Gesetz des Menschlichen. Jakob Vedelsby
„Ich mache mir Sorgen um die Zwillinge.“
„Haben die keinen Vater?“
„Sie haben nur sporadisch Kontakt zu ihm. Sie brauchen mich.“
„Tatsache ist, dass sie einen Vater haben, und dass ich ein außergewöhnliches Angebot für dich habe.“
„Ich muss zuerst mit ihnen sprechen. Ohne ihr Einverständnis reise ich nicht ab.“
„Ich habe Leute, die würden für diese Chance einen Mord begehen, und du weißt, von wem ich spreche.“
Ich weiß ganz genau, wer da mit im Spiel ist. RP, der führende Arschkriecher meiner Generation und deswegen ein richtiges Arschloch. MS, der nach eigener Aussage einen IQ von 180 hat, dabei aber ein nachplappernder Angsthase der schlimmsten Sorte ist. KR, der sich selbst herausstreicht, indem er auf die Fehltritte anderer verweist, die er der Leitung des Ministeriums zuspielt, die wiederum ihn nicht loswerden kann, weil er der Bruder eines einflussreichen Politikers ist. Es wäre eine Katastrophe, würde ich von einem von denen überholt werden, und Donald weiß das. Trotzdem sagt er:
„Du kannst es dir bis heute Abend 10 Uhr überlegen. Wenn du dabei bist, ist die Abreise spätestens Sonntagmorgen, also in drei Tagen. Jede Stunde zählt.“
Er stellt sich ans Fenster, als würde er sich etwas unten auf der Straße anschauen. Dann dreht er sich um und sieht mich an.
„Du bekommst da unten noch eine ergänzende Aufgabe.“ Er zögert. „Sei dir darüber im klaren, dass dies weit über deine Sicherheitsstufe hinausgeht, aber ich bin von höchster Stelle autorisiert, dich zu informieren. Es floriert hartnäckig die Theorie, dass die hinter den Bombardierungen in Kopenhagen und andernorts in Europa stehenden Spinner in Wirklichkeit zu einer der Öffentlichkeit nicht bekannten Terrorzelle gehören, die ihren Sitz in Griechenland hat. Vielleicht weißt du, dass die wichtigste ethnische Minderheit im nördlichen Griechenland Muslime sind. Es lebt auch eine große Zahl muslimischer Einwanderer im Land. Es wir deine Aufgabe sein, in aller Diskretion natürlich, den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen den dänischen Geheimdiensten und den griechischen zu koordinieren. Auf diese Weise bekommst du auch die Chance, deinen Beitrag dazu zu leisten, dass wir diese Teufel erwischen, die deine Freundin getötet haben. Ich gehe nicht davon aus, dass du etwas dagegen hast.“
Ich bin mir völlig bewusst, dass das Gespräch mit Donald mich hypnotisiert hat, trotzdem kann ich die Fesseln der Hypnose nicht zerbrechen. Ich kann Blut riechen, eine einzigartige Möglichkeit, meine schlimmsten Konkurrenten auf Distanz zu halten. Der Job in Athen wird meine Karriere im günstigsten Fall um vier Jahre beschleunigen. Ich habe es verdient. Ich kann es kaum erwarten, dass meine verschmähten Kollegen, durch ungeschriebene Regeln gezwungen, mit demütigen Glückwünschen angekrochen kommen. Donald und ich wissen, dass es mir unmöglich ist, zu diesem Angebot Nein zu sagen. Ich kann mir selbst vormachen, dass ich es überdenken und mit dem einen oder anderen darüber reden muss, aber das ändert nichts daran. Ungeachtet der Konsequenzen für mich selbst und andere gibt es nach allen meinen Jahren im Ministerium nur eine Antwort. Kann man mich dann als Mensch bezeichnen? Oder bin ich vielmehr ein ferngesteuerter, gefühlskalter und äußerst diplomatischer Beamtenroboter?
Auch Albert und Robert kennen die Antwort im voraus. Wir vereinbaren, dass sie mich für einige Wochen im Juli in Athen besuchen kommen sollen. Zuerst aber kommen die Abiturpartys und anschließend Badeurlaub auf einer griechischen Insel.
„Wenn sich herausstellt, dass ihr allein nicht zurechtkommt, oder es aus anderen Gründen nicht geht, komme ich sofort nach Hause.“
„Oder wir kommen runter zu dir“, murmelt Robert. Sein Fuß berührt den meinen unter dem Tisch.
„Ja, genau.“
„Selbstverständlich musst du abreisen“, sagt Albert mit klarer Stimme.
Ich habe das Bedürfnis zu hören, dass es so in Ordnung ist, damit ich mir ihr Einverständnis später ins Gedächtnis zurückrufen kann. Ich weiß, es ist falsch, sie zu verlassen, aber wenn ich weg und allein bin, haben die beiden zumindest sich.
Nachdem sie zu Bett gegangen sind, setze ich mich ins Wohnzimmer in dem Bewusstsein, dass ich nicht schlafen können werde. Als ich für einen Moment die Augen schließe, sehe ich Kassandra am Wasser entlang auf mich zukommen, sie ist in Begleitung eines Mannes. Es ist Alexandros mit seinem neuen, kurz geschnittenen schwarzen Bart, der das Gesicht größtenteils verdeckt.
Mir fällt der Nachmittag ein, an dem wir von dem Besuch bei der Wohngemeinschaft in Mittelseeland nach Hause kommen. Ich mache mich auf die Suche nach Paul Weis, dem Mann, wegen dem Alexandros nach Dänemark gekommen war. In den Adressenregistern im Internet ist er nicht zu finden, dagegen aber eine Person, die sich als sein Enkel herausstellt. Ich rufe an und erkläre die Situation. Der junge Mann sagt, es sei nicht mehr möglich, mit Paul Weis in Kontakt zu kommen. Er sei wenige Tage zuvor gestorben. Der Enkel war auf seiner Beerdigung und ist faktisch gerade erst wieder zur Tür herein. Abgesehen von diesem sonderbaren Zusammentreffen der Ereignisse setze ich meine Suche im Netz fort und stoße auf ein Interview mit Paul Weis, der berichtet, wie an einem Tag im Frühjahr 1965 ein göttliches Wesen zu ihm gesprochen hatte:
Es geschah am 13. März 1965 um 3.15 Uhr, als ich von der Nachtschicht nach Hause kam. Ich fuhr damals Taxi. Wie gewöhnlich setzte ich mich ins Wohnzimmer, um vor dem Schlafengehen noch eine zu rauchen. Plötzlich hörte ich eine männliche Stimme sagen: ‚Mach die Zigarette aus, ich will mit dir reden.’ Ich sah mich im Zimmer um, aber da war niemand zu sehen. Ich bin nicht so leicht zu schockieren, also dachte ich nicht weiter darüber nach, sondern rauchte ruhig weiter. Da wiederholte die Stimme ihre Aufforderung, wiederum nahm ich einen ordentlichen Zug aus der Zigarette, gleichsam demonstrativ dem Unbekannten gegenüber, der mir sagen wollte, was ich in meinen eigenen vier Wänden zu tun oder zu lassen hätte. Da gingen alle Lichter in der Wohnung aus, und ich sah einen Lichtschein, und aus diesem ertönte die göttliche Stimme.
In den darauf folgenden Stunden entspann sich ein Dialog zwischen Paul Weis und der Stimme. Einige Tage später kam er mit einer Gruppe Menschen in Kontakt, die sich für Okkultismus interessierten. Während ihrer ersten Sitzung begann die Stimme durch Paul Weis zu sprechen. Dies setzte sich in den folgenden Jahren fort. Alle Botschaften wurden auf Band aufgenommen, niedergeschrieben und in dem Buch ‚Stimmen des Himmels’ zusammengefasst. In den dänischen Bibliotheken aber kennt man dieses Werk nicht.
Ich lausche den widerhallenden Stimmen zwischen den schrägen Dachfenstern und den Betonplattformen mit Kiosken, Automaten und mit Gepäck behängten Menschen und schweren, ruhigen Metallwesen, grüne, silberfarbene, schwarze und rote, die sich in die eine oder andere Richtung bewegen. Ich beobachte eine Taube, die in niedriger Höhe vorbeiflattert und einen Landeplatz findet, von dem aus sie in sicherem Abstand dem schrillen Streit der Möwen um die Reste von etwas Essbarem zusieht. Die Frage ist, ob sie es schaffen, zu Ende zu fressen und sich rechtzeitig von dem massiven Körper des Zuges zu entfernen, der in diesem Moment auf der Grenze zwischen dem Lichtermeer draußen und dem Zwielicht des Bahnhofs in Sicht kommt. Ich vergesse die Vögel und spähe hinter den getönten Fenstern, die vorbeigleiten, nach Alexandros. Auf dem Bahnsteig herrscht lebhafte Aktivität. Menschen mit Rollkoffern, Rucksäcken und Laptop-Taschen stehen bereit, während sie mit ihren Handys telefonieren, Kaffee aus Pappbechern trinken, küssen. Dann öffnen sich die Türen, und die Reisenden strömen heraus. In der Menschenmenge ist Alexandros an seiner Ringerfigur zu erkennen, er streckt die Hand aus.
„Paul Weis ist tot“, sage ich, als wir auf der Rolltreppe stehen.
Im Gesicht des Griechen ist keine Reaktion zu sehen. Wir bewegen uns durch das Gewimmel des Hauptbahnhofs und treten hinaus ins Sonnenlicht. Etwas ist mit der Sonne geschehen. Sie ist wärmer und schärfer geworden, und ich blinzele gegen die brennende Goldkugel und denke, dass genau jetzt der Frühling beginnt.
„Ich kam, und Mr. Weis ging“, sagt Alexandros tonlos, als wir im Auto sitzen. „Sein Tod ändert nichts an den Realitäten. Er arbeitet von der anderen Seite aus weiter, und jetzt stehe ich an der Spitze der Aktivitäten hier auf der Erde.“
Alexandros sitzt unruhig