Gesetz des Menschlichen. Jakob Vedelsby

Gesetz des Menschlichen - Jakob Vedelsby


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zusammengeströmt. Die Hände der Jungen halten meine Unterarme fest umklammert. Einem Krankenträger gelingt es, den Ton lauter zu stellen, und wir bleiben stehen und hören dem Sprecher zu. Er berichtet, dass eine bislang unbekannte Terrorgruppe namens ‚Letzter Tag des Kapitalismus’ auf einem Video, das den Nachrichtenagenturen zugespielt wurde, die Verantwortung für die Bombensprengung in Kopenhagen übernommen hat. Auf dem Bildschirm taucht ein Mann auf, das Gesicht mit einem Halstuch maskiert, und trägt seine Botschaft in perfektem Englisch vor.

      Wir sind die von der Menschheit ausgesandten Krieger. Wir sind eure Brüder und Schwestern, wir leben unter euch, wir sprechen eure Sprache und arbeiten zusammen mit euch. Wir sind Menschen wie ihr, die sich über Grenzen der Religion und Politik hinweg zum Kampf gegen den globalen Kapitalismus zusammengefunden haben, der unsere gemeinsame Erde unbewohnbar macht und einen wirtschaftlichen Morast geschaffen hat, der Millionen von Menschen aus Haus und Heim vertreibt. Die Aktion in Kopenhagen ist nur die erste von weiteren, die der globalen Krankheit ein Ende bereiten sollen, deren Symptome Egoismus und Materialismus auf Kosten der Gemeinschaft sind. Die Aktion in Kopenhagen hat zwölf einflussreiche Wirtschaftsbosse ausgelöscht, die im Hotel Danmark versammelt waren, um Pläne für die zukünftige Ausbeutung der armen Bevölkerungen in der Welt zu schmieden. Wir bedauern zutiefst die unschuldigen Opfer und trösten uns damit, dass sie in einem notwendigen Krieg gefallen sind.

      Wir schieben die Fahrräder, als wir den Peblinge-See entlang gehen, und setzen uns dann auf eine Bank unter einem blühenden Kastanienbaum. Ich sitze zwischen den beiden und suche nach Worten. Normalerweise ist es Kassandra, die das Richtige sagt, und ich bin es dann, der es bestätigt. Ich wende mich Albert zu. Er ist eine identische Ausgabe von Robert, aber trotzdem ist er der Kleine, zehn Minuten später geboren.

      „Ich zittere“, sagt er.

      „Ich auch“, sagt Robert.

      „Ich ebenfalls“, murmele ich.

      Aber es sind nicht nur wir, die im Innern zittern, die Erde vibriert, und ich halte die Jungen fest an den Schultern gepackt, die Fahrräder fallen um, und am Weg nimmt eine junge Frau ihr Baby aus dem Kinderwagen, setzt sich auf den Boden und beugt sich über das Kind, während die Zweige des Kastanienbaumes über ihr schaukeln, und die Blüten sich lösen und wie Schnee herabfallen, und hinter uns schreit eine ältere Frau auf, als ihr der Rollator aus den Händen gleitet und sie auf die Knie fällt. Bevor ich reagieren kann, ist das Erdbeben vorbei.

      Wir beeilen uns, nach Hause zu kommen, und schalten den Fernseher ein. Das bislang stärkste Erdbeben, das jemals in der Geschichte Dänemarks registriert wurde, hatte sein Epizentrum im Zentrum von Kopenhagen, nahe dem Hotel Danmark. Der Fernsehsender spricht mit einem Geologen, dessen Ansicht nach es einen Zusammenhang zwischen dem Erdbeben und der Terrorbombe geben kann.

      „Eine so starke Explosion kann die seismischen Kräfte in der Erdkruste beeinflussen und Erdbeben auslösen. Das hat man 1971 in der Wüste von Nevada gesehen, als ein atomarer Test dazu führte, dass sich auf einer Strecke von 1300 Metern eine Verwerfungszone öffnete. Die Wahrscheinlichkeit wächst mit der Sprengkraft der Bombe und der Tiefe, in der sie platziert ist. So weit ich weiß, war mindestens eine der Ladungen in Kopenhagen im Abwassersystem unter dem Hotel angebracht. Glücklicherweise sind die seismischen Aktivitäten in Dänemark gering. Hätte die Explosion am San Andreas-Graben in Kalifornien stattgefunden oder entlang der Küste Chiles, wage ich nicht an die Folgen zu denken“, sagt der Forscher und rückt seine Krawatte zurecht.

      Die Moderatorin im Studio blickt mit einem verwirrten Gesichtsausdruck in die Kamera.

      „Ich würde gern hören, zu welchem Beitrag wir jetzt kommen?“ sagt sie, streckt ihren Arm aus dem Bild und bekommt ein Stück Papier in die Hand gedrückt. „Wir haben soeben die Nachricht erhalten, dass sich innerhalb weniger Minuten Terroraktionen in Amsterdam, Berlin, Madrid, Brüssel, Stockholm und Rom ereignet haben. Überall hatten die Terroristen es auf Firmensitze, Hotels und andere Gebäude abgesehen, wo viele Wirtschaftsleute versammelt sind und wo als Folge mit hohen Verlusten an Menschenleben zu rechnen ist. Laut unbestätigten Quellen hat die Terrororganisation ‚Letzter Tag des Kapitalismus’ die Verantwortung für die Anschläge übernommen. Nach einer kurzen Pause sind wir gleich wieder zurück mit weiteren Nachrichten.“

      „Was passiert da mit der Welt?“ Alberts Stimme zittert. Die Zwillinge sitzen wie zu Salzsäulen erstarrt auf dem Boden und starren mit ihren dunkelbraunen Augen auf den Bildschirm. „Bricht sie auseinander?“

      „Hat er das nicht vorausgesehen, der Grieche Alexandros, der bei uns gewohnt hat?“ murmelt Robert.

      „Natürlich bricht die Welt nicht auseinander. Denk doch, wie groß und solide sie ist. Das kann nicht passieren.“ Ich denke an Alexandros, der genau das Gegenteil gesagt hatte. Er meinte, die Auslöschung des Lebens, wie wir es kennen, sei eine Voraussetzung dafür, dass die Welt als Aufenthaltsort für Menschen fortbestehen könnte. Er hatte gesagt, dass Raumschiffe auf dem Weg hierher unterwegs wären, und dass diese Schiffe die Auserwählten mitnehmen würden, kurz bevor die Erde durch Naturkatastrophen und Kriege untergehen würde. Dann würde reiner Tisch gemacht, und die Auserwählten könnten von neuem beginnen und eine neue Welt aufbauen, mit anderen Werten als jenen, die heutzutage gelten. Er hatte so viel gesagt.

      Ich betrachte die Zwillinge, die sich durch das Zimmer bewegen, jeder zieht seine Matratze hinter sich her, sie fragen, ob sie bei mir im Zimmer schlafen dürfen, und bevor ich antworten kann, haben sie die Matratzen neben mein Bett gelegt. Irgendwann schlafen sie ein. Und dann irgendwann später wachen wir auf und entdecken, dass wir nichts zu essen im Hause haben. Also nehmen wir das Auto und fahren zu einem Restaurant in Hellerup, essen dort Rührei mit Schinken und fahren danach über den Strandvej nach Bellevue. Wir parken dort, wo wir in alten Zeiten immer gehalten haben, und schauen auf die Schaum sprühenden Wellen, sprechen über den Vergnügungspark Dyrehavsbakken, wo wir nicht mehr gewesen sind, seit sie Kinder waren, und dass sie immer einen Hot Dog und ein Sprudelwasser bekommen haben. Wir stellen uns vor, wir gingen zweimal rund um den See drinnen im Dyrehavsbakken, unseren See. Wir sind fast dran, eine dritte Runde zu unternehmen, aber es bedarf der Einstimmigkeit, und Albert ist dagegen. Vom Restaurant aus hat man Aussicht auf den See, da sind wir seit der Konfirmation der Zwillinge nicht mehr gewesen. Wir bestellen eine Platte Smørrebrød, und die Kellnerin kann sich noch genau an das Fest erinnern, unser Fest. „Ausgezeichneter Redner, und Ihre Frau trug das wunderbarste Kleid“, sagt sie, und als sie sich in die Küche zurückgezogen hat, treffen sich unsere Blicke über den Tisch hinweg, und keiner kann sich überwinden, ‚Prost’ zu sagen, und dann fangen wir an zu weinen; es ist erst das zweite Mal, dass die Jungen Tränen in meinen Augen sehen, und sie studieren eingehend mein Gesicht, vergessen alles und weinen selbst weiter, und ich bin erleichtert, als wir wieder im Auto sind.

      „Ich verstehe nicht, dass Mama nicht hier ist“, sagt Robert und sieht mich an. „Sie hätte da auf dem Sitz neben dir sitzen müssen.“

      Wäre ich es, der nicht hier war, und wären die Jungen mit Kassandra zusammen und würden das Gleiche zu ihr sagen – sie würde genau wissen, mit welchen lindernden Worten sie die beiden trösten müsste. Das, was ich weiß, ist, dass sie ihre Mutter verloren haben, und dass ich meinen besten Freund verloren habe, und keiner von uns weiß, ob wir ohne sie weiterleben können.

      Robert sieht mich immer noch an.

      „Überlegst du, was Mama sagen würde, wenn sie in deiner Lage wäre? – Sie würde sagen, du bist in einer parallelen Dimension und wirst immer bei uns sein, ganz gleich, ob wir dich sehen oder nicht.“

      3

      Wir werden gleichzeitig um fünf Uhr wach, bleiben im Bett liegen und lauschen dem Regen. Während der Fahrt mit dem Auto zur Friedhofskapelle dringt die Sonne durch einige Wolkenlücken, und wir fahren unter einem Regenbogen hindurch. Jetzt ist es ein klarer Tag. Die Jungen sitzen eng nebeneinander auf dem Rücksitz. Sie haben die schriftlichen Prüfungen überstanden und können sich an nichts erinnern, weil ihnen alles wie im Nebel vorgekommen ist; bald kommt die Mündliche, und in Kürze sind sie Abiturienten, dann müssen sie in die Welt hinaus. Die Erde dreht sich weiter. Ich kurbele das Fenster herunter, und der Wind erfasst mein Haar. Ich hole Luft, so wie


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