Fearless. Anja Schäfer
konnte in den Worten, der liebevollen Berührung und dem Versprechen seines Vaters Vertrauen schöpfen, dass es einen Weg für ihn geben würde. In dieser Nacht schlief er endlich wieder tief und fest. Es gab noch schwierige Tage und Momente der Angst, aber der Tunnel lag hinter ihm.
Mit fünfzehn hörte er die Geschichte aus der Bibel, in der es um einen Mann geht, der von Geburt an blind war. Die Jünger fragten Jesus: »Wer ist schuld an seiner Blindheit? Er selbst oder seine Eltern?« Genau das fragte Nick sich auch. Seinen Jüngern antwortete Jesus: »Niemand ist schuld. Nicht der Mann und nicht die Eltern. Er ist blind, weil sich an ihm Gottes Macht zeigen soll« (nach Johannes 9,3). In diesem Moment klickte etwas in ihm: Niemand außer Gott wusste die Antwort, warum er so geboren worden war. Aber vielleicht gab es eine Aufgabe für ihn und Gott hatte ihn nicht vergessen.
Auf der Highschool musste Nick nach dem Unterricht immer noch eine Stunde lang in der Schule warten, bis ihn der Bringdienst nach Hause fuhr. Oft verbrachte er diese Zeit mit Mr Arnold, dem Hausmeister, der ihn durch seine Persönlichkeit beeindruckte. Manchmal leitete Mr Arnold mittags ein christliches Schülertreffen und lud ihn dazu ein. Nick erklärte, dass er für Religion nicht so viel übrig habe, aber weil er Mr Arnold mochte, ging er trotzdem hin. Mr Arnold ermutigte alle, etwas von sich zu erzählen. Nick weigerte sich mehrere Monate lang, bevor er schließlich doch bereit war. Er machte sich vorher Notizen und erzählte in der Runde von schwierigen und schönen Erlebnissen und gestand ehrlich, dass er manchmal denke, Gott habe ihn vergessen, aber manchmal auch das Gefühl habe, dass sein Leben doch nicht so sinnlos sei. Die anderen Kinder hatten Tränen in den Augen.
»War ich so schlecht?«, fragte Nick besorgt.
»Nein, du warst so gut«, erwiderte Mr Arnold. Kurz darauf bat ihn ein Junge aus der Gruppe, auch in seiner Jugendgruppe etwas zu erzählen. Etliche weitere Einladungen folgten.
Mit der Zeit wuchs Nicks Gewissheit, dass sein Leben nicht zwecklos war. Seine Eltern ermutigten ihn jeden Tag. Durch ihre Liebe zu ihm lebten sie ihm Gottes Liebe zu uns Menschen vor und Nick konnte mehr und mehr glauben, dass Gott ihn gerade in seiner besonderen Situation gebrauchen wollte.
Er wurde in Jugendgruppen und zu Schülertreffen eingeladen, um von sich und seinen alltäglichen Schwierigkeiten zu erzählen. Einmal saßen dreihundert Schülerinnen und Schüler vor ihm. Plötzlich fing ein Mädchen im Publikum laut an zu weinen. Sie hob die Hand und bat, nach vorne kommen zu dürfen, um ihn zu umarmen. Auf der Bühne flüsterte sie ihm schluchzend ins Ohr: »Noch nie hat mir jemand gesagt, dass ich schön bin, so wie du es uns gerade gesagt hast. Du hast mein Leben verändert!«
Für Nick war das ein Augenöffner: Er begriff, dass diese öffentlichen Auftritte nicht nur ihm dabei halfen, sich nicht so einsam zu fühlen, sondern dass es auch seinen Zuhörer etwas bringen konnte. Ihm wurde klar: Alle Menschen erleben Schwierigkeiten – nur seine waren etwas sichtbarer! »Als ich das verstanden habe«, sagt er heute, »ging in meinem Hirn eine Glühbirne auf! Ich fing an, das Leben als Chance zu sehen, und dachte: Meine Umstände müssen für etwas gut sein!« Gerade sein Anderssein war die Chance, etwas Besonderes beizutragen: Ihm sahen die Zuhörer sofort an, dass er es nicht leicht hatte. Deshalb waren sie gespannt zu hören, wie er sein Leben meisterte.
Nicks Selbstbewusstsein wuchs und mit siebzehn wurde er sogar zum Schülersprecher gewählt. Über seine fehlenden Arme und Beine konnte er nun Witze machen. Einmal besuchte er mit Freunden ein großes Einkaufszentrum. In einem Schaufenster entdeckten sie eine männliche Schaufensterpuppe, die wie Nick nur aus Kopf und Torso bestand und Unterhosen präsentieren sollte. Nick trug zufälligerweise dieselbe Marke und beschloss, einen Streich zu wagen: Seine Freunde hoben ihn ins Schaufenster, wo er regungslos verharrte. Aber wenn Leute stehen blieben und ihn ansahen, blinzelte er plötzlich oder verbeugte sich – zum großen Schrecken der Kundinnen und Kunden!
Statt einer Karriere als Schaufensterpuppe schlug er dann aber doch lieber eine Laufbahn als Motivationsredner und Prediger ein. Weltweit will man seine Geschichte hören. Mittlerweile hat Nick schon in Dutzenden Ländern Vorträge gehalten, in Indien einmal vor über hunderttausend Leuten gleichzeitig gepredigt und in zweitausend Gefängnissen gesprochen. Er zog in die USA und seine Gemeinde dort sandte ihn als ihren ersten Missionspastor aus. Mit Filmemachern aus Los Angeles drehte er den Kurzfilm »The Butterfly Circus«. Mit der preisgekrönten Surferin Bethany Hamilton, die selbst bei einem Haiangriff einen Arm verlor, hat er surfen gelernt. Und noch etwas, das er fast nicht geglaubt hätte, wurde wahr: 2012 heiratete er seine Frau Kanae und mittlerweile haben sie vier Kinder, mit denen er voll sprühender Energie herumtobt.
Gerade auch seine dunklen Zeiten will er heute nicht mehr missen, weil sie ihn stärker gemacht haben, wie er sagt. Nick will Mut machen, das Leben beherzt in die Hand zu nehmen, die eigenen Herausforderungen zu meistern und an Gottes Seite die eigene Bestimmung zu finden. Aus seinem Leben ist vor allem eins geworden: eine einzige Ermutigung, dass sich Hoffnung in jedem Leben lohnt.
MARGARETE STEIFF
1847–1909
MIT ZWÖLF JAHREN begann Margarete nachmittags nach dem normalen Unterricht, noch eine »Nähschule« zu besuchen. Vermutlich dachte sie damals schon daran, dass es ein passender Beruf sein könnte, denn sie saß im Rollstuhl. Mit anderthalb Jahren war sie an Kinderlähmung erkrankt und ihr linker Fuß war seither vollständig, der rechte teilweise gelähmt. Ihr rechter Arm schmerzte oft, weshalb sie nun mit links nähte und es ihr nicht leichtfiel. Ohnehin war sie viel lieber draußen. Als Kind hatte sie schon immer darum gebettelt, dass irgendjemand aus dem Haus sie nach draußen trug. Dann saß sie im Leiterwagen und streichelte die vorbeikommenden Hunde und Katzen, erzählte kleineren Kindern, auf die sie in ihrem Wagen aufpassen sollte, fantasievolle Geschichten oder begeisterte die anderen Kinder mit ihrer sonnigen und lebhaften Art für Spiele, bei denen sie von ihrem Wagen aus das Kommando gab. Zweimal fuhr sie mehrere Monate zu Kuraufenthalten bei einem tiefgläubigen Arzt. Während ihre Mutter sehr streng war, ging es im Haus des Arztes viel fröhlicher und spielerischer zu. Margarete durfte mit den anderen Kindern sogar ausgelassen über den Boden rutschen, und wenn ihre Kleider dabei kaputtgingen, wurden sie einfach geflickt – undenkbar bei ihrer Mutter. Außerdem hörte Margarete biblische Geschichten, lernte Lieder und auf Gott zu vertrauen.
Zu Hause begann der Alltag wieder. Morgens wurde eine Frau dafür bezahlt, sie in den Klassenraum zu tragen. Bis nachmittags ging der Unterricht, über die Mittagszeit gab es zusätzlich Konfirmandenunterricht, danach Nähschule. Ihre beiden älteren Schwestern beendeten – wie damals üblich – mit vierzehn Jahren die Schule und zogen als Dienstmädchen in Haushalte, in denen sie kochten, sauber machten und Kinder hüteten. Margarete blieb allein mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder Fritz zu Hause und lernte mit ihm begeistert auch Fächer, die damals sonst Jungs vorbehalten waren. Auch wenn ihre Mutter es gern sah, wenn ihre Tochter abends früh ins Bett ging, ließ Margarete sich von ihren Freundinnen zu fröhlichen Ausflügen im Mondschein abholen.
Mit dreizehn wurde sie konfirmiert und bekam den Konfirmationsspruch: »Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig« (2. Korinther 12,9 LUT). Wer weiß, ob der Pfarrer schon sah, dass Gott ihr eine gute Portion Mut mitgegeben hatte und sie mit ihrer Behinderung Frieden schließen sollte. Später jedenfalls schrieb sie in ihr Tagebuch: »Das war noch ein langes Suchen nach Heilung, bis ich mir selbst sagte: ›Gott hat es für mich so bestimmt, dass ich nicht gehen kann, es muss auch so recht sein.‹ «
Als Margarete ebenfalls mit vierzehn die Schule abschloss, setzte sie ihre Ausbildung in der Nähschule fort und verdiente zugleich mit Handarbeiten und später auch mit Unterricht im Zitherspielen ihr eigenes Geld. Als sie beim Stadtpfarrer für seine Tochter nähte, brachte sie eines Tages der kleine Sohn mit dem Fuhrwerk nach Hause. »Ich war sehr waghalsig und gar nicht ängstlich im Fahren«,