Gesetz des Menschlichen. Jakob Vedelsby

Gesetz des Menschlichen - Jakob Vedelsby


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Carl Bernstein’, wurde mir klar, dass unsere Liebe von jeglicher Beschränkung frei war und Bestand haben würde, ungeachtet, mit wem wir zusammen wären und was wir tun würden.

      Deshalb konnte es nicht verwundern, dass sie Jahre später anrief und mich aufforderte, in das freie Zimmer in der Wohnung einzuziehen, in der sie seit ihrer Scheidung mit ihren drei Jahre alten Zwillingen wohnte. Sie fühlte sich auch von Frauen angezogen, und ihr Ex-Mann Martin Fisch war längst zurück nach Jütland zu seiner Jugendliebe gezogen, war in eine rechte Partei eingetreten und hatte eine Blitzkarriere in der Kommunalpolitik und im Parlament gestartet. Das würde ich selber mit größtem Vergnügen....

      ”Was jetzt?” fragt der Taxifahrer.

      „Zurück nach Christiansborg.“

      Er fährt durch eine schmale Straße zwischen hohen, braunen Mehrfamilienhäusern und biegt nach links in die Amagerbrogade ein. Das Mobiltelefonnetz ist zusammengebrochen, und ich kann zu den Zwillingen nicht durchkommen. Ich runde den Preis auf und bezahle, steige vor Schloss Christiansborg aus und zeige einem Polizisten in Kampfuniform meinen Ausweis. Er weiß von nichts. Er willigt ein, mir in den ersten Stock zu folgen, aber die Tasche ist nicht da, wo ich sie zurückgelassen hatte. Der Polizist zeigt mir den Weg zu einem Raum im Keller, wo sie in der Ecke liegt, zusammen mit anderen vergessenen Gegenständen. Auch das Rennrad des Ministers steht dort. Neugierige Finger haben sich an meiner Tasche zu schaffen gemacht, und meine Papiere befinden sich nicht in der üblichen Ordnung. Auf meinen diesbezüglichen Kommentar erhalte ich keine Antwort. Dann gehe ich hinaus zu meinem Fahrrad, lege die Tasche auf das Lenkrad und fahre heimwärts, passiere die Brücke über den Kanal und registriere aus dem Augenwinkel die Menschenmassen in Nyhavn. Die Temperaturen liegen heute bei 20 Grad. Ich radle in den Hof in der Amaliegade und laufe über die Küchentreppe hoch. Albert und Robert sitzen vor dem Fernseher und weinen. Ich setze mich zwischen sie auf das Sofa.

      Das Weinen entsteht in der Tiefe meiner Lungen, braust durch den Hals herauf und aus dem Mund heraus, und in dem Moment beginnen die Zwillinge zu schreien. Wir halten uns umfasst, und sie reißen und zerren an meiner Kleidung, meine Sinne sind in Alarmbereitschaft, ich hole Luft, bekomme aber keinen Sauerstoff. Sie rufen nach ihrer Mutter, sie soll nach Hause kommen, heulen ihre Jungvogelmünder in aufgelösten Gesichtern mit brennenden Augen, die nichts sehen. Ich schnappe nach Luft und halte sie mit aller Kraft fest.

      2

      Ich befreie mich aus dem beengenden Anzug und ziehe mir stattdessen Jeans und ein kurzärmeliges Hemd an, entferne kleine Steinchen und Erde von der Hautabschürfung an meinem Arm, betupfe die Wunde mit lauwarmem Wasser und lasse sie an der Luft trocknen. Es gibt Überlebende, sagen sie im Fernsehen, aber nicht in dem Teil des Hotels, in dem Kassandra gearbeitet hat. Alle Fernsehkanäle zeigen die gleichen, vom Helikopter aufgenommen Bilder des siebzig Meter hohen intakten Gebäudes, das verschont geblieben ist, da anscheinend mehrere Sprengladungen nicht wie geplant gezündet haben, und zoomen die Stelle heran, wo das flachere Nebengebäude mit Konferenzräumen, Büros und Rundfunkstudios gestanden hatte. Es hat sich in einen Berg aus verbogenem Stahl und rauchenden Mauerbrocken verwandelt.

      Ein Sprecher erzählt mit schriller Stimme die Geschichte vom Terror in Dänemark, der seinen Anfang nahm, als eine Tageszeitung Karikaturen des Propheten der Muslime veröffentlicht hatte. Dadurch hatte sich Dänemark in der muslimischen Welt unbeliebt gemacht und war für militante Muslims zum Ziel des Terrors geworden. Seitdem haben die dänischen Geheimdienste eine der Öffentlichkeit nicht bekannte Zahl von Terrorangriffen abgewehrt, aber heute war es schief gegangen. Ein Universitätsprofessor stellt fest, dass das Hotel Danmark vermutlich deshalb zum Ziel gewählt wurde, weil die Sicherheitsmaßnahmen begrenzt gewesen waren, und die Terroristen viele Menschen auf einmal treffen konnten. Die Polizei geht nicht davon aus, dass es sich um eine Selbstmordaktion handelt, sondern dass die Sprengung mit Hilfe eines Handys ferngesteuert wurde. Ich schalte um auf CNN, wo man ebenfalls live vom Ort des Geschehens berichtet.

      „Dänemark – Hans Christian Andersens idyllisches Märchenland in Skandinavien – wurde heute morgen kurz vor neun Uhr Ortszeit von dem schlimmsten Terroranschlag gegen ein westliches Land seit Nine Eleven getroffen. Ein für alle Mal hat menschliche Brutalität den rosafarbenen Firnis und die romantische Unschuld von diesem kleinen Königreich abgeschlagen, das wie die anderen skandinavischen Länder bisher im großen und ganzen von den Grausamkeiten verschont geblieben war, die den Alltag der übrigen Welt schon lange prägen.“

      Ich drehe den Ton leiser, als das Telefon läutet. Es ist Donald, mein direkter Vorgesetzter im Außenministerium, der fragt, wo ich bleibe. Es sei Krisensitzung in der Antiterroreinheit.

      „Das Land befindet sich in der ernstesten Situation seit dem Zweiten Weltkrieg, und du machst frei. Ich erwarte, dich in einer halben Stunde zu sehen.“ Der Hörer wird aufgelegt.

      Ich habe ihm kürzlich erzählt, dass Kassandra nach einer Reihe von Jahren als Produktionsleiterin schließlich ihre eigene Rundfunksendung bekommen hat, und dass diese von den Studios im Hotel Danmark aus gesendet wird, aber er kann natürlich nicht wissen, ob sie im Moment der Sprengung an ihrem Arbeitsplatz war. Donald ist kein Typ für Small Talk. Er hat es durch das Nadelöhr geschafft und kann sich ‚Vortragender Legationsrat Erster Klasse’ nennen; er kann seinen Botschafterposten bereits riechen, und nichts soll dazwischenkommen.

      Aber ich gehe nicht zur Arbeit, ich fahre mit den Zwillingen zum Rigshospital, dem Zentralkrankenhaus. Dort hat man im Erdgeschoss ein Krisenzentrum eingerichtet, mit kleinen, durch Vorhänge abgeschirmten Boxen, mit jeweils einem Schreibtisch und zwei Stühlen, und wir bekommen einen Krisenpsychologen zugeteilt. Ich sage nichts, jetzt geht es erst um die mentale Wiederherstellung der beiden Jungen, und ich lausche ihren tränenerstickten Fragen und Gefühlsentladungen und den wohlgemeinten Ratschlägen des Psychologen, und das Ganze verschmilzt zu brummenden, gellenden, flüsternden, zischenden, schreienden Stimmen, bis mir plötzlich klar ist, dass sie ihre Mutter verloren haben, dass Kassandra tot ist, und dass sie die Konsequenzen nicht überschauen können. Ich kann es auch nicht. Aber jetzt bin ich an der Reihe.

      „Sie werden früher oder später in einen Zustand geraten, in dem Sie Zorn verspüren, wenn Sie an die Verstorbene denken. Das ist ganz natürlich, und es ist wichtig, dass Sie Ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Jegliche Erfahrung zeigt, dass diejenigen, die weinen, schreien, schimpfen und über die Dinge sprechen, am besten durch die Krise kommen“, sagt der bärtige Mann, und ich versuche, seinen Blick hinter den verschmierten Brillengläsern aufzufangen. Ich bin dankbar, dass es Menschen wie ihn gibt, die Energie investieren, um anderen zu helfen. Er hätte ja auch Immobilienhai werden können, Börsenspekulant oder ein böswilliger Banker, den Blick starr auf nichts anderes als den jährlichen Bonus gerichtet, ein roher und rücksichtsloser Kapitalist. Der Blick des Psychologen flackert, die Situation zeigt Wirkung bei ihm, auch er hat Gefühle, selbst wenn er gelernt hat, sie zu kontrollieren, aber so viele Leben, die zu gleicher Zeit über dem Dunkel des Abgrunds hängen, bilden eine gewaltige Kraft, die selbst die solidesten Fundamente zum Bersten bringen können. Ich nicke schnell, will ihm sagen, dass mein Organismus von einer erdrückenden Zwangsjacke der Sinnlosigkeit umschlossen wird, aber die Worte verdorren in meinem Mund. Dann will ich ihm sagen, dass ich am meisten an Albert und Robert denke, die mitten im Abitur stehen und morgen ihre schriftliche Dänisch-Prüfung haben. Ich weiß nicht, ob sie das schaffen, oder ob ich veranlassen kann, dass ihre Prüfungen verschoben werden. Ihr Vater, Martin Fisch, muss wohl auch einbezogen werden. Ja, das ist der von der Dänemark-Partei, sie sehen ihn selten, und für die Jungen bin ich wohl mehr ihr Vater als er, aber trotzdem. Der Psychologe sieht mich fragend an. Martin Fisch wird viel zu tun bekommen. Egal wer hinter der Terroraktion steckt, sie wird noch stärkeren Hass gegen das Unbekannte hervorrufen, seine Sache wird explosionsartig Zuspruch erfahren, und Dänemark wird fremdenfeindlicher werden. Für Martin Fisch eine traumhafte Situation. Jetzt beuge ich mich über den Tisch.

      „Muss ich ihre Leiche identifizieren?“

      „Nach meinen Informationen befand sie sich unmittelbar über einer der Sprengladungen“, sagt der Psychologe so leise, dass ich mich anstrengen muss, ihn zu verstehen.

      „Bedeutet das, dass es nichts zu identifizieren gibt?“

      Er


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