Glashütte. Peter Vogler
welche die Gelegenheit eines guten Buffets nutzten, Präsenz zu zeigen. Ein paar wenige Abteilungsleiter, treue Vasallen teils von Klein teils von Sichrovsky und schließlich zwei nett anzusehende junge Damen, die Getränketabletts durch den Raum tragen sollten, sobald das Buffet eröffnet war.
Soweit also der Kreis des Laienensembles im Stück „Verabschiedung des Vorstandsvorsitzenden“.
Kommen wir nun zur Veranstaltung selbst. Oder vielleicht noch ein bisschen davor. Um 14:45 Uhr – der Beginn der Feierstunde war mit 15:00 Uhr angesetzt – betrat Barbara Richter das Zimmer von Dr. Klein. Ohne anzuklopfen, das war eines ihrer Privilegien. Der Herr Generaldirektor schien in irgendwelche Unterlagen vertieft, aber Richter wusste, dass es sich nur um unwesentliche Papiere handelte. Immerhin hatte sie ihm diese selbst am Vormittag auf den Schreibtisch gelegt.
„Herr Doktor, wollen Sie sich nicht noch ein wenig entspannen? Ihre Verabschiedungsfeier beginnt in einer Viertelstunde, die ersten Gäste werden bald erscheinen.“
Klein zuckte zusammen als hätte ihn eine Ohrfeige getroffen. Seine Gesichtsfarbe, normalerweise ohnehin von der Tönung eines ausgebleichten Pergaments, tendierte heute zum Aussehen von gelblichem Altpapier. Nicht nur farblich, auch von den Knittern her.
„Ist es schon so weit?“ Trotz aller Bemühung um Contenance war ein leicht weinerlicher Unterton nicht zu überhören.
„Darf ich Sie etwas fragen, Frau Richter? Ich meine, etwas Persönliches.“
„Natürlich, Herr Doktor! Ich weiß nur nicht im Vorhinein, ob ich darauf antworten kann.“
„Wie war ich als Chef? Haben Sie mich geschätzt? Haben Sie zu mir aufblicken können?“
Barbara Richter musste sich ein Lachen verbeißen. Mit ihrer Größe von 175 cm hatte sie auf den 165 cm kurzen Klein immer herabgesehen. Und Führungspersönlichkeit war er nie gewesen. Wenn sie es recht bedachte, hatte viele Entscheidungen eigentlich sie selbst vorbereitet oder in Wirklichkeit getroffen. Eigentlich ein Wunder, dass Klein‘s Halswirbelsäule vom vielen Abnicken keinen ernsten Schaden genommen hatte.
„Ich habe es gut getroffen“, lautete ihre diplomatische Antwort, mit der sich Dr. Klein zufrieden gab.
Wieder wurde die Tür ohne Anklopfen geöffnet. Sehr zum Missfallen von Frau Richter. Kein Mensch hat heute mehr Manieren! Alfons Aichberger, Aufsichtsratsvorsitzender und im Hauptberuf Finanzstadtrat betrat das Zimmer. Oder war sein Hauptberuf Politiker? Rechnen war nämlich in den acht Jahren seiner Schulbildung nicht gerade sein Favorit gewesen. Aber dafür hatte er ja jetzt seine Beamten. Gut, also halten wir abseits von der Berufsfrage fest, Aichberger war Aufsichtsratsvorsitzender, Politiker und Stadtrat für Finanzen in der Bundeshauptstadt Wien. Zustand, seine Tätigkeiten – oder auch was er vielleicht hätte tun sollen, es aber aus welchen Gründen auch immer unterließ – interessieren uns im Moment nicht.
„Servas Ferdl!“, röhrte er mit seiner kräftigen, wahlredenerprobten Stimme. „Host scho nochdenkt, wos’d in Zukunft mit deiner reichlichen Togesfreizeit mochen wirst?“
Nichts mit Entspannung, dachte Frau Richter beim Anblick des sich deutlich verkrampfenden Klein. Vor allem, weil sie schon vor längerer Zeit die Frau ihres Chefs kennengelernt hatte. Eine füllige Matrone, einen Kopf größer als ihr Mann und ihm gegenüber genauso dominierend wie das Verhältnis der beiden in Größe und Gewicht. Die Verwendung seiner Tagesfreizeit würde der Entscheidung des armen Ferdinand zweifellos entzogen werden.
Aichberger wartete keine Antwort ab und ignorierte die messerscharfen Blicke des Dr. Klein. Was heißt messerscharf, diese Blicke hatten schon die Qualität eines atomaren Erstschlages!
„Frau Richter, der gute Geist und die Seele dieses Ladens hier! Küss die Hand!“, wandte sich Aichberger der Sekretärin zu. „Sie bleiben uns ja erhalten! Ham sich mit ihrem neuen Chef scho vertraut gmocht? In allen Ehren, natürlich! Ah, do kummt er jo.“
Barbara Richter war froh, nicht antworten zu müssen. Dr. Klein und sie hatten unterschiedliche Gründe, aber sie waren einer Meinung, dass Aichberger ein widerlicher Kerl war.
Kurt Sichrovsky betrat soeben den Raum und lenkte damit Aichbergers Aufmerksamkeit auf sich.
„Kurtl, no wie fühlt ma si so am Sprung vom ersten Bootsmann zum Käpt’n? Blosen host jo imma scho gnua, wird do jetzt a a frischer Wind wahn?“. Mit seinem röhrenden Lachen begleitete Aichberger den in seinen Augen grandiosen Scherz. Dass niemand mitlachte entging ihm entweder oder es war ihm egal. Wurscht, wie man in Wien so sagt. Herzlich wurscht!
Auf ein Klopfen an der Tür öffnete Barbara Richter, zwei junge Damen in adretter Serviererinnen Adjustierung schoben zwei fahrbare Tische mit Brötchentabletts und Getränken herein.
Es fehlten nur mehr wenige Minuten bis 15:00 Uhr. Dr. Klein schloss resigniert die Mappe mit den ohnehin unwichtigen Papieren, deren Inhalt er sowieso schon vergessen oder erst gar nicht geistig aufgenommen hatte. Aichberger betrachtete angelegentlich das Buffet und bot alles an Selbstbeherrschung auf, sich nicht schon jetzt ein Brötchen in den Mund zu schieben. Barbara Richter nahm ihrem Noch-Chef die Mappe ab, verließ den Raum und ging zu ihrem Schreibtisch, in dem sie das Geschenk für Dr. Klein verwahrt hatte. Versonnen öffnete sie die würfelförmige Holzkassette. Aichberger und Sichrovsky hatten sich – selbstverständlich auf Kosten der Amicus AG – nicht lumpen und eine außergewöhnliche Uhr für den zukünftigen Pensionisten einkaufen lassen. Die massiv goldene „Senator“ aus der berühmten Uhrenfabrik Glashütte trug die Produktionsnummer 0047 und lag dekorativ um ein kleines Polster in der Holzkassette. Samt Echtheitszertifikat, wie es sich für ein solch wertvolles Stück schon gehört.
„Lassen Sie mich das gute Stück mal näher anschauen!“
Barbara Richter schrak zusammen. Von ihr unbemerkt war ihr Sichrovsky gefolgt und stand nun hinter ihr. Kommentarlos hob sie die Holzkassette in seine Richtung, aber so genau schien die Uhr Sichrovsky doch nicht zu interessieren.
„Was halten Sie von unserem hochgeschätzten Aufsichtsratsvorsitzenden? Mit dem werden wir noch viel Freude haben!“
„Wenn, dann Sie, Herr Sichrovsky“, versuchte Barbara Richter dieser Situation zu entkommen. „Ich bin da nur ein kleines Rädchen im Getriebe.“
„Frau Richter, ich bitte Sie! Stellen Sie ihr Licht nicht so unter den Scheffel! Ich bin absoluter Anhänger des Teamgedankens und wir beide werden ein gutes Team bilden, davon bin ich überzeugt. Jeder in seiner Rolle!“. Ein Kommunikationsberater hätte Sichrovsky sagen können, dass es ihm grandios gelungen war, mit dem letzten kurzen Satz aus vier Worten alles vorher vielleicht positiv Gemeinte zu zertrümmern. Aber sein Selbstbewusstsein war von jeher mit einer gewissen Beratungsresistenz Hand in Hand gegangen.
„Wissen Sie was, wir werden dem famosen Herrn Aichberger einen kleinen Streich spielen. Nehmen Sie die Uhr heraus und nehmen Sie nur die leere Kassette mit hinein. Wollen wir doch schauen, wie er bei der Übergabe reagiert, wenn die Kassette leer ist!“
„Aber …“
„Nichts da, machen Sie nur, wir müssen sowieso hinein. Es beginnt gleich.“
Barbara Richter war nicht leicht zu schockieren, jetzt war es fast so weit. Sie hielt Sichrovskys Idee für einen ausgemachten Unsinn. Aber jetzt schon deswegen einen Konflikt anzetteln?
Offen wollte sie die wertvolle Uhr nicht herumliegen lassen, also nahm sie vom Altpapierkorb ein großes Kuvert, steckte die Uhr hinein und legte das Kuvert wieder zurück. In den Altpapierkorb. Immerhin drängte die Zeit, Sichrovsky verschwand soeben im Zimmer des Generaldirektors und Barbara Richter bemühte sich, nicht zurückzubleiben.
Eine der Servierdamen hatte, wie es ihr aufgetragen worden war, die auf den Gang führende Türe des Allerheiligsten, also des Zimmers des Vorstandsvorsitzenden geöffnet und den Hinweisständer auf diese wichtige Veranstaltung aufgestellt. Diesem Hinweis folgend waren inzwischen mehrere honorige Herren am Ort der Feier eingetroffen. Aus unterschiedlichen Motiven. Zwei Mitglieder des Aufsichtsrates, die sich das Buffet nicht entgehen lassen wollten. Vier Abteilungsleiter. Einer davon, weil er Dr. Klein wirklich