Trotzdem: Was uns zusammenhält. Группа авторов
werden? Ist das Wiedererstarken des Willens zu konstruktiver Zusammenarbeit unter den demokratischen Parteien hierzulande einigermaßen stabil oder werden populistische und extremistische politische Kräfte sehr bald neuen Honig aus einer länger anhaltenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise saugen?
Alles spricht jedenfalls dafür, dass die in diesem Band beschriebenen Spaltungen und Herausforderungen von der Pandemie nicht unberührt bleiben, sondern eher noch verstärkt werden. Trotzdem, wie es im Titel unseres Bandes heißt: Aus den Beiträgen dieses Buches ist keine weinerliche Klageschrift, sondern ein zuversichtliches Dokument geworden. Wir müssen die Herausforderungen für unser Land nüchtern erkennen, entschlossen handeln – und die gefährlichen Spaltungen unserer Gesellschaft überwinden.
Die Deutsche Nationalstiftung legt erstmals diese Berichte zur Lage der Nation vor – in der Hoffnung, damit eine gute Tradition zu begründen, vergleichbar mit der jährlichen Verleihung des Deutschen Nationalpreises seit zweieinhalb Jahrzehnten. Mit beidem wollen wir mitwirken an dem, was wir als Vermächtnis von Helmut Schmidt, dem Gründer unserer Stiftung, betrachten und als Verantwortung unserer Generation: das Zusammenwachsen Deutschlands zu fördern und die Idee der deutschen Nation als Teil eines vereinten, freiheitlichen Europas zu stärken.
Mit Blick auf die Vielfalt von Meinungen zu einer gendergerechten Sprache haben die Herausgeber auf die Vorgabe einheitlicher Richtlinien verzichtet. Die Texte spiegeln auch insofern das individuelle Sprachgefühl der Autorinnen und Autoren wider.
Zusammenhalt und Spaltung in der deutschen Geschichte
Von Heinrich August Winkler
Vom Alten Reich zum deutschen Föderalismus
Zu jeder Nationalgeschichte gibt es bestimmte Grundtatsachen. Die ältere deutsche Nationalgeschichte ist durch drei solcher Grundtatsachen geprägt: erstens das Reich, das den Zusammenhalt der Deutschen verbürgen sollte und über Jahrhunderte hinweg verbürgte; zweitens die Glaubensspaltung im 16. Jahrhundert, die im Jahrhundert darauf im Dreißigjährigen Krieg, der Urkatastrophe der deutschen Geschichte, kulminierte; drittens den Dualismus zwischen Österreich und Preußen, der mit der konfessionellen Spaltung eng verbunden war und entscheidend dazu beitrug, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation sich 1806 unter dem Druck Napoleons auflöste.
Das mittelalterliche Reich sah sich selbst als den einzigen wahren Erben des Imperium Romanum, als Schutzmacht der Christenheit und als Träger des heilsgeschichtlichen Auftrags, die Herrschaft des Antichrist aufzuhalten. Das Reich wollte mehr repräsentieren als eine Nation unter anderen und rief damit den Widerspruch der westlichen Königreiche Frankreich und England hervor, die sich seit dem hohen Mittelalter in Nationalstaaten zu verwandeln begannen.
In Deutschland erfolgte die Staatsbildung im landesherrlichen, nicht im nationalen Rahmen: eine Entwicklung, die mit der Schwächung von Reich und Kaisertum und damit des Zusammenhalts der Deutschen einherging und im deutschen Föderalismus bis heute fortwirkt.
In Deutschland hingegen erfolgte die Staatsbildung im landesherrlichen, nicht im nationalen Rahmen: eine Entwicklung, die mit der Schwächung von Reich und Kaisertum und damit des Zusammenhalts der Deutschen einherging und im deutschen Föderalismus bis heute fortwirkt.
Die Reformation des 16. Jahrhunderts war in Deutschland, wie der Universalhistoriker Eugen Rosenstock-Huessy in seinem Buch über die europäischen Revolutionen schreibt, politisch betrachtet eine Fürstenrevolution, angetrieben von dem Wunsch der Landesherren, »Papst im eigenen Lande« und damit souverän zu werden.1 Der große Zusammenstoß zwischen den Anhängern des alten und des neuen Glaubens, der 1555 im Augsburger Religionsfrieden noch einmal verhindert werden konnte, nahm über sechs Jahrzehnte später die Form eines großen europäischen Krieges an, der vorwiegend auf deutschem Boden ausgefochten wurde. In der kollektiven Erinnerung der Deutschen lebte der Dreißigjährige Krieg als die nationale Katastrophe schlechthin fort. Erst die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und namentlich der Zweite haben ihm diesen Rang streitig gemacht.
Die innenpolitischen Gewinner des großen Mordens waren die Reichsstände. Infolge des Westfälischen Friedens von 1648 konnten sie den entscheidenden Schritt zur Erlangung der vollen Souveränität tun. Unter den Reichsständen war das katholische Österreich der mächtigste. Aus seiner Dynastie, dem Hause Habsburg, gingen seit 1438 ununterbrochen die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hervor. Zu ihrem einflussreichsten Widersacher stieg seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Brandenburg-Preußen unter der Herrschaft des Hauses Hohenzollern auf. Unter Friedrich dem Großen, dem zweiten der Hohenzollernkönige, nahm der Gegensatz zwischen Preußen und Österreich über Jahre hinweg kriegerische Formen an.
Auf deutschem Boden gab es fortan zwei Großmächte. Das Reich wurde darüber mehr und mehr zu einer bloßen Fassade. Als Kaiser Franz II. am 6. August 1806 unter dem Eindruck eines Ultimatums des Kaisers der Franzosen die römisch-deutsche Kaiserwürde niederlegte und damit das Heilige Römische Reich Deutscher Nation auflöste, war die Zahl derer, die diesen Schritt bedauerten, nicht allzu groß.
Neun Jahre später, im Juni 1815 – Napoleon war inzwischen endgültig geschlagen – trat an die Stelle des untergegangenen Alten Reiches ein staatenbundartiges Gebilde, das für ein Mindestmaß an organisatorischem Zusammenhalt in Deutschland sorgen sollte: der Deutsche Bund. Seine Mitglieder waren neben den Freien Städten alle souveränen Fürsten Deutschlands, darunter der Kaiser von Österreich und der König von Preußen. Ob es dem Deutschen Bund gelingen würde, eine Antwort auf die seit 1806 offene »deutsche Frage« zu geben, darüber entschieden in erster Linie die beiden deutschen Großmächte, die Präsidialmacht Österreich und das Königreich Preußen. Von erheblicher Bedeutung war sodann, ob die größeren Mittelstaaten, die Königreiche Bayern, Württemberg, Sachsen und Hannover, ihr Gewicht gemeinsam in die Waagschale werfen würden, um gegebenenfalls zwischen Wien und Berlin zu vermitteln. Und schließlich hing vieles davon ab, wie sich der Deutsche Bund zum populären Streben nach Freiheit und Einheit stellen würde.
Seit dem Mai 1848 standen die Themen Einheit und Freiheit auf der Tagesordnung. Bei Freiheit ging es vor allem um die feste Etablierung des Rechts- und Verfassungsstaates. Die Frage der Einheit hingegen war mit dem Problem verbunden, wo Deutschland lag, wo seine Grenzen verliefen, was dazugehörte und was nicht.
Was das letztgenannte Problem betraf, gab es spätestens seit den Karlsbader Beschlüssen von August und September 1819 keinen Zweifel mehr: Die Antwort auf alles, was »liberal« oder gar »revolutionär« klang, hieß schärfste Unterdrückung. Knapp drei Jahrzehnte später aber, im Frühjahr 1848, versagte die Repression. Der Pariser Februarrevolution folgten die deutschen Märzrevolutionen. Seit dem Mai 1848 standen die Themen Einheit und Freiheit auf der Tagesordnung des ersten freigewählten gesamtdeutschen Parlaments, der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Was unter Freiheit zu verstehen war, ließ sich vergleichsweise leicht beantworten: Es ging vor allem um die Sicherung der Bürgerrechte, um die feste Etablierung des Rechts- und Verfassungsstaates, um das Verhältnis von Volksvertretung und Regierung. Die Frage der Einheit hingegen war mit dem Problem verbunden, wo Deutschland lag, wo seine Grenzen verliefen, was dazu gehörte und was nicht.
Großdeutsch oder kleindeutsch?
Für die Abgeordneten der Deutschen Nationalversammlung gab es zunächst keinen Zweifel daran, dass Österreich auch künftig einen Teil Deutschlands bilden sollte und zwar möglichst nicht nur das deutschsprachige Österreich, sondern auch Böhmen und Mähren, die zum Alten Reich gehört hatten und einen Teil des Deutschen Bundes bildeten, desgleichen »Welschtirol« um Trient und das Gebiet um Triest, für die dasselbe galt.
Bis Ende 1848 machten sich die meisten Parlamentarier nicht klar, was die von ihnen erstrebte »großdeutsche Lösung«, die Einheit mit Österreich, praktisch bedeutet hätte. Die Errichtung eines großdeutschen Nationalstaates war unvereinbar mit dem Fortbestehen des habsburgischen Vielvölkerreiches. Sich diesem Ansinnen zu beugen waren die Regierenden in Wien nicht bereit – erst recht nicht, nachdem im Oktober 1848 in Österreich die Konterrevolution gesiegt hatte. Sie dachten auch nicht daran, auf den Kompromissvorschlag