Gesetz des Menschlichen. Jakob Vedelsby

Gesetz des Menschlichen - Jakob Vedelsby


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gut bezahlter Traumjob folgen. Dann werden die Früchte eines unmenschlichen beruflichen Einsatzes reichlich geerntet werden. Bei diesem Gedanken fühle ich mich, als würde ich schweben, aber nur für kurze Zeit. Ich wage nicht, ihn zu Ende zu denken.

      Irgendetwas stimmt nicht. Die Leute um mich herum führen sich auf wie ferngesteuerte Roboter. Sie kommen aus ihren Büros, bewegen sich mechanisch auf dem Gang herum und halten Handys an die Ohren gedrückt. Sie ähneln verängstigten Hühnern, laufen gegen Wände und gegeneinander, gackern in die kleinen Apparate hinein.

      „Teufel auch!“ brüllt der Minister, als die Leibwächter vom PET, dem Polizeilichen Nachrichtendienst, ihn unter die Achseln fassen und mit ihm davonlaufen. „Das ist eine Notsituation, beeilen Sie sich, aus dem Gebäude raus zu kommen!“ ruft mir einer der Beamten zu.

      Ich bleibe mitten auf dem Gang stehen, und sehe sie die Treppe hinunter Richtung Notausgang verschwinden. Die Menschen um mich herum laufen in alle Richtungen. Da ist auch die Pressereferentin und Medienberaterin des Ministers, ihr strammer Hintern ist in einen eng sitzenden, kurzen Rock eingezwängt. Sie schlägt mit der flachen Hand auf ihr Handy.

      „Das Hotel Danmark ist in die Luft gesprengt worden“, ruft sie im Vorbeilaufen, bleibt dann abrupt stehen und dreht sich um. „Oh Gott, Ihre Freundin!“ Ihr Mund öffnet und schließt sich, und sie tritt einen Schritt näher zu mir. „Ich hoffe nicht ... ich muss den Minister finden.“ Dann ist sie in der Menschenmenge verschwunden.

      Ich sehe das Redemanuskript des Ministers, mit dem ich heute Morgen ganz früh fertig geworden bin. Es schwebt auf den Boden zu, bekommt wieder Auftrieb und erhebt sich wie ein kraftvoller Schwanenkörper, bevor es gegen die Wand prallt und jäh zu Boden fällt. Ich sinke auf einen hellblauen Rokokostuhl an der Wand, betrachte die Uhr über der Tür zum Sitzungsraum des Außenpolitischen Ausschusses. Es ist 12.54 Uhr.

      Kassandras Radiosendung endet in sechs Minuten. Ich kann sie direkt vor mir sehen, wie sie vor den Panoramafenstern des Studios steht, die auf die Kopenhagener Seen hinaus gehen, sie hält ihren Mund dicht an das Mikrofon und lächelt dem Hörer zu, der in der Sendung telefonisch zu ihr durchgekommen ist. Das Studio befindet sich in einer Suite im zweiten Stock des neu gebauten Hotels. Sie beantwortet gerade seine Fragen. ‚Bisweilen musst du umkehren und ein Stück zurückgehen, eine andere Richtung wählen, die Hoffnung bewahren’, sagt sie, und dann dreht der Chauffeur am Autoradio, dann kommt die Information, dass ein technisches Problem aufgetaucht sei, dann Popmusik, dann Stille.

      Ich gleite hinein in den Strom von Menschen und komme hinaus in die Ridebane-Anlage hinter Schloss Christiansborg, suche mein Handy, es ist nicht in meiner neuen Tasche, die ist mir abhanden gekommen... hier habe ich es ja. Ich weiß nicht, warum ich zu laufen beginne, ich laufe ansonsten überhaupt nicht mehr. Ich würde gern wieder mit dem Laufen anfangen, ich hätte die Laufschuhe kaufen sollen. Meine glänzenden schwarzen Schuhe klicken auf der Straße, Jackett und Krawatte wehen beim Laufen. Jetzt stolpere ich und stürze mit meinen hundert Kilo und knapp zwei Metern schwer hin, mein rechter Arm schrammt über den Asphalt. Ich rappele mich wieder auf und laufe weiter, stürze zu einem Taxi und werfe mich auf den Rücksitz.

      „Hotel Danmark“, sage ich.

      „Das geht nicht. Haben Sie nicht von der Explosion gehört?“

      „Ich zahle den doppelten Preis.“

      Ganz tief in meinem Innern, wo immer das auch sein mag, weiß ich, dass ihr nichts passiert ist. Vielleicht ist es mein Unterbewusstsein, was diese Frage, die in meinem Kopf herumkreist, mit einem ‚Sie ist okay, ganz ruhig’ beantwortet. Jetzt biegt das Taxi auf die Busspur ein, und die lange Schlange von Autos verschmilzt zu einem einzigen zusammenhängenden Fahrzeug, das gegen den potenten deutschen Diesel keine Chance hat. ‚Sie ist ein Überlebenstyp, Carl’. Ich schaue auf meine Hände. Ich habe sie gefaltet. Wer verdammt noch mal ist das, der mir fortgesetzt sagt, Kassandra sei tot? Ist es meine Vernunft? Kassandra pflegt zu sagen, Vernunft ist eine Zwangsjacke, die jemand erfunden hat, um Kreativität und Schaffensfreude zu unterdrücken. ‚Stell dir vor, alle Menschen würden nach dem Sublimen streben?’ Kassandras Stimme ist in meinem Kopf, sie setzt mir zu, um mit meinen Träumen einen Kompromiss zu schließen, um Vernunft über Gefühl zu setzen, und wenn ich sage, dass mein Traum faktisch ein Job als Botschafter sei, glaubt sie mir nicht, denn ich sei zu etwas Größerem geschaffen. ‚Größeres?’ sage ich und sehe in die braunen Augen, die vor Erregung fast schwarz sind. ‚In meiner kleinen Welt wird es nicht größer als ein Botschafterposten’, sage ich, und sie lacht mich aus, meint, es mangle mir sowohl an persönlichem Ehrgeiz als auch an Ehrgeiz, etwas für die Welt zu tun, und sie fragt, ob es für mich noch etwas anderes gäbe, als nur materiellen Wohlstand anzuhäufen. Doch, ich möchte schon gern etwas leisten, was über die Eindrücke hinausgeht, die ich bei den Menschen hinterlasse, mit denen ich zu tun habe, aber ich weiß nicht, wie.

      „Ich hab’s doch gesagt“, murmelt der Fahrer und zeigt auf die Polizeiabsperrung. „Jetzt sitzen wir fest.“

      Ein durchdringender Gestank nach Chemie hängt in der Luft, und ich sehe die Ruine und den Rauch, die ein gespenstisches, zum Himmel gerichtetes Bauwerk bilden. Jetzt begreife ich, dass sie weg ist, verschwunden wie ein Haar, das zu Asche verbrennt.

      Ohne Kassandra bin ich nur ein halber, frei schwebender Mensch, ich taumele durch die Gänge, die Straßen, die Felder, die Wolken, fürchte den Hass und Groll der ganzen Welt, Messer und Kugeln, die Stürme von der blendenden Sonne, die Herden von Opfern in tristen Räumen ohne Notausgänge und alle kranken Schicksale, die freigiebig Hoffnungslosigkeit und Leid austeilen. Ohne Kassandra falle ich zu Boden. Jetzt falle ich.

      Als ich weggehe, sitzt sie am Frühstückstisch in ihrem weißen Bademantel und redet mit Robert und Albert. Ich schwenke meine neue Ledermappe und werfe ihr drei Kusshände zu. Heute ist mein Geburtstag. Sie haben mich mit Gesang und frisch gebackenen Milchbrötchen, Ei, Schinkenspeck und Mangosaft geweckt. Wir sehen uns an, während sie langsam ihre Hand zum Mund führt. Jetzt zischt eine Kusshand heran, wie eine Feuerfliege in der Nacht, und ihr Blick verschwindet in den Himmel über Kopenhagen.

      Ich begegnete Kassandra während des Jurastudiums. Anfangs glaubte ich, aus uns beiden sollte etwas Festes werden, aber sie hatte andere Pläne. Kassandra war alles, was man sich wünschen konnte. Schnell, lustig, liebevoll, warm, großherzig, originell, hübsch. Ihresgleichen gab es nur eine. Ich glaubte schon, dass sie Interesse an mir zeigte, und erhielt dafür die Bestätigung, als ein Kommilitone ein Fest in der Prachtvilla seiner Eltern am Øresund gab. Spät am Abend folgte ich ihr ins Haus auf eine der Toiletten, was sie ungeheuer lustig fand. Plötzlich waren wir nackt und umarmten uns, ich setzte mich auf das Toilettenbecken, und sie glitt auf mich. Die Füße fest auf den Boden gestemmt, bewegte sie sich auf und ab, und als sie kam, biss sie mich in die Schulter. Dann sank sie auf meine Oberschenkel und schmiegte ihre Wange an meine Brust. ‚Ich weiß gerade, wie es ist, ein Baby im Bauch der Mutter zu sein’, sagte sie. ‚Und wie ein Vogel im Wind, ein Gepard in der Ebene, ein Bär mit einem zappelnden Lachs zwischen den Zähnen. Wenn ich gut zuhöre, habe ich Zugang zu Antworten auf alle Fragen, weil ich aus all dem geschaffen bin, was jemals existiert hat.’ Ich küsste sie auf den Rand ihrer Oberlippe und dachte, ich hätte die Liebe meines Lebens gefunden.

      Einige Wochen später, nachdem ich täglich versucht hatte, sie telefonisch zu erreichen, hörte ich, dass sie das Jurastudium aufgegeben habe und mit einem Typen namens Martin Fisch nach Indien gereist sei. Ich reagierte nicht wie sonst üblich, wenn man mit mir Schluss gemacht hatte, und ich dann in einen Zustand des Unglücklichseins mit momentanen Selbstmordgedanken und psychosomatisch bedingten Atembeschwerden versank. Stattdessen wurde mein Organismus von einer nicht vehement dominierenden existentiellen Unruhe ergriffen, begleitet von einem fortdauernden Gefühl der Unwirklichkeit. Ich war nicht imstande, im Jetzt zu sein, meine Gedanken bewegten sich ständig hin und her. Ich stellte mir vor, wo ich sein würde, und wie mein Leben morgen zur gleichen Zeit oder in genau einem Jahr aussehen würde. Ob ich Herzrhythmusstörungen bekommen würde, wenn ich das Licht ausmachte um einzuschlafen. Ob ich im Bett liegen, mir den Puls messen und mir selbst versichern würde, dass das Herz schon seine Arbeit tun wird. Aber keine abgrundtiefen Löcher, keine depressionsähnlichen Sümpfe, kein schreiendes Opfer der Umstände und eines schlimmen Schicksals.


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