Gesetz des Menschlichen. Jakob Vedelsby

Gesetz des Menschlichen - Jakob Vedelsby


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ich etwas für Sie tun?“

      „Lassen Sie mich mit Alexandros sprechen.“

      Ich reiche ihm den Hörer. Zuerst klingt er gereizt, aber dann bekommt seine Stimme schnell einen sanfteren Klang.

      „Meine Frau und meine Tochter können in der Wohnung nicht wohnen bleiben“, sagt er, nachdem er den Hörer aufgelegt hat. „Ich muss dafür sorgen, dass sie zu meinen Eltern ziehen können. Maria mag die Alten nicht, aber wie ich ihr gesagt habe: Es ist nur für kurze Zeit.“

      In dieser Nacht träume ich wieder, dass die Zeit eine halbe Stunde vorgeht, und dass sich in den dreißig Minuten, die ich verloren habe, alles verändert hat. Ich bin zu spät gekommen, um Kassandra und die Zwillinge vor dem Weltuntergang zu retten, und jetzt stehen wir alle fünf am Fenster, halten uns umfasst und sehen die Raumschiffe voller Menschen zwischen den Sternen verschwinden. Dann beginnen die Feuerkugeln auf den Erdball herabzuregnen. Ich werde allmählich wach und schaue auf die Uhr, um erleichtert festzustellen, dass es die richtige Uhrzeit ist. Ich bin zu nichts zu spät gekommen. Aber sobald ich einschlafe, beginnt der Traum von vorn.

      „Als du heute morgen gegangen warst, kam Alexandros zu mir und begann zu weinen“, sagt Kassandra. „Er ist unglücklich, dass ihm nichts gelingen will. Er kann nicht fliegen, es kommen keine Raumschiffe, die Erde brennt nicht unter unseren Füßen. Da habe ich zu ihm gesagt, es könne gut sein, dass die Dinge nicht auf die Weise geschehen, wie er es sich vorstellt, aber dass das, was geschehen soll, geschieht. Er trägt in der Gesäßtasche eine Art Drehbuch bei sich: ‚Ich bin Jesus, und jetzt begebe ich mich nach Dänemark und treffe Paul Weis, der mich wiedererkennt, und dann kann ich fliegen, und dann kommen die Raumschiffe’. Ich habe ihm gesagt, man würde das bekommen, was man braucht, und nicht immer das, um was man bittet. Ich habe auch gesagt, dass ein Besuch in einem Raumschiff und eine Flugreise mit eigenen Flügeln nicht weiter entfernt sind als ein Gedanke oder ein Traum. Es ist möglich, sich in anderen Wirklichkeiten zu bewegen, indem man seinen Bewusstseinszustand ändert. Man braucht nicht immer körperlich zu reisen. Das ist meistens ein Bedürfnis des Ego. Wenn man auf diese Art im Leben auf Widerstand trifft, ist es, als würde man gleichzeitig auf Gaspedal und Bremse treten. Du musst es akzeptieren und dich darüber freuen, dass du zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort bist, und nicht glauben, du müsstest ein anderer sein als der, der du bist, oder woanders sein als dort, wo du bist.“

      Ich stehe am Wohnzimmerfenster und betrachte den Himmel über Kopenhagen. An den Bäumen entlang der Straße kann ich sehen, dass es windstill ist, aber trotzdem sammeln sich die Wolken schnell, das Licht nimmt ab und rund um die schwarze Himmelsfläche bildet sich ein Rand aus Sonne. Ist es Ashtars Mutterschiff, dass seinen Körper langsam über die Stadt herabsenkt? In meinen Gedanken heiße ich Ashtar auf der Erde willkommen. Du wirst voller Liebe und Sehnsucht erwartet, denke ich, und indem ich die Worte dem Himmel entgegenhauche, öffnet sich eine Lücke in der Wolkendecke, und ein Sonnensäbel schlitzt den Horizont auf. Ich spüre eine Bewegung ganz in meiner Nähe und drehe mich um. Es ist Alexandros, der lautlos ins Zimmer getreten ist und jetzt neben mir steht. Er legt seine Hand auf meinen Arm.

      „Bald ist die Zeit gekommen“, flüstert er. „Ich habe mehr Kraft als je zuvor, und du auch. Ich glaube, sie haben so lange gewartet, bis wir beide bereit sind. Das sind wir jetzt. Und wenn ich zuvor gezweifelt habe, jetzt nicht mehr. Sieh den Himmel, die Wolken, das Schiff. Es ist dein Schiff und meines, Carl, und das unserer Familien und Freunde. Es ist eine lange Reise gewesen, und jetzt steht eine neue und noch längere bevor. Erst jetzt verstehe ich, dass du und ich hier auf der Erde demselben Zweck dienen: andere zu inspirieren, im Namen der Liebe zu leben und uns hinauf in die Raumschiffe zu folgen. Später werden wir jeder für sich bei der Gründung neuer Zivilisationen auf der neu erstandenen Erde an der Spitze stehen. Und denk daran, Carl, wenn ihr meine Kraft braucht, dann müsst ihr nur an mich denken, und wenn ich eure brauche, denke ich an euch. Man kann niemals zuviel geben.“

      In dieser Nacht träume ich, dass ich nach einer universellen Formel suche, mit der sich der Untergang der Erde hinauszögern lässt, wenn die Formel innerhalb von vierundzwanzig Stunden von zwölf verschiedenen Menschen an zwölf verschiedenen Orten verlesen wird. Ich bin einer der Auserwählten, welche die Formel präsentiert bekommen werden und die daraufhin einen hochgelegenen Ort in der Natur suchen und die Mission ausführen sollen. Ich habe mir bereits den Gipfel des Himmelsberges in Jütland ausgesucht. Von dort oben werde ich die Formel in alle Himmelsrichtungen verlesen, so dass die Botschaft vom Wind, von der Sonne und von den Wolken erfasst wird, bis alle in meinem Territorium Bescheid wissen, dass das Jüngste Gericht abgesagt ist. Ich sorge dafür, dass das Auto stets vollgetankt und startklar ist, und Tag für Tag warte ich auf Bescheid, wo ich die Formel finden kann. Ich stelle mir vor, dass ich plötzlich eine Adresse vor meinem inneren Auge sehen und instinktiv wissen werde, dass ich dorthin fahren und in eine Garage gehen werde, in der eine weiße Limousine steht. Ich werde die Tür aufbrechen und auch das Handschuhfach, wo ich ein Stück Pergament mit einer weiteren Adresse und eine Zeichnung finde, die auf die Ecke eines Gartens nahe eines Seeufers hinweist, wo eine Blechschachtel mit einem ähnlichen Stück Pergament mit einer neuen Adresse einer nahe gelegenen Villa vergraben ist, in deren Keller eine Kiste mit doppeltem Boden steht. In dem Geheimfach wird ein glatt geschliffener Stein liegen. Und dann wird es genau so ablaufen: Ich stecke den Stein in die Tasche und fahre mit hoher Geschwindigkeit zum Himmelsberg. Im Radio kann ich hören, dass die Kriegszerstörungen näher kommen. Keine Seite will einlenken, alle Verhandlungen sind eingestellt worden. Ich sehe mich nach Ashtars Flotte um, der sich wohl gerade anschickt, zur Landung anzusetzen, um die auserwählten Erdbewohner mitzunehmen. Aber ich kann keine Raumschiffe entdecken, und Panik ergreift mich. Jetzt beginnt die Erde unter dem Auto zu beben, und ich sehe einen Regen aus Feuerkugeln, die sich über den Himmel bewegen. Ich bremse, springe aus dem Wagen und schleudere den Stein mit aller Macht in den Himmelsraum. Aber in dem Moment wird die Erde von den Raketen getroffen, und ich höre ein Zischen wie von einem Schwarm Heuschrecken, die dicht an meinen Ohren vorbeifliegen und mit dem Lichtblitz eins werden.

      In dieser Nacht verschwindet Alexandros. Er packt seine Tasche im Schutz der Dunkelheit und stiehlt sich davon. Er hat eine Nachricht hinterlassen: ‚Es ist noch nicht soweit. Wir sehen uns, wenn die Zeit gekommen ist.“

      Ist jetzt die Zeit gekommen, Alexandros? Waren die Terrorangriffe in Europa der Start des Countdowns für den Kollaps der Erde? Hast du beschlossen, selbst den Prozess zu beschleunigen, den du für unausweichlich hältst? Wo bis du jetzt? Reist du immer noch herum und besuchst Leute, die du nicht kennst, und erzählst ihnen, sie hätten in der kommenden Welt eine wichtige Rolle zu spielen? Hast du inzwischen allmählich gelernt, aus eigener Kraft zu fliegen, Alexandros? Und kommt Ashtar bald und sammelt dich auf?

      Die Unruhe ist zurückgekommen wie ein kalter Nebel, der durch meinen Organismus rauscht. Mir ist schwindelig. Es ist auch die Hitze, ich habe heute Abend kein Wasser getrunken, nur Wein. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Wie soll ich jemals einschlafen? Ich tue mich schwer mit dem Schlafen hier in Athen. Dabei habe ich das beste Bett der Welt gekauft, aus Schweden, und habe es von vier stöhnenden, schwitzenden Griechen in meine Wohnung hinauf schleppen lassen, aber es nützt nichts. Hier gibt es Laute, die ich nicht deuten kann, und hinzu kommt, dass die feuchte Hitze Athens auf den Kältesturm aus der rasselnden Klimaanlage direkt über dem Bett trifft, und zu all dem kommt noch hinzu, dass ich allein bin.

      Deshalb bleibe ich sitzen. Ich schließe die Augen und beuge mich vor, der Nacken gibt nach, und mein Kopf rutscht auf die Betonkante des Balkons herab. Die Wangen sind schlaff, und im Bewusstsein, dass ich am Rand des Schlafes balanciere, fällt mir das Atmen schwer. Jetzt rollt eine Schweißperle über meine Stirn herunter auf den Nasenrücken. Sie bleibt an der Nasenspitze hängen und saugt sich mit Flüssigkeit voll, bevor sie endlich loslässt und vier Etagen hinunter auf die Marmorplatten fällt. Als sie ihr Endziel erreicht, stehe ich mit einem Ruck auf und gehe in die Wohnung hinein. Ich werfe mich auf das Sofa, und in der Sekunde, bevor ich einschlafe, erkenne ich den Duft nach frisch gegerbtem Leder wieder. So duftete die Tasche, die mir Kassandra an dem Tag geschenkt hatte, an dem sie starb.

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