Glashütte. Peter Vogler
Ihnen allein sprechen“, verschwand Weiss und wenig später kam Sichrovsky aus dem Generaldirektorzimmer in das Sekretariat und überschüttete, ebenfalls grußlos, den hierher Zitierten mit seiner Geschichte.
Unangenehme Situation, das Abschiedsgeschenk für Dr. Klein sei verschwunden, Frau Richter übrigens auch. Die Sache solle in Absprache mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden diskret untersucht und nach Möglichkeit das Abschiedsgeschenk wiedergefunden werden. Frau Richter übrigens auch. Ach ja, es handle sich um eine wertvolle Uhr der Marke Glashütte, die Rechnung und das Echtheitszertifikät liegen ja noch da auf Frau Richters Schreibtisch, die Schatulle dazu habe Dr. Klein symbolisch für die Uhr bekommen. Und, bitte, keine Polizei! Sollte sich die Uhr nicht wieder finden lassen sei abgesprochen, dass sie von der Amicus AG ersetzt werde.
Geneigter Leser! Dieser Roman spielt in Wien und es scheint daher angebracht, einen kurzen Ausflug in die wienerische Sprachlehre zu machen. In der Wiener Umgangssprache gibt es die Vorsilbe Scheiß-, die nicht unbedingt ordinär ist. Ja gut, manchmal schon. Sie drückt aus, dass das beigefügte Wort zwar eine grundsätzliche Bedeutung hat, aber eher das Gegenteil wahr ist. Im „Wörterbuch des Wiener Dialekts“ von Julius Jakob (herausgegeben – und das möge man sich auf der Zunge zergehen lassen – in der Editrice „Casa del Libro“ des Dott. Gustavo Brenner, Cosenza1961. Für Leser, deren Geographieunterricht schon länger zurückliegt: Cosenza liegt in Kalabrien, also relativ weit weg von Wien.) werden übrigens ganze 15 Worte mit dieser Vorsilbe angeführt. Mag für 1961 stimmen, inzwischen sind es gefühlt mindestens doppelt so viele.
Ist also beispielsweise jemandem etwas scheißegal so ist dies mitnichten unbedeutend. Sonst würde derjenige einfach sagen „Das ist mir egal“.
Ein anderer, geradezu klassischer Ausdruck ist, jemand ist scheißfreundlich. In vorher erwähntem Wörterbuch liest man dazu:
„scheißfreundlich – überfreundlich, oft in Verbindung mit Falschheit“
Ein anderes wichtiges Wort aus der Wiener Umgangssprache im Zusammenhang mit der Erzählung der aktuellen Gegebenheiten ist „Krätzn“. Abgeleitet von der Krätze, also einer unangenehmen und durchaus verzichtbaren Hautkrankheit bezeichnet es in Wien einen unangenehmen Menschen. Eben unangenehm wie die Krätze.
Ende des sprachlichen Exkurses
Sichrovsky erläuterte also Peter Sagmeister die Situation, der sich sofort dachte:
„Die Krätzn ist scheißfreundlich!“
Ostösterreicher werden das verstehen, für andere: „Der Ungustl macht auf liebenswert!“
Für unsere deutschen Freunde: „Dieser schlimme Mensch heuchelt ja nur!“
Auf die Übersetzungen bei den internationalen Ausgaben dieses Romans ist der Autor schon gespannt.
Für Peter Sagmeister war also klar, dass da etwas faul an der Sache war. Wenn Sichrovsky sich so freundlich gab – was seinem Wesen diametral widersprach – war anzunehmen, dass er selbst in irgendeiner Form am Problem beteiligt war. Ihn zu fragen in welcher Art war aber sicher sinnlos. Der erste Ansatz war wohl, Barbara Richter zu finden. Sagmeister konnte sich nicht vorstellen, dass sie die Uhr gestohlen hatte und sich auf der Flucht befand. Dazu kannte er diese immer korrekte Frau zu gut. Aber wo war sie?
Sichrovsky hatte ihn längst stehen gelassen und sich wieder in die Feier integriert. Nun gut, es war fast 17:00 Uhr, bei näherer Überlegung war heute ohnehin nichts mehr auszurichten. Der beste Zeitpunkt, seine Freunde beim Heurigen zu treffen.
Obwohl, der Abend war ihm irgendwie verdorben und auch seinen Freunden fiel auf, dass Peter erstens eher schweigsam war und sich noch dazu auch relativ früh verabschiedete. Anlass für ausgedehnte Spekulationen, wer wohl die neue Freundin sein mochte und wann man sie kennenlernen würde.
Als Peter Sagmeister seine Wohnungstüre aufsperrte saß dahinter sein langhaariger Kater Julio. Rassekater, Britisch-Kurzhaar. Nun ja, da war ein bisschen Zuchtfehler dabei, die langen Haare waren in der Rasse, Kurzhaar eben, nicht so richtig vorgesehen. Da aber bei der Zucht wegen der Fellqualität immer wieder mal Perser eingekreuzt werden schlägt halt gelegentlich der Perser durch. Was Peter aber egal war, auf Ausstellungen und zu Wettbewerben wollte er mit Julio sowieso nicht gehen, für ihn war Julio ein angenehmer Hausgenosse und oft auch guter Zuhörer, wenn Peter über irgendwelche Probleme sinnierte.
Heute, im Moment, aber nicht. Julio maunzte empört und sein Blick hätte eine Maus oder sonstiges Beutetier zur sofortigen bedingungslosen Aufgabe, wenn nicht Selbsttötung veranlasst. Mist, über die ganze Glashütten-Uhren-Richter-Geschichte hatte Peter vergessen, am Weg zum Heurigen kurze Station zu Hause zu Julios Abendfütterung zu machen.
Zwanzig Minuten später war der Friede wiederhergestellt. Julio lag eingeringelt neben Peter auf der Couch, der ihm, einen letzten Gespritzten vor sich, von der verschwundenen Uhr und den Begleitumständen erzählte. Vom CD-Player her klang die erste Symphonie von Gustav Mahler. Klassische Musik war ein fester Teil des Abendrituals Peter Sagmeisters.
Ob das Schnurren des Katers in irgendeinem Zusammenhang mit der Erzählung stand kann nicht sicher beantwortet werden. Vermutlich lassen sich aber seine Gedankengänge in etwa so zusammenfassen: ‚Ein wenig vergesslich war er ja schon immer wieder einmal, aber wenigstens lässt er mich nicht wirklich verhungern. Geschmeckt hat es heute auch wieder. Und offenbar hat er wieder irgendwelche Probleme, na hören wir es uns einmal an.‘
Sichrovsky beendete seinen Tag in Zufriedenheit und auch Peter Sagmeister fand den Tagesabschluss angenehm. Der Heurigenbesuch mit seinen Freunden war zwar weniger positiv verlaufen, aber im Zwiegespräch mit Kater Julio hatte er über die verschwundene Uhr, die an der Sache Beteiligten und seine nächsten Schritte einiges mehr an Klarheit gewonnen.
3
Barbara Richter hetzte durch die Straßen der Stadt. „Flucht“, war ihr erster Gedanke gewesen, als sie bemerkt hatte, dass die Uhr weg war. Sie hatte ihre Jacke geschnappt und war an dem erstaunten Portier vorbei aus dem Haus gestürmt. Warum hatte sie sich nur auf den idiotischen Vorschlag dieses aufgeblasenen Dummkopfes Sichrovsky eingelassen?
Unversehens fand sie sich im Stadtpark wieder. Die Bäume erstrahlten im hellen Grün des Spätfrühlings, die Enten auf dem Teich schwammen ihre Runden oder saßen am Ufer und putzten ihr Gefieder. Ah, herrlich könnte so ein Frühlingstag sein!
Wenig passend zu dieser Idylle zitterten Barbara die Knie und ehe sie völlig zusammenbrach ließ sie sich auf einer der Bänke nieder, die aufgereiht am Rand des Weges standen.
„So ein Verbrecher!“, murmelte sie vor sich hin. „Weiß der überhaupt, was er tut? Mein Leben war bisher so interessant und angenehm, jetzt ist alles zerstört!“
Jetzt bahnten sich auch die Tränen ihren Weg, Barbara Richter saß vom Weinen geschüttelt und vor sich hin murmelnd auf der Bank.
Eindeutiger Fall für das goldene Wienerherz!
Zwei ältere Damen von der Nachbarbank wechselten zu Barbara, eine links, eine rechts von ihr.
„Was ist denn, Kinderl? Hat er dich verlassen?“ Die Eine.
„Oder hast du was verloren? No wird sich schon wieder finden!“ Die Andere.
Begleitet von einem Weinkrampf begann Barbara zu erzählen. Also gut, erzählen kann man es nicht nennen, es waren mehr einzelne Worte, bestenfalls unvollständige Sätze. Und so richtig kam die Erzählung auch nicht an. Einerseits, weil ihre Stimme durch das Weinen ein wenig an Deutlichkeit verloren hatte und andrerseits, weil die beiden alten Damen nicht mehr ganz über die Hörfähigkeit der Jugend verfügten. Überdies waren auch noch ein älteres Ehepaar und eine junge Mutter mit Kinderwagen stehengeblieben und beteiligten sich an dem Beratungsgespräch mitfühlender Mitmenschen. Ohne dass irgendwer auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte, worum es geht.
Trotzdem waren einige Worte verständlich gewesen. „Verbrechen“ war da gefallen, „es ist alles meine Schuld“ und „damit kann ich nicht leben“. Genug für die junge Mutter, ihr Handy zu zücken und den Polizeinotruf zu wählen.
Alsbald