Gesetz des Menschlichen. Jakob Vedelsby
daran, um es zu versiegeln. „Paul Weis ist der Schlüssel. Er ist der Verfasser dieses Buches – es heißt ‚Stimmen des Himmels’“.
Er zündet die Zigarette an, bläst Rauch in die Flammen des Kaminfeuers und sieht mich mit unbeweglichen Augen an. Die Zigarette balanciert zwischen den schmalen Lippen, und jetzt leuchtet die Glut wiederum auf. Er wendet sein Gesicht Kassandra zu.
„Es ist in viele Sprachen übersetzt worden und in spirituellen Kreisen weltweit bekannt. Paul Weis gründete die Organisation Universal Link, welche die ursprüngliche Ausgabe herausgab. Universal Link hatte ihren Hauptsitz hier in der Stadt, existiert aber nicht mehr, und niemand hier weiß, was aus Mr. Weis geworden ist.“
„Erzähl ihnen, was deiner Meinung nach mit der Welt geschehen wird“, unterbricht Vicky.
„Universal Link ist mehr als ein Verlag“, fährt Alexandros langsam fort, ohne Notiz von ihr zu nehmen. „Es ist der Name für eine Operation, die die Menschheit vor dem Untergang retten soll, wenn die alles umfassende Zerstörung einsetzt. Vielleicht ist euch bereits klar, dass wir uns am Rand des Abgrunds befinden? Die Erdbevölkerung wächst explosiv, und alle Menschen sollen sich jeden Tag satt essen und sollen Autos, Fernsehen, Kühlschränke und all das übrige Materielle haben, was wir für selbstverständlich halten. Es wird ein Kampf jeder gegen jeden, und keiner kann gewinnen. Nicht lange, und es wird ein neuer Weltkrieg ausbrechen, und Atomexplosionen werden Vulkanausbrüche und Erdbeben auslösen, die jegliches Leben auf der Erde auslöschen. Aber Sekunden bevor der Erdball in Flammen und Schreien ertrinkt, werden Raumschiffe unter Führung von Commander Ashtar aus der Andromeda-Galaxis hierher kommen und die Auserwählten mit sich nehmen.“
Er saugt den Rest aus seiner Zigarette und schnipst sie in den Kamin.
„Wenn wieder Ruhe auf der Erde eingekehrt ist, werden die Auserwählten zurückkommen und zusammen mit dem wiedergekehrten Christus eine neue Lebensform schaffen. Das habe ich in einer Offenbarung jenseits der Grenze zwischen Leben und Tod gesehen. Und später las ich das gleiche in diesem Buch, und ich begriff, dass ich in all dem, was geschehen wird, eine Rolle zu spielen habe. Und das habt ihr auch.“
Ich suche Kassandras Blick, aber ihre ganze Aufmerksamkeit gilt Alexandros. Der Grieche hebt den Blick:
„Ihr bekommt keine Probleme mit mir. Ich faste und brauche nur ein wenig Wasser und einen Platz, wo ich schlafen und während der Wartezeit meditieren kann, und ein bisschen Tabak, das ist alles.“
Kassandra nickt unmerklich. Ich vertraue blind auf ihre Urteilskraft und erkläre, er sei uns willkommen. Etwa eine Woche oder so. Darüber sprechen wir noch.
„Von Staub bist du genommen. Zu Staub sollst du wieder werden. Vom Staub wirst du auferstehen.“ Der Wind erfasst eine Wolke aus Staub und wirbelt sie in die Luft.
Jetzt rückt die Menschenmenge näher an das Grab heran, und die Rosen färben den Sarg noch roter. Alexandros ist verschwunden. Vielleicht ist er gar nicht hier gewesen, vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Wäre er denn sonst nicht geblieben und hätte uns begrüßt? Jetzt kommen sie und sprechen ihr Beileid aus, mit Tränen in den Augen liefern sie Mitgefühl und Umarmungen ab, wie man es halt so tut, aber anstatt etwas zu geben, dringen sie in meinen letzten Freiraum ein, pumpen Tränen hinein, bis kein Sauerstoff mehr übrig bleibt.
Dann ist es überstanden, und die Zwillinge und ich fahren im Auto mit heruntergelassenen Fenstern weg, wie immer in Richtung Norden, den Øresund entlang. Ich fahre auf den üblichen Parkplatz, und wir steigen aus und gehen eine Zeitlang schweigend am Wasser entlang.
„Wir haben uns noch“, sagt Albert und sieht Robert und danach mich an. Wir stehen nebeneinander, die Gesichter dem Øresund zugewendet. Nicht weit von der Küste findet eine Segelregatta für Optimisten-Jollen statt.
„Ich wünschte, Mama wäre hier“, murmelt Robert.
„Wir drei haben uns noch, wir müssen weiterleben“, sagt Albert.
„Das weiß ich ja, aber ich vermisse sie!“
Mein Blick folgt einer der kleinen Jollen.
„Ich glaube, ich habe Alexandros bei der Beerdigung gesehen.“
Robert wendet sich mir zu.
„Er war da. Ich habe ihn auch gesehen.“
4
Ich habe das Gefühl, als hätte das Telefon schon etliche Male geläutet, als ich aufwache und den Hörer ans Ohr lege. Es ist Donald vom Ministerium. Die Übergangenen und Verbitterten nennen ihn Donald Dick. Ich sehe an mir selbst herunter, ich habe immer noch meine Kleidung und meine Schuhe an, konnte gestern Abend keine Ruhe finden.
„Kommst du heute rein, Carl?“ Er mobilisiert die ganze Freundlichkeit, die er in besonders peinlichen Situationen in Reserve hat.
Der Fernseher läuft, und aus dem Text der Laufschrift Breaking News geht hervor, der Ministerpräsident zöge in Erwägung, den Ausnahmezustand über Dänemark zu verhängen. In den vom Terror betroffenen europäischen Städten wandern Menschen wie Zombiefiguren in den Straßen herum, getrieben von Massenangst. Sobald sie auf ein Hindernis stoßen, wechseln sie die Richtung. Sie haben vergessen, was sie zurückgelassen haben, und wissen nicht, wonach sie suchen.
„Ich habe eine, wie soll ich sagen, ziemlich anspruchsvolle Sache übertragen bekommen. Ich hoffe, du kannst mir dabei helfen, die zu erledigen.“
In Kopenhagen patrouillieren die gepanzerten Mannschaftswagen des Militärs, und die Politiker in Christiansborg halten Krisensitzungen. Sie haben bereits neue Sondergesetze verabschiedet, die den Geheimdiensten freie Hand lassen. Die Beamten in der Zentralverwaltung haben sich in ihren Büros niedergelassen, von denen aus sie den Politikern mit Gesetzesentwürfen assistieren. Donald gilt als harter Knochen, aber das sind alle, die auf der gleichen Hierarchie-Ebene stehen wie er, sonst würde man auch nicht soweit kommen. Es würde ihm nicht im Traum einfallen, sich dafür zu entschuldigen, dass er an einem Samstagabend oder Sonntagnachmittag wegen einer Aufgabe anruft, die es sofort zu erledigen gilt. Oft informiert er einen kaum, das meiste muss man sich selbst zusammenreimen und dazu noch beten, dass man die Aufgabe nicht missversteht, wie zum Beispiel die Ausarbeitung eines Redemanuskripts für den Minister in einer Angelegenheit, die man nicht kennt und in die man sich deshalb erst einmal gründlich einarbeiten muss. Vielleicht ist die Opposition in Besitz von Informationen gekommen, dass die Regierung vorschriftswidrig oder kritikwürdig gehandelt hat. Dann ist es an mir, die Informationen zu dementieren, ungeachtet wie korrekt sie auch sein mögen. Ich erinnere mich an eine Vielzahl von Fällen, insbesondere in Bezug auf die Teilnahme Dänemarks an den Kriegen im Irak, in Afghanistan und in Libyen, in denen ich mit Hilfe von Argumentationen, basierend auf Hinweisen auf anonyme Quellen und die Rücksicht auf die Staatssicherheit, mehr als einen Minister davor gerettet habe, von der Öffentlichkeit an den Pranger gestellt zu werden. In seltenen, schwachen Momenten suchen mich die Lügen heim. Normalerweise empfinde ich einen gewissen Stolz darüber, dass ich über die notwendige intellektuelle Kapazität verfüge und mich in einer Position befinde, in der meine Überlegungen entscheidend sind, gesellschaftliche Destabilisierung zu verhindern. Die Misskreditierung der Motive, die die politischen Führer eines Landes leiten, wirkt zerstörerisch auf die Demokratie. Es gibt Situationen, und wird sie immer geben, die nach alternativen Versionen der Wahrheit rufen, und ich bin und bleibe ein Meister auf diesem Gebiet. Bisweilen träume ich sogar in der Behördensprache.
„Nur eine Stunde. Es geht nicht direkt um den Terroranschlag, und trotzdem. Es ist ein ziemlich gutes Angebot für dich. Komm um 13 Uhr.“
Im Hörer ertönt ein Klick. Donald ist ein eminent tüchtiger Schauspieler. Nur die besten dieser Art erreichen die Spitze im Außenministerium. Ich habe bemerkt, dass auf meiner Hierarchie-Ebene alle das gleiche Pokerface aufsetzen und gute Miene zum bösen Spiel machen können, wenn es sein muss. Alles ist Technik, wir können alles mögliche auswendig lernen, und wir können unsere Gefühle abkoppeln und Eiseskälte gegenüber denen praktizieren, die versagen und die geopfert werden müssen, damit wir selbst schneller vorwärts kommen. Auf meiner Stufe der Hierarchie muss man mit dem Dolch umgehen können.