Gesetz des Menschlichen. Jakob Vedelsby

Gesetz des Menschlichen - Jakob Vedelsby


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den Kopf. Jetzt, da sie es sagt, bemerke ich, dass ihr Gesicht schief ist. Die Lähmung erklärt, warum sie so häufig die Serviette zum Mundwinkel führt. Auf diese Weise verhindert sie, dass ihr aufgrund mangelnder Nervenkontrolle Speichel herunterrinnt.

      Als Pierre zurückkommt, klingt seine Stimme eine Nuance tiefer, und mir kommt wiederum der Gedanke, dass er draußen gewesen ist und etwas Stärkeres als Wein getrunken hat. Eminente Selbstkontrolle ist stets eines seiner Markenzeichen gewesen. Einen Mitarbeiter, den er bewusst bis an den Rand der Beherrschung getrieben hat, bis dieser schließlich zusammenklappt und seine ganze angesammelte Frustration direkt gegen ihn wendet, fegt er mit einer kurzen, beißenden Bemerkung vom Tisch, die jegliche Möglichkeit für einen Dialog versperrt und ausschließt. Aber es geht kein verdächtiger Geruch von ihm aus, es gibt keine intensive Gesichtsrötung oder andere Anzeichen für Alkoholmissbrauch.

      Im weiteren Verlauf des Abends ist er dann doch betrunken. Die Vergiftung setzt ganz plötzlich ein. Er spricht lauter als gewöhnlich, lächelt mich über den Tisch breit an, und zum ersten Mal sehe ich seine Zähne. Sie sind kurz und gleichmäßig, und es scheinen mehr zu sein, als die blau gefärbte Mundhöhle eigentlich fassen kann. Er schenkt noch mehr Wein in sein Glas und verschüttet auch etwas davon auf die weiße, gestickte Tischdecke.

      „Pass doch auf!“ entfährt es Frida mit plötzlicher Irritation in der Stimme, sie führt die Serviette zum Mundwinkel. Mehr braucht es nicht, um das berüchtigte Temperament zu entzünden, das wie ein Teufel unter einer kontrollierten Oberfläche lauert.

      „Du kannst dich einfach nicht benehmen. Du musst mich vor diesem Entsandten aus dem hohen Norden kompromittieren, der gekommen ist, meine Botschaft zu okkupieren. Vor diesem Fremden musst du deine Verachtung für mich demonstrieren und ihm Einblick in deine selbst geschaffene Leidensgeschichte gewähren.“ Er hämmert die Flasche auf den Tisch.

      „Beruhige dich, Pierre“, sagt sie nervös.

      „Natürlich, mein geliebter Schatz. Wenn dein verdunkeltes Gemüt diktiert, dass ich spuren soll, dann tue ich das. Aber ich frage mich selbst, wer Kopenhagen erzählt hat, dass ich zuviel trinke. Wir wollen jetzt mal die Karten auf den Tisch legen. Carl, darf ich sie dir vorstellen: Kopenhagens kleiner, geiler Maulwurf“, sagt er und schlägt ein falsches Lachen an, ohne den Blick von ihr zu wenden. „Du bist es leid, mit mir zusammen zu sein, nicht wahr, und jetzt bekommst du die ganze Hütte für dich selbst und kannst mit dem Koch bumsen oder mit wem auch immer du Lust hast. Du darfst sie auch gern bumsen, Bernstein, aber war da nicht was, dass du mehr auf Männer stehst?“ Der Botschafter hebt sein volles Glas und kippt sich den Inhalt in den Hals.

      Eine solche Frage bekommt ein 42-jähriger Mann, der weder verheiratet ist noch Kinder hat, unwillkürlich gestellt. In meiner Phantasie beschäftige ich mich täglich mit Frauen, und ich praktiziere zwischendurch auch sexuellen Umgang mit dem anderen Geschlecht, selbst wenn das inzwischen lange her ist. Seit dem ersten Jahr auf der Universität habe ich keine feste Beziehung mehr gehabt. Sie hieß Laura, genau wie die Verfasserin und Hauptperson des Buches Kleines Haus in der Prärie, das meine Mutter mir vorlas, als ich ein Kind war. Auch meine Laura kam vom Lande und hatte Zöpfe. Wir begegneten uns auf der Erstsemester-Party der Uni und bumsten am ersten Abend auf meinem Zimmer im Studentenwohnheim. So fing die Geschichte an, die ein halbes Jahr später damit endete, dass sie sich die Pulsader aufschnitt, weil sie mich wollte, und ich eine andere haben wollte, die mich nicht wollte. Glücklicherweise misslang der Selbstmordversuch, und glücklicherweise begegnete sie später einem Mann, der sie haben wollte, und bekam die Kinder, von denen sie träumte, und machte eine Ausbildung zur Hebamme und wurde glücklich. Aber all das geht bei Gott Montgomery nichts an.

      Die Gesichtsfarbe des Botschafters hat eine violette Nuance bekommen, er verlagert seine ganze Energie in das Aggressivitätszentrum seines Gehirns, wo es anschwillt und die kontrollierte Gehirnaktivität verdrängt. Ich hoffe nicht, dass Frida Prügel bezieht, wenn ich gegangen bin. Dann springt er plötzlich auf und schwingt den rechten Arm. Die Flasche saust davon und zerbricht, und der Wein läuft in roten Streifen die weiße Wand herunter. Er lächelt unergründlich und mit schräg gehaltenem Kopf, den Blick halb zur Zimmerdecke gerichtet, wankt er schweigend und theatralisch wie ein Stummfilmdarsteller durch das Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu.

      Wir bleiben einige Sekunden lang sitzen, ohne uns zu rühren. Wir erwarten wohl beide, dass er wieder zurückkommt, aber das ist nicht der Fall. Im Haus herrscht Stille. Ich trinke mein Glas aus und reiche ihr meine Visitenkarte.

      „Du kannst immer anrufen.“

      „Was ist bloß los mit euch Männern“, ruft sie aus, mit einer Stimme, die mein Gehirn zu Eis gefrieren lässt. „Ihr mit euren gequälten Gesichtern und eurem ewigen Schweigen. Ich kann nur glauben, dass ihr auch voller Zweifel seid, und dass ihr euch danach sehnt, ihn mit anderen zu teilen. Aber was hält euch dann zurück? Ihr könnt nicht einmal mit euren Frauen und Kindern offen und ehrlich sprechen. Und wenn ihr mit euren sogenannten Freunden zusammen seid, müsst ihr euch erst um den Verstand trinken, bevor auch nur ein ganz kleines bisschen Gefühl auf den Tisch kommt, und trotzdem ist die Reaktion am nächsten Tag vergessen. Vielleicht wagt ihr es nicht, euch zu öffnen, vielleicht habt ihr zu niemandem Vertrauen, vielleicht seid ihr außerstande, Themen von menschlichem Wert zu kommunizieren, vielleicht seid ihr auch nur von Natur aus viel einäugiger und eingeschränkter als wir Frauen.“

      „Du hast vollkommen Recht“, sage ich und gehe.

      Ich lasse meine Finger den Abdruck entlang gleiten, den die Kante des Balkons auf der Unterseite meines Oberschenkels hinterlassen hat. Mein Körper ist schwer und müde, ich kann mich nicht bewegen. Ich denke daran, dass ich, lange nachdem Alexandros uns verlassen hatte, mich in einen Zustand tiefgreifender Unruhe versetzt gefühlt hatte. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass seine letzten Tage in Kopenhagen nicht unbedingt harmonisch gewesen waren. Die Dinge entwickelten sich nicht so, wie er vorausgesehen hatte.

      Alexandros sieht mich mit ausdruckslosen Augen an. Er mag es nicht, wenn man ihm sagt, dass er kaum damit rechnen kann, sich die Fähigkeit zu fliegen ohne weiteres aneignen zu können. Ich hatte gesagt, dass alles seine Zeit hat. Wer weiß, vielleicht wird er eines Tages seine Arme ausbreiten und wie ein Vogel fliegen, aber jetzt gerade steht er mit beiden Beinen fest auf dem Boden und zittert. Mein Organismus mobilisiert seine automatische Verteidigung und lässt die stummen Ergüsse des Griechen abprallen. Für mich ist es einleuchtend, dass Alexandros’ Aggressionen der Furcht entspringen, dass das Ganze eine Lüge ist. Der Furcht davor, dass er nur ein tüchtiger Zimmermann ist, und nichts anderes. Furcht davor, dass das, an was er ganz fest glaubt und seinen Anhängern predigt, nicht eintrifft. Dass Commander Ashtar nicht in seinem Mutterschiff an der Spitze einer Flotte von Raumfahrzeugen kommen und diejenigen retten wird, die gerettet werden sollen, bevor alles Leben auf der Erde in Feuer und Rauch aufgeht, um später in neuen, wunderbaren Formen neu zu erstehen, während zugleich diejenigen, die Zuflucht in den Raumschiffen gesucht hatten, zurückkehren werden. Und dass er niemals fliegen wird. Das Letztere ist vielleicht am schlimmsten. Es wäre ein endgültiger Beweis dafür, dass er nicht derjenige ist, der zu sein er behauptet. Wenn er erst einmal fliegt, werden die Raumschiffe auch kommen, dann wird die Erde brennen und das Tor zur Ewigkeit sich zu seinen Füßen öffnen. Was aber, wenn alles nur eine eingebildete, wahnwitzige Phantasie ist? Kann er nach einer Reise von vierzig Tagen nach Hause zurückkehren, ohne dass seine Voraussagungen sich erfüllt haben? Was soll er denen sagen, die an seine Prophezeiung und an den Jüngsten Tag und an das ewige Leben in Freiheit auf der neu erschaffenen Erde glauben?

      Alexandros macht auf dem Absatz kehrt und blickt aus dem Fenster zu den Wolken, die sich wie auf Kommando vor der Sonne öffnen. In dem Moment bildet sich ein scharfes, blaugrünes Licht zwischen den Häusermauern in der schmalen Straße. Ich kann an seinem Nacken sehen, dass er lächelt.

      „Sie warten auf den richtigen Moment. Jetzt dauert es nicht mehr lange“, sagt Alexandros. Dann beruhigt er sich wieder ein wenig. „Entschuldige meine Ungeduld, aber es bedeutet mir alles. Wenn ich nicht fliegen werde, will ich sterben“, murmelt er und blickt auf seine abgearbeiteten Hände.

      Im selben Moment läutet das Telefon. Es ist Maria, seine Frau, die mit tränenerstickter Stimme nach Alexandros fragt.

      „Sind


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