Schloss Frydenholm. Hans Scherfig
Olsens Gefängnisblässe war plötzlich verschwunden. Seine Wangen bekamen Farbe. „Ich verlange, sofort freigelassen zu werden! Ich habe hier drei Wochen unschuldig gesessen! Ich habe ja von Anfang an gesagt, daß ich unschuldig bin! Kann man einen Menschen so behandeln? Gibt es Recht und Gesetz hier im Lande? Ich werde an meinem Arbeitsplatz vor den Augen meines Chefs verhaftet und als Mörder ins Gefängnis geschleppt! Ich verlange Schadenersatz! Ich will das hier bezahlt haben! Für unverschuldete Untersuchungshaft und verlorengegangenen Verdienst! Und Schmerzensgeld! Ich muß sofort mit meinem Verteidiger sprechen!“ Der Kommissar lächelte wohlwollend. „Selbstverständlich dürfen Sie mit Ihrem Verteidiger sprechen, Olsen. Das Recht dazu hatten Sie übrigens die ganze Zeit über. Und jetzt dürfen Sie ja sprechen, mit wem Sic wollen. Ja, ob Sie nun Schadenersatz bekommen? Kann sein. Davon verstehe ich nichts, das muß der Verteidiger wissen. Damit habe ich nichts zu tun. Aber – könnte die Polizei nicht der Meinung sein, daß Ihre Verhaftung gar nicht so ganz unberechtigt war? Es gibt da doch verschiedene Dinge, Olsen, die nicht ganz in Ordnung sind, nicht wahr? Das reicht doch für mehr als nur für diese drei Wochen?“
Olsen antwortete nicht. Er hatte wieder sein beleidigtes Lächeln aufgesetzt. Natürlich! Wenn man ihm etwas anhängen wollte, konnte man immer etwas finden. Er hatte viele Eisen im Feuer gehabt.
„Wir haben hier einen häßlichen Stapel Papiere.“ Kommissar Horsens klopfte auf einen dicken rosa Aktendeckel, der auf seinem Schreibtisch lag. „Hier ist sowohl Altes als auch Neues. Ich habe, ehrlich gesagt, Angst, daß eine Menge Sachen dabei sind, die sich Kommissar Odense gern ein bißchen näher angucken würde. Glauben Sie das nicht auch, Olsen?“
Olsen lächelte bitter.
„Aber ich gehöre nicht zu denen, die Ihnen Böses wollen, Olsen. Meiner ganz privaten Meinung nach können Sie gut und gern als freier Mann von hier weggehen, wenn wir uns ausgesprochen haben. Aber wollen wir nicht erst ein Täßchen Kaffee trinken, Olsen? Ich habe furchtbaren Kaffeedurst. Was meinen Sie?“
Unter diesen Umständen wagte Olsen, den Polizeikaffee zu trinken, und Kommissar Horsens bestellte in der Kantine telefonisch Kranzkuchen und Kaffee.
„Ich finde, so ein Tröpfchen Kaffee tut gut an so einem kalten Tag“, sagte er in seinem herzlichen, jütischen Dialekt. Olsen nickte, denn er wußte, daß der Kaffee der Polizei stark und gut war.
Der Kaffee kam, und Olsen konnte auch den Kuchen essen, ohne durch zudringliche Fragen gestört zu werden.
„Eine Zigarre, Olsen?“
„Danke.“
„Hier ist Feuer! Sie haben wohl keine Streichhölzer bei sich? Behalten Sie die Schachtel nur.“
„Danke“, sagte Olsen wieder und fühlte sich recht wohl als freier Bürger, der das Recht hat, eigene Streichhölzer zu besitzen.
„Ja, Olsen, hier liegen also Ihre Papiere! Man hat viel über Sie niedergeschrieben, Olsen. Viel zuviel. Sie sind wirklich ein böser Bube gewesen!“ Kommissar Horsens blätterte betrübt in den Akten.
„Sie haben ordentliche Eltern gehabt, Olsen.“
„Wie man es nimmt.“
„Ein gutes Zuhause, bescheiden, aber sauber und geborgen. Fleißige, ehrenhafte Eltern“, fuhr der Kommissar nicht ohne Bewegung fort. Es sah wirklich so aus, als würden seine Augen feucht. „Sie haben Ihren lieben Eltern viel Kummer gemacht. Ihre Mutter hat häufig um Sie geweint.“ „Davon weiß ich nichts“, sagte Olsen. „Sie war sehr zänkisch. Sie verprügelte mich oft.“
Kommissar Horsens blätterte unbeirrt weiter.
„Viel zu viele Vorstrafen, Olsen!“ Er schob die Brille auf die Nasenspitze und hielt das Papier von sich weg. „Schon 1928, warten Sie . . . Bestraft vom Stadtgericht Kopenhagen am 21. 11. nach Paragraph 285, Absatz I des Strafgesetzbuches, vergleiche Paragraph 279 . . . Und dann schon wieder 1930: Paragraph 285, Absatz I, vergleiche Paragraph 278, Nummer 3, vergleiche zum Teil Paragraph 89 des Strafgesetzbuches . . . und wieder 1932 beim Amtsgericht Frederiksberg: Paragraph 285, Absatz I, vergleiche Paragraph 276 . . . Und 1935 wieder beim Amtsgericht Nord: Paragraph 285 Absatz I, vergleiche Paragraph 279 und zum Teil Paragraph . . . Ja, das ist viel. Mal sehen, Olsen, wann wurden Sie denn . . . Hier ist es ja. Das letzte Mal wurden Sie am 19. 12. 1937 entlassen – das war ja gerade zu Weihnachten. Dann waren Sie ja Weihnachten zu Hause, Olsen!“
Es war wirklich, als tröste es den Kommissar ein wenig, daß Egon Charles Olsen das Weihnachtsfest 1937 zu Hause verlebt hatte.
„Sehen Sie, vom Staatsgefängnis schreibt man ja wirklich gut über Sie, Olsen. Eigentlich habe ich gar nicht das Recht, Sie das wissen zu lassen. Jetzt tue ich etwas Ungesetzliches. Aber Sie erzählen es ja wohl niemandem, nicht wahr? Und ich möchte Ihnen doch gerne mein Vertrauen beweisen, Olsen. Hören Sie:
19. 12. . . . Erklärung des Staatsgefängnisses . . . Fraglichem Egon Charles Olsen wird bescheinigt, normal begabt zu sein. Er scheint aber etwas schwach und charakterlos . . . Keine Anpassungsschwierigkeiten, arbeitswillig . . . Mit vertraulicher Arbeit beschäftigt . . . Führte sie zufriedenstellend aus, keine disziplinarischen Schwierigkeiten . . . Im Hinblick auf seine Rückfälligkeit wurde Egon Charles Olsen nicht zur Begnadigung empfohlen . . . Unterschrieben: F. A. Henningsen, Unterinspektor.
Sehen Sie, Olsen, wenn man an einem Menschen interessiert ist, möchte man ja gern etwas mehr über ihn wissen. Und ich will auch gern zugeben, daß ich mit Unterinspektor Henningsen über Sie gesprochen habe. Sie verstanden sich doch recht gut mit dem Unterinspektor, nicht wahr?“
„Ich glaube schon.“
„Ja, er konnte Sie wirklich gut leiden. Das darf ich Ihnen eigentlich nicht erzählen, aber es stimmt. Und über diese vertrauliche Arbeit hat er mir auch ein bißchen was erzählt. Ich freue mich, wenn man einem Menschen etwas anvertrauen kann.“
Langsam begann Olsen zu begreifen, was der Kommissar wollte.
5
Der Tempel der Polizei mit seinen Gängen und Katakomben und klassischen Peristylen lag ruhig und friedvoll. Es herrschten Ordnung und Symmetrie, edle Einfachheit und stille Größe, belebt durch verschiedene, einfallsreich und überraschend arrangierte Steinarten. Auf einem viereckigen Hof stand die grüne Statue eines nackten Mannes, der einen ganz kleinen Kopf hatte und in ein Gewirr von Nattern trat; er symbolisierte die Gerechtigkeit. Und einen runden Hof umstanden achtundachtzig schwere Säulen, die einträchtig ein Gesims mit einer Dachrinne trugen. Eine Szenerie, geeignet für die Oper, für die Freimaurer oder für allerlei Mondscheinzeremonien. Ein Tempel des Friedens, wo jedermann behutsam auftrat und wo man kein lautes Wort hörte.
Und dennoch herrschte in diesem Haus kein Frieden.
Zwischen dem Polizeipräsidenten der Hauptstadt, Baum, und dem Reichspolizeichef Rane gab es nichts als Haß und Feindschaft, deren Ursachen nur wenige kannten, deren Auswirkungen aber in allen Gängen, Peristylen und geheimen Räumen zu spüren waren. Überall wurde ein stiller, erbitterter Krieg geführt. Überall wurde intrigiert und konspiriert, überall wurden Fallen und Fußangeln gestellt. Überall wurde geflüstert, gelauscht, spioniert.
Die geheimnisvolle Abteilung D gehörte offiziell zur Kriminalpolizei der Hauptstadt, obwohl die Agenten der Abteilung auch Informationen über Leute in der Provinz sammelten. Sie selbst glaubten tadellos zu arbeiten, doch auf Veranlassung des Reichspolizeichefs war neuerdings eine konkurrierende „Sicherheitspolizei“, von den Eingeweihten kurz „Sipo“ genannt, aufgebaut worden. Und während die Abteilung D vorläufig dem herzenswarmen Jüten unterstand, hatte der Reichspolizeichef Polizeianwalt Drössaa zum Leiter der Sipo berufen. Im Zusammenhang mit dieser geheimnisvollen Neubildung war die noch geheimnisvollere Zivilorganisation oder ZO mit ihrem inneren Kreis, ihrem äußeren Kreis, ihrem Mobilkreis und mit ihren Verbindungen zu den entferntesten Häfen, Wäldern und Dünen des Landes erfunden worden.
Das merkwürdige Polizeipräsidium war mit Geheimnissen gesättigt. Gewöhnliche, unbescholtene Bürger erfuhren nie, was in den Katakomben des Hauses