Gesetz des Menschlichen. Jakob Vedelsby

Gesetz des Menschlichen - Jakob Vedelsby


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ich.

      Alexandros nickt.

      „Ein großer Teil des Buches ist eine Wiedergabe der Informationen, die ich selbst im Grenzland zwischen Leben und Tod erfahren habe. Ich befinde mich im Auto auf dem Weg nach Hause, als ich endlich begreife, dass meine Cousine Recht hat. Ich beginne am ganzen Körper zu zittern, fahre an die Seite und bleibe stehen, und während ich da so sitze und versuche, zur Ruhe zu kommen, kommen die Erinnerungen. Ich will mein Leben zurückhaben. Ich will Häuser bauen und Geld verdienen, mich volllaufen lassen, mit allen möglichen Frauen schlafen, mich mit Idioten herumschlagen, alle und jeden und mich selbst auch belügen, was das Zeug hält, und der raue Typ sein, der ich immer gewesen war, den ich kenne und dem ich vertraue. Zugleich aber weiß ich, dass es keinen Weg zurück gibt. Ich lasse die Gedanken kommen und gehen und bemerke, dass mein Gehirn langsam das Leben akzeptiert, das ich bisher geführt habe. Nach meinen Jahren beim Militär bin ich durch die ganze Welt gereist und habe überall gearbeitet. Als Bodyguard in Dubai, als Bauarbeiter in Italien, als Tellerwäscher in Frankreich. Ich nahm die Jobs an, wie sie mir über den Weg kamen, während ich nach meinem Platz in der Welt suchte – dort, wo ich mich zurechtfinden und eine Familie gründen könnte. Ich bin nahe dran, als ich vor einigen Jahren mit meiner Freundin in Dubai lebe. Wir arbeiten und sparen Geld zusammen, damit wir nach Australien reisen und uns dort niederlassen können. Aber sie verlässt mich und geht mit einem anderen Typen in die USA. Lieber wollte sie mit viel Geld nichts sein, als ohne Geld alles. Und dann gehe ich zurück nach Griechenland und fange an, Häuser zu bauen. Ich kurbele die Fensterscheibe des Wagens herunter und registriere den Luftzug von den vorbeifahrenden Autos. In diesem Moment lasse ich meine Vergangenheit los und schaffe Platz dafür, dass die Energie aus dem Universum frei in meinen Organismus fließen kann. So empfinde ich es, und jetzt kann ich auch weiterfahren. Als ich nach Hause komme, gebe ich alles Materielle auf und beginne zu fasten und zu meditieren.“

      Der Schrei rollt über die Felder und trifft mein Gesicht wie ein plötzlicher Windstoß, der einen Gestank nach verfaultem Fleisch mitbringt. Ich weiß, dass der Schrei vom Wald her kommt, wo er sich in einer Kehle gebildet hat. Er hat sich mit einer Geschwindigkeit von 340 Metern in der Sekunde über die Erdoberfläche im Dunkel zwischen den Bäumen bewegt und ist aus dem Waldrand hervorgeschossen wie eine Kanonenkugel. Jetzt zerre ich ihn vom Gesicht und halte ihn vor mir hoch. Schwellende Würmer winden sich durch die frisch ausgefressenen Löcher des bluttriefenden Schädels. Jetzt reißt sich der Schrei los und beginnt, um meinen Kopf herumzusausen, immer schneller geht es, und tiefer und tiefer dringt er in mein Bewusstsein. Bis ich die Augen öffne und mich im Bett aufsetze. Die Zwillinge halten sich umfasst, sie haben von einem Schrei geträumt, der nicht enden wollte. Er kam von Kassandra, sagen sie.

      5

      Es ist halb vier morgens, und ich kann nicht schlafen, habe zuviel getrunken und gegessen. Unten im Hof klagt eine Katze in hohen Tönen und wetzt ihre Krallen am Stamm des Orangenbaumes. Der Schweiß rinnt mir aus den Poren des Gesichts und von der Kopfhaut, mein Nacken trieft vor Nässe. Ich lege die Beine auf den Rand des Balkons und betrachte die verfallene Ruine der Akropolis, während sich hinter meinen Augen immer wieder derselbe Filmfetzen abspult, der mein Herz stolpern lässt.

      Kassandra kommt am Meer entlang gegangen, zusammen mit Alexandros. Sie haben mich nicht gesehen, denn ich stehe ganz oben auf der Düne, links von ihnen. Jetzt sehen sie mich und winken beide gleichzeitig. Ich winke zurück.

      Ich glaube nicht, dass ich Fieber habe. So ist Athen halt in den Nächten im Sommer. Nachttemperaturen von 30 Grad sind für diese Jahreszeit hier normal, es kann sogar noch schlimmer werden, oder besser, abhängig von der Toleranzschwelle des Einzelnen, sagen sie in der Botschaft.

      Zurzeit gehen mir viele Gedanken im Kopf herum, und wenn ich sie nicht auf Distanz halten kann, suche ich Zuflucht in meinem inneren virtuellen Ministerium voller täglicher dringender Angelegenheiten, die bis zur Perfektion geklärt werden müssen. Dann gleite ich zurück in meinen früheren Alltag, in dem es keine Zeit für Reflexionen gibt, in dem jeder nächste Schritt vom elektronischen Kalender des Handys diktiert wird, in dem Tage, Wochen und Monate verschmelzen und meinem Alter Jahre hinzufügen, ohne dass ich es anders bemerke, als dass ich mich Stufe für Stufe die Karriereleiter hinauf bewege.

      Alexandros’ Besuch vor ein paar Jahren lässt mich für kurze Zeit über mein Leben nachdenken. Während er bei uns wohnt, gibt es faktisch Tage, an denen ich nicht weiß, was ich anfangen soll, an denen mein Alltag sich nicht mehr von selbst ergibt, und ich schnurstracks in die Ewigkeit schaue und Antworten auf Fragen bekomme, die ich noch nicht gestellt habe. Dort existiert meine Karriere nicht, da gibt es keine Ministerien und Machtkämpfe, dort herrscht vielmehr eine alles überdeckende Harmonie, die mit großer Kraft an mir zieht. Ich will Teil dieser Harmonie sein, die sich, wie ich instinktiv weiß, bereits irgendwo in mir befindet, aber zu der ich keine Verbindung habe. Das Problem ist, dass ich, um dorthin zu kommen, durch unbekannte Landschaften reisen muss. Ich bin Anhänger des Rationalen und nicht wie Kassandra ein Befürworter von Glauben und all dem Ungewissen, von dem die Welt überquillt, und das Zweifel und Furcht hervorruft. Ich halte mich an das, was ich sehe, höre, schmecke, rieche und fühle. Und das ist reichlich.

      Es ist jenseits jeglicher Rationalität, aber es gibt kaum einen Zweifel darüber, dass Alexandros über übernatürliche Kräfte verfügt. Kassandra hat es auch verschiedene Male versucht, und eines Tages empfange ich auch die Kraft, die seinen Händen entströmt. Ich lege mich auf das Sofa und tue, was er mir sagt, schließe die Augen, entspanne mich, atme tief und ruhig. Im gleichen Moment füllt sich mein Herz mit einer brodelnden Flüssigkeit, die sich durch die Blutbahnen ausbreitet und am ganzen Körper Gänsehaut verursacht, und danach eine schwebende Leichtigkeit, die in mir die Perfektion der Kindheit wachruft, und jetzt verstehe ich, warum sie lächeln, diejenigen, die sagen, sie wären Gott begegnet.

      Eines Abends sitzen Alexandros und ich auf dem Sofa, jeder an einem Ende, mit einem Buch in der Hand. Alexandros blättert eine Seite um, ich blättere eine Seite um. Alexandros legt das Buch beiseite, schließt für einige Sekunden die Augen, öffnet sie wieder und hat einen Ausdruck im Gesicht, als habe er vergessen, wo er ist. Als befinde er sich an einem anderen Ort und studiere einen Vorgang in einer anderen Dimension, zu der ich keinen Zugang habe. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Ich schließe mein Buch mit einem Knall, und Alexandros wendet sich mir zu.

      „Ich verspreche dir, Carl, dass du in Kürze bestätigt bekommen wirst, dass all das, was ich gesagt habe, wahr ist. Ich bin nach Dänemark gekommen, um die Mission abzuschließen, die Mr. Weis vor fast fünfzig Jahren eingeleitet hat. In diesem Buch schreibt er, dass Jesus auf die Erde zurückkehren wird. Ich bin dieser Mann.“

      Ich würde lieber glauben, dass er nicht verrückt ist.

      „Dann sag mir, woher deine Kraft kommt“, murmele ich.

      „Ich habe große Mengen an Licht in mir von den Menschen, denen ich in meiner Zeit geholfen habe“, sagt Alexandros geduldig. „Als Mensch wird man mit einem bestimmten Quantum Licht geboren, aber du verlierst das Licht und deine Kraft wieder, wenn du negativ bist. Dann kann kein Licht hindurchdringen, auch nicht das von Gott. Du bist immer noch derselbe Mensch, aber du kannst nicht den Weg im Leben finden, und deine Probleme lösen sich nicht. Bist du dagegen positiv und hilfst anderen, bekommst du mehr Licht. Wenn du mir mit Unterkunft, Essen und Tabak hilfst, bin ich froh und dankbar und sende dir etwas von meinem Licht. Du tust das gleiche mit mir, wenn ich dir die Hände auflege, und du fühlst dich gut. Aber der größte Teil meines Lichts kommt von Gott. Er mag mich sehr, denn ich lebe so, wie er sagte, dass Menschen leben sollten: Ich helfe anderen und erwarte nichts dafür. Auf diese Weise bekomme ich immer mehr Kraft und durchlebe eine Transformation. Nicht mehr allzu lange, dann werde ich so positiv sein, dass ich meinen Körper physisch an jeden beliebigen Ort versetzen kann. Dann kann ich über die ganze Erde fliegen, bis hinaus zu den Raumschiffen, die unter Ashtars Kommando auf dem Weg hierher sind.“

      Alexandros hat sich warm geredet, und seine Augen glänzen.

      „Du kannst das gleiche tun, wenn du meinem Beispiel folgst, denn du bist mein Seelenbruder. Wir sind in unzähligen Inkarnationen nah beieinander gewesen. Wenn du in der Vergangenheit suchst, wirst du entdecken, dass wir trotz der räumlichen


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