Rätsel zu stehen,