Gesetz des Menschlichen. Jakob Vedelsby
Jakob Vedelsby
Gesetz des Menschlichen
Roman
Aus dem Dänischen von
Bernd Kretschmer
Saga
Die Luft ist so erstaunlich ätherisch, so sonderbar durchsichtig in diesen Tagen des Indian Summer, es ist, als kämen alle nahen Gegenstände näher und würden klarer – als könne man jedes Blatt unterscheiden, jeden Zweig dort drüben am anderen Flussufer, und es fast mit den Händen greifen.
Jacob A. Riis
1
„Das Gesetz des Menschlichen bedeutet, dass das Leben wie ein Labyrinth wirkt, mit Sackgassen und verschlossenen Türen. Bisweilen musst du umkehren und ein Stück zurückgehen, eine andere Richtung wählen, die Hoffnung bewahren....“ Das Radiosignal verschwindet mit einem Zischen, wie wenn ein Haar zu Asche verbrennt. „Verdammt“, murmelt der Chauffeur und klopft mit dem Finger gegen die blau leuchtende, in Mahagoni eingearbeitete Stereoanlage des Wagens.
„Nimm dich zusammen, wir müssen Carl Bernsteins Freundin hören, sie ist scheißunterhaltsam...“, sagt der Minister und lacht mit zuckenden Schultern.
„Sie hören Radio Dänemark. Es gibt ein technisches Problem, das wir zu lösen versuchen.“
„Ich bin’s nicht, mit dem etwas nicht stimmt“, sagt der Chauffeur fast unhörbar.
„Sie hören Radio Dänemark. Es gibt ein technisches Problem, das wir ...“
„Schalte ab, zum Teufel!“ ruft der Minister.
Ich begnüge mich damit zu lächeln. Ich werde dem Schafskopf nicht noch einmal erzählen, dass Kassandra eine Freundin aus alten Zeiten ist, nicht meine Geliebte. Sie ist lesbisch. Um Himmels Willen. Oder zumindest bi. Ich fasse die Tasche fester und registriere den Duft frisch gegerbten Leders, ein Geschenk von Kassandra, handgearbeitet, ein persönliches Mitbringsel aus Nepal. Man muss aufpassen, wenn der Minister seine gute Laune hat. Die Jovialität pflegt irgendwann zu verebben, und bevor man sich versieht, sitzt man in der Patsche und muss sich in einem der improvisierten Konflikte verteidigen, in die er seine Beamten bringt. Seine nächste Bemerkung könnte sehr gut lauten: ’Warum in aller Welt sollte ich Interesse daran haben, deine Freundin im Radio zu hören?’ – oder: ‚Machst du dich etwa über mich lustig?’. Aus seiner Sicht ist es seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass ein Emporkömmling wie ich sich nicht zu sicher im Sattel fühlt. Er muss es mir schwer machen und mir demonstrieren, dass der diplomatische Dienst seinen Preis hat, und dass dieser so teuflisch hoch ist, dass nur die Tüchtigsten, Widerstandsfähigsten und Gewissenlosesten durch das ultimative Nadelöhr dringen und den ersehnten Botschafterposten erhalten. Ich habe das Zeug dazu, aber das weiß der Psychopath neben mir nicht.
„Jetzt ist es völlig tot“, sagt der Chauffeur und drückt auf den Knöpfen des Radios herum. Er landet auf einem anderen Kanal, und rhythmisch hämmernde Popmusik trifft uns von allen Seiten, als wären wir Soldaten im Kreuzfeuer. Noch bevor er abschalten kann, ruft der Minister schon: „Das bist du auch, wenn du nicht gleich ausschaltest!“
„Sorry. Ankunft in 25 Sekunden“, sagt der Chauffeur nach unten gebeugt in das Mikro an seinem Handgelenk.
Einmal Soldat, immer Soldat, denke ich und mustere seinen Stiernacken mit den fünf Speckfalten.
„Es ist lebenswichtig, dass du dich diesmal an alles erinnerst, Legationsrat Bernstein. Wenn wir den Außenpolitischen Ausschuss heute verlassen, ist die Sache gestorben, hast du verstanden?“ sagt er in scharfem Ton, ohne mich dabei anzusehen.
Ich kenne ihn jetzt schon etliche Jahre, aber wir hatten noch nie Augenkontakt. Das wäre zu persönlich, eine Geste, die zweifellos seiner Familie vorbehalten ist – zur Zeit bestehend aus einer zweijährigen Tochter und Ehefrau Nummer drei. Gerüchten zufolge hat er sich mit den Vorgängerinnen überworfen und sieht seine älteren Kinder nicht. Er steht auf hübsche Frauen, Typ Model, die erheblich jünger sind als er. Auch an Kassandra hat er Interesse gezeigt. Sie ist vierzig, sieht aber aus wie dreißig. Man würde nicht darauf kommen, dass sie zuhause zwei achtzehnjährige Söhne hat. Der Minister hat sie einmal in einer Frauenzeitschrift gesehen, in der sie nackt zwischen Birken am Waldrand fotografiert war. Das lange Haar schwebte um ihre Brüste wie schwerelose Seide.
Ich habe den Minister studiert. Seine Augen hinter den randlosen Brillengläsern sind wässerig, und im Weißen des Augapfels haben sich gelbe Talgablagerungen angesammelt, miteinander verbunden durch dünne, rote Äderchen. Unter den Augen Tränensäcke, auf den Wangen wahre Landschaften aus kleinen, geplatzten Adern. Seine Zähne sind strahlendweiße Implantate, wie sie sie in Hollywood und Washington verwenden. Jetzt springt er aus dem Wagen und ist, mit zwei Sicherheitsbeamten auf den Fersen, schon auf halbem Weg die Treppe hoch, während ich mich noch abmühe, mit der Tasche und einem Stapel von Papieren aus dem Wagen zu kommen. Er öffnet die Tür zum Parlamentsgebäude, Schloss Christiansborg, und trommelt hart gegen die Holztäfelung. Ich beeile mich, ihn einzuholen.
„Was hat sie noch gleich gesagt, bevor der Idiot da am Radio gefummelt hat?“ Sein Blick streift den Chauffeur, der gerade auf seinem Handy telefoniert. „War das nicht irgend so ein idealistischer Blödsinn von Gemeinschaft, einem neuen Gesetz?“
„Ich habe es nicht gehört, er hat ja abgeschaltet“, murmele ich und schlüpfe hinein. Ich folge dem Minister, vorbei am Wachlokal, hin zur Treppe zum ersten Stock.
„Das Gesetz des Menschlichen“, das war es. „Was zum Teufel ist das?“ lacht er. „Ich muss sehen, dass ich das durch das Parlament bringe, dann werden wir alle richtige Menschen und gehen in Rente und lassen Dänemark auf dem großen Meer der Gemeinschaft vom Stapel laufen.“
Das Lachen des Ministers geht in einen kratzenden Raucherhusten über. Er schluckt Schleim, runzelt die Augenbrauen. Sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse in den wenigen Sekunden, die wir brauchen, die steile Treppe hochzusteigen. Nun schweigt er, ist außer Atem.
Der Minister verfügt über eine bemerkenswerte Fähigkeit, Dinge zu verdrängen. Er ist damit so zufrieden, dass er sie an seine Kinder weitergegeben hat. Es sei die beste Gabe, die er seinen Nachkommen hinterlassen habe, hat er in einem doppelseitigen Porträt in einer Sonntagszeitung erklärt. Es vergeht keine Woche, in der er nicht in den Medien ist. Die Journalisten lieben seinen brutalen Charme, und er ist klar und verständlich in seiner Sprache, dank effektiver Hilfe seiner Pressereferentin und Medienberaterin, deren Rolle er offiziell verachtet.
Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er gerade jetzt, aufgrund etlicher Minuten mangelnder Nikotinzufuhr, auf einer hauchdünnen Grenze zwischen echter Neugier und einem Ausbruch von Gereiztheit mit unvorhersehbaren Konsequenzen balanciert. Ich schweige, ich darf meine Konzentration nicht verlieren, nicht weitere Fehler begehen. Mein Schnitzer im Außenpolitischen Ausschuss kürzlich, als ich ihm eine falsche Information gab, was dazu führte, dass die Opposition ihn in den Medien als Lügner bezeichnete, haftet wie eine ansteckende Krankheit an mir. Die Kollegen im Außenministerium meiden mich. Ich würde das gleiche tun, denn Fehler sind das größte denkbare Tabu in einer Nullfehlerkultur. Seitdem bin ich unter verschärfter Aufsicht, im System hoch angesiedelte Schlüsselpersonen sind tief enttäuscht von mir, und alle wissen, dass der weitere Verlauf meiner künftigen Karriere bedeutend weniger klar vorgezeichnet ist. Wenn er denn in den Augen anderer überhaupt jemals klar vorgezeichnet gewesen war. Es gibt da ganz sicher immer einen Kollegen, der auf dem Sprung ist, den Platz von einem zu übernehmen. Noch ein Fehler, und ich ende meine Tage als Fachberater oder so etwas in der Richtung, wie die anderen bitteren Schicksale, die das System aussortiert. Es sei denn, man bewirbt sich an anderer Stelle, weg vom Außenministerium, und versucht sein Glück dort. Mit diesem Gedanken spiele ich allerdings nicht mehr. Ich bin inzwischen zweiundvierzig und nähere mich Schritt für Schritt dem Ziel, das, so predigen alle, so gut wie unerreichbar ist. Ich muss noch ein Jahr in Kopenhagen die Zähne zusammenbeißen, dann für drei bis vier Jahre in die Welt hinaus und wieder nach Hause auf einen Posten als ‚Stellvertretender Abteilungsleiter’. Wenn alles gut läuft, werde ich nach einem weiteren halben Jahr per Ernennung durch die Königin zum ‚Vortragenden Legationsrat Erster Klasse’ und damit zum Beamten ernannt, und dann ist der Weg frei zum heiligen Botschafterposten.