Gesetz des Menschlichen. Jakob Vedelsby

Gesetz des Menschlichen - Jakob Vedelsby


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zur mündlichen Prüfung. Der eine Arm Roberts liegt auf der Bettdecke, Albert befindet sich darunter.

      „Warum hast du uns nicht geweckt?“ ruft Albert, als er bemerkt, wie spät es ist.

      Robert springt auf und läuft hinaus zur Dusche.

      „Da ist Hafergrütze“, sage ich.

      „Gibt es keine Brötchen?“ murmelt Albert.

      „Ich habe verschlafen. Soll ich euch fahren?“

      „Ja, danke“, sagt Robert auf dem Weg durch die Küche, ein Handtuch um den Körper gewickelt. „Die Formeln warten nicht.“

      Albert schließt die Tür zum Badezimmer und kommt einen Moment später wieder heraus. Dann laufen wir die Treppe hinunter. Ich verstehe nicht, wie sie das hier so durchziehen können. Mein Herz klopft heftig in der Brust, es schreit nach Kassandra, wie ein Rauschgiftsüchtiger nach seinem Stoff.

      Ich sitze auf dem Fahrrad und versuche, meine üblichen mentalen Überschüsse zu mobilisieren. Das ist notwendig, will man die Spiele und Machtkämpfe im Ministerium durchstehen, die vor allem daher rühren, dass das System des Außenministeriums keine anderen Ziele kennt als einen Posten als Botschafter. Die mehr als neunzig Prozent der Mitarbeiter, die das Ziel nicht erreichen, werden deshalb im voraus zu Verlierern erklärt. Sie müssen mit dem nach unten gestreckten Daumen und dem daraus folgenden Zustand der Niederlage leben. Sie haben es nicht geschafft, waren nicht tüchtig genug, nicht skrupellos genug, nicht intelligent genug, sie hatten nicht das, was dazu erforderlich ist. Sie ertrugen nicht die Leichen im Keller, das Gewissen plagte sie, sie schafften es nicht, sich vorzudrängen, um im Rampenlicht zu stehen und Anerkennung auf Kosten anderer zu ernten. Ihre ekelhaft falsche Bescheidenheit hinderte sie daran, die richtigen Karten auszuspielen. Über neunzig Prozent der Mitarbeiter sind misslungene Beamte, Hilfsarbeiter, die das Ministerium mehr oder weniger gezwungenermaßen bis zum Rentenalter durchfüttern muss. Die wenigen erfolgreichen Kollegen kehren den Verlierern den Rücken zu, sprechen nicht mehr mit ihnen, beantworten nicht ihre Anfragen, und betrachten sie nur, wenn diese es nicht sehen, und sie tuscheln untereinander, dass da einer geht, der nicht aus dem richtigen Stoff gemacht ist und deshalb vom System nichts erwarten kann, einer, der völlig fertig ist.

      „Wie viele Male bist du schon ins Ausland entsandt gewesen?“ fragt Donald und sieht mich über den Rand seiner Brillengläser an. Natürlich kennt er die Antwort bereits.

      „Zwei Mal – bei den Vereinten Nationen in New York und an der Botschaft in London. Ich rechne eigentlich damit, dass man mich in einem Jahr wieder rausschicken wird.“

      „Ich werde deine nächste Entsendung gerne beschleunigen. Wir haben ein Problem in Athen, muss ich dir sagen, und ich brauche da unten einen soliden Mann. Ich schwanke zwischen einigen Mitarbeitern, du weißt schon, welchen, aber ich tendiere am ehesten zu dir.“

      „Was für ein Problem gibt es in Athen?“

      „Der Botschafter, Montgomery heißt er. Du kennst ihn ja.“ Auf Donalds Gesicht zeigt sich andeutungsweise ein Lächeln.

      Pierre Montgomery ist ein paar Jahre älter als ich und hat Blitzkarriere gemacht. Er war drei lange Jahre mein Vorgesetzter. Wenn Donald schon ein scharfer Hund ist, dann ist Montgomery ein rasender, hungriger Wolf mit einem Wurf frierender Junger im Bau.

      „Lass mich sagen, wie es ist: Das System hat ihn falsch eingeschätzt. Er funktioniert nicht und wird allmählich zum Alkoholiker. Es gibt da mehrere Fälle. Bei einem geht es um finanzielle Fehldispositionen und bei dem anderen um Autofahren unter Alkoholeinfluss. Beide haben wir glücklicherweise abschließen können. Schlimmer steht es um die Anklagen wegen Anwendung körperlicher Gewalt gegen einen Mitarbeiter der Botschaft. Mir war gar nicht klar, dass Gewalt körperlich sein kann. Nun, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Presse von der Schweinerei Wind bekommt. Außerdem hat seine Frau, Frida Montgomery heißt sie, Kontakt zu uns aufgenommen. Sie hat Angst vor ihm. Anscheinend hat er sich nicht mehr im Griff und ist außer Kontrolle geraten, ein losgehendes Geschoss. Du weißt, was das bedeutet.“

      „Tragisch. Was kann ich tun?“

      Wir wissen beide, dass ich weiß, dass Pierre Montgomery einer von Donalds treuesten Alliierten im System ist. Ich rufe mir Montgomery ins Gedächtnis. Ein kleingeistiger, karrieresüchtiger Streber von 160 Zentimetern, ausgestattet mit einem, wie man sagt, außergewöhnlich hohen Intelligenzquotienten, mit hervorstehendem Bauch und psychopathischen Charakterzügen. Einer der gewissenlosesten Menschen, denen ich während meiner Jahre im Ministerium begegnet bin. Es ist wohl kaum möglich, dass ein Mensch böse geboren werden kann, aber bei Pierre Montgomery bekommt man Zweifel. Er kommt einem vor, als sei er bis tief in seine Seele hinein voller Bosheit, und mit allem, was er tut, verfolgt er zwei gleichwertige Ziele: sich selbst zu nützen und anderen zu schaden.

      „Es ist extrem wichtig, dass du dich bedeckt hältst. Einen diplomatischen Skandal können wir nicht dulden. Der eigentliche Grund für deine Entsendung bleibt zwischen uns. Offiziell hast du um eine unplanmäßige Entsendung aufgrund des plötzlichen Todes deiner Freundin ersucht. Das System hat beschlossen, unter Berücksichtigung deines Status’ und der an dich gerichteten Erwartungen deinem Wunsch zu entsprechen. Das ist die ganze Geschichte, Schluss.“

      „Und mein Titel?“

      „Jetzt hör mal zu, Bernstein. Die Menschen, die wir in die Welt hinaus entsenden, sind jahrzehntelang an allen Ecken und Kanten getestet und für schwer genug befunden worden. Montgomery aber ist so leicht wie eine Feder. Er ist ein Fehlschuss, ein Symptom für einen gigantischen Systemfehler, der in der Theorie nicht vorkommen kann und in der Praxis nie vorkommen darf. Aber selbst die stärkste Stahllegierung kann eine unvorhersehbare Schwachstelle haben. Das Schlimmste ist, dass er uns in der Hand hat. Sollte er sich vor der Presse bloßstellen, gäbe es einen ungeheuren Skandal. Und genau damit hat er gedroht, falls wir ihn feuern würden. Sonst, das kann ich dir versichern, säße er schon längst hinter irgendeinem Schreibtisch weit weg von allem. Er hat sich bereiterklärt, sich für mindestens drei Monate von der Botschaft fern zu halten, aber es werden wohl eher sechs werden. Er geht in eine Entziehungsklinik für Alkoholiker auf der Insel Santorin, und dann rückst du nach und übernimmst in der Zwischenzeit den Posten. Wir lassen verlautbaren, dass er erkrankt ist, irgendetwas Nebensächliches, ich denke da an Schleudertrauma nach einem Verkehrsunfall oder vielleicht Stress, solche Diagnosen sind zur Zeit modern. Das wird die Supermänner im Auswärtigen Dienst etwas menschlich erscheinen lassen. Wir können ihm auch eine Krankheit andichten, die zur Invalidität führt, Parkinson oder ähnliches, und das als Entschuldigung benutzen, ihn frühzeitig in Pension zu schicken, wenn er seine Finger nicht von der Flasche lässt. Sag was, Carl!“

      Ich bin sprachlos. Hier sitze ich einem Mann gegenüber, der selbst noch nicht Botschafter ist, und bekomme das Angebot, einen Botschafter zu vertreten. Das ergibt keinen Sinn und kommt in diesem System nicht vor. Entweder braut sich da etwas zusammen, oder ich habe quasi in der Lotterie gewonnen. Ich spüre ein warmes Gefühl in der Brust, das sich in meinem Körper ausbreitet und in mein Gesicht hochsteigt, als ich begreife, dass seine Worte gleichzeitig bedeuten, dass das System mir soeben genehmigt, durch das Nadelöhr zu treten.

      „Ach ja, und im übrigen ist Griechenland ja Konkursmasse, aber das ist nicht deine Sorge. Du sollst nicht deren wirtschaftliche Probleme lösen, bloß Dänemarks Interessen bestmöglich wahrnehmen. Das schaffst du locker, Bernstein. Wenn du dich zusammenreißt, natürlich.“

      Mir gelingt es nicht zu antworten, bevor er seinen Redestrom fortsetzt:

      „Warum ergreife ich nicht selbst die Chance?“ Er bringt eines seiner seltenen Lächeln zustande. „Glaub es oder nicht, ich bin zum Botschafter in Rom ernannt worden und werde in drei Wochen abreisen.“

      „Glückwunsch“, bekomme ich hervorgestammelt. Das hatte ich nicht kommen sehen, und dann Rom, eine gefragte Botschaft. Er hat seine Kontakte in Ordnung, das muss man ihm lassen.

      „Du drängst ja auch danach, wieder in die Welt hinaus zu kommen. Du hast dir ja wohl schon ausgerechnet, dass es deiner weiteren Karriere förderlich sein wird, wenn du die Aufgabe perfekt löst. Machst du aber Fehler, wird dich der Rückschlag


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