Der letzte Mensch. Mary Shelley

Der letzte Mensch - Mary Shelley


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Sie hatte nichts vom Geist eines Märtyrers an sich und war nicht geneigt, die Schande und Niederlage eines gefallenen Patrioten zu teilen. Sie war sich der Reinheit seiner Motive, der Großzügigkeit seiner Veranlagung, seiner aufrichtigen und glühenden Liebe zu ihr bewusst, und sie empfand eine große Zuneigung für ihn. Er erwiderte diesen Geist der Güte mit liebevoller Dankbarkeit und machte sie zur Schatzkammer all seiner Hoffnungen.

      Zu dieser Zeit kehrte Lord Raymond aus Griechenland zurück. Keine zwei Personen könnten gegensätzlicher sein als Adrian und er. Trotz all der Widersprüchlichkeiten seines Charakters war Raymond eindeutig ein Mann von Welt. Er neigte zur Unbeherrschtheit; da seine Leidenschaften oft die Kontrolle über ihn erlangten, konnte er sein Verhalten nicht immer zu seinen Gunsten steuern, doch er handelte stets voller Selbstsucht. Er betrachtete die Struktur der Gesellschaft als einen Teil der Maschinerie, die das Netz, auf dem sein Leben beruhte, stützte. Die Erde breitete sich vor ihm aus wie eine Straße, der Himmel türmte sich über ihm als ein Baldachin auf.

      Adrian fühlte, dass er Teil eines großen Ganzen war. Er empfand nicht nur eine Verbundenheit mit den Menschen, sondern zur ganzen Natur; die Berge und der Himmel waren seine Freunde, die Winde des Himmels und der Bewuchs der Erde seine Spielkameraden. Während er sich nur auf diesen mächtigen Spiegel konzentrierte, spürte er, wie sich sein Leben mit dem Universum der Existenz vermischte. Seine Seele war voller Zuneigung und ganz dem Schönen und Guten gewidmet. Adrian und Raymond kamen nun in Kontakt, und es entwickelte sich eine Abneigung zwischen ihnen. Adrian lehnte die engstirnigen Ansichten des Politikers ab, Raymond wiederum verachtete die wohltätigen Visionen des Philanthropen zutiefst.

      Mit der Ankunft Raymonds kam der Sturm auf, der auf einen Schlag die Gärten der Freude und der lauschigen Pfade verwüstete, die Adrian sich als eine Zuflucht vor Niederlage und Schmach gesichert zu haben glaubte. Raymond, der Befreier Griechenlands, der elegante Soldat, der in seiner Miene einen Hauch von allem, was ihrer Heimat zugehörig war, trug, wurde von Evadne verehrt – er wurde von Evadne geliebt. Überwältigt von ihren neuen Empfindungen, hielt sie nicht inne, um sie zu bedenken oder ihr Verhalten durch irgendwelche anderen Gefühle zu steuern außer dem unwiderstehlichen, das plötzlich Besitz von ihrem Herzen ergriff. Sie gab seinem Einfluss nach, und die nur zu natürliche Konsequenz eines Geistes, der sanfte Gefühle nicht gewohnt ist, war, dass die Aufmerksamkeit Adrians ihr unangenehm wurde. Sie wurde launisch; ihr zärtliches Verhalten ihm gegenüber wich Schroffheit und zurückweisender Kälte. Wenn sie den gefühlvollen Ausdruck seines Gesichtes wahrnahm, gab sie zuweilen nach und nahm für eine Weile wieder ihre alte Freundlichkeit an. Aber diese Schwankungen erschütterten die Seele des empfindsamen Jünglings bis ins Mark; er glaubte nicht mehr, dass die Welt ihm gehörte, weil er Evadnes Liebe besaß; er fühlte in jedem Nerv, dass die schrecklichen Stürme des geistigen Universums seine zerbrechliche Seele angreifen würden, die in der Erwartung ihres Erscheinens zitterte.

      Perdita, die damals bei Evadne lebte, sah die Marter, die Adrian erduldete. Sie liebte ihn als einen freundlichen älteren Bruder; einen Verwandten, der sie führte, schützte und unterrichtete, ohne die allzu häufige Tyrannei der elterlichen Autorität. Sie verehrte seine Tugenden und sah mit gemischter Verachtung und Entrüstung, wie Evadne wegen eines andern, der sie kaum beachtete, düstere Trauer über ihn brachte. In seiner einsamen Verzweiflung besuchte Adrian oft meine Schwester und drückte in verdeckten Begriffen sein Elend aus, während Stärke und Pein um den Thron seines Geistes rangen. Bald, ach! würde einer besiegt sein. Wut machte keinen Teil seiner Gefühle aus. Auf wen sollte er wütend sein? Nicht auf Raymond, der von dem Elend, das er verursachte, nichts wusste; nicht auf Evadne, für sie weinte seine Seele blutige Tränen – das arme, fehlgeleitete Mädchen, das Sklavin, nicht Tyrannin war, und unter seiner eigenen Qual betrauerte er ihr zukünftiges Schicksal. Einmal fiel Perdita ein Schreiben von ihm in die Hände; es war mit Tränen befleckt – möge ein jeder es damit beflecken –

      »Das Leben« – so begann es – »ist nicht das, als was Romanschreiber es beschreiben; die Schritte eines Tanzes machen und nach verschiedenen Drehungen zu einem Abschluss kommen, worauf die Tänzer sich setzen und ausruhen können. Im wahren Leben gibt es Handlungen und Veränderungen. Wir gehen voran, in Gedanken stets mit unserm Ursprung verbunden, jede Handlung folgt einer früheren Handlung. Keine Freude oder Trauer stirbt ohne Nachkommenschaft, welche, stets hervorgebracht und selbst Neues hervorbringend, die Kette flicht, die unser Leben ist:

       Tage rufen andre Tage

      Und verketten je und je

      Klag um Klage, Weh um Weh.

      Wahrhafte Enttäuschung ist die Schutzgöttin des menschlichen Lebens; sie sitzt an der Schwelle der ungeborenen Zeit und ordnet die zukünftigen Ereignisse. Einst hüpfte mein Herz leicht in meiner Brust; die ganze Schönheit der Welt war doppelt schön, bestrahlt von dem aus meiner eigenen Seele gegossenen Sonnenlicht. O warum verbindet sich die Liebe in unserem sterblichen Traum stets mit dem Untergang? So dass, wenn wir unser Herz zu einem Lager für dies sanft anmutende Geschöpf machen, stets sein Gefährte mit ihm eintritt und erbarmungslos in Schutt und Asche legt, was ein Zuhause und eine Zuflucht hätten sein können.«

      Nach und nach wurde seine Gesundheit durch sein Elend erschüttert, und dann gab auch sein Verstand der Marter nach. Sein Benehmen wurde wild; er war zuweilen rasend, zuweilen in stumme Melancholie versunken. Plötzlich verließ Evadne London und reiste nach Paris; er folgte ihr und holte sie ein, als das Schiff im Begriff war abzusegeln; niemand wusste, was zwischen ihnen vorfiel, doch Perdita hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen; er lebte in Abgeschiedenheit, niemand wusste, wo, in der Begleitung von Personen, die seine Mutter für diesen Zweck ausgewählt hatte.

      Kapitel 4

      Am nächsten Tag sprach Lord Raymond auf dem Weg nach Schloss Windsor bei Perditas Hütte vor. Die roten Wangen und die funkelnden Augen meiner Schwester verrieten mir halb ihr Geheimnis. Er war vollkommen selbstbeherrscht; er sprach uns beide mit Höflichkeit an, schien sofort unsere Gefühle zu verstehen und mit uns übereinzustimmen. Ich musterte den Ausdruck seines Gesichts, das sich veränderte, während er sprach, aber in jeder Veränderung schön war. Der übliche Ausdruck seiner Augen war weich, obschon sie zuweilen vor Wildheit blitzten; seine Hautfarbe war hell; und aus jedem seiner Gesichtszüge sprach vorherrschend Eigenwille; sein Lächeln war angenehm, obschon er zu häufig verächtlich seine Lippen kräuselte – Lippen, die für weibliche Augen das Höchste an Schönheit und Liebe waren. Seine für gewöhnlich sanfte Stimme erschreckte oft durch einen hohen, misstönenden Klang, welcher zeigte, dass sein üblicher tiefer Ton eher das Werk der Übung als der Natur war. So voller Widersprüche, unbeugsam, doch hochmütig, sanft und doch wild, zärtlich und wiederum nachlässig, fand er durch eine seltsame Kunst einen leichten Zugang zur Bewunderung und Zuneigung der Frauen; sie erst liebkosend und dann tyrannisierend, je nach seiner Stimmung, aber in jeder Veränderung ein Despot.

      Bei jener Gelegenheit wollte Raymond offensichtlich liebenswürdig erscheinen. Witz, Heiterkeit und tiefsinnige Betrachtungen vermischten sich in seiner Rede und verwandelten jeden Satz, den er äußerte, in einen Lichtblitz. Er überwand bald meine heimliche Abneigung; ich bemühte mich, ihn und Perdita zu beobachten und mich an alles zu erinnern, was ich zu seinem Nachteil gehört hatte. Doch alles erschien so aufrichtig, und alles war so faszinierend, dass ich bald nur noch an das Vergnügen dachte, das seine Gesellschaft mir bereitete. Um mich mit der Bühne der englischen Politik und Gesellschaft, von der ich bald ein Teil werden sollte, vertraut zu machen, erzählte er eine Reihe von Anekdoten und skizzierte viele Charaktere; seine Worte flossen reich und vielfältig dahin und erfüllten alle meine Sinne mit Vergnügen. Wäre da nicht eine Sache gewesen, hätte er vollkommen triumphiert. Er kam auf Adrian zu sprechen und sprach von ihm mit jener Herabsetzung, mit der die weltlichen Weisen den Enthusiasmus stets bedenken. Er nahm die aufziehende Wolke wahr und versuchte sie zu zerstreuen; aber die Stärke meiner Gefühle erlaubte mir nicht, so leicht über diesen Gegenstand hinwegzugehen; so sagte ich mit Nachdruck: »Gestatten Sie mir zu bemerken, dass ich dem Graf von Windsor treu ergeben bin; er ist mein bester Freund und Wohltäter. Ich verehre seine Güte, ich stimme seinen Meinungen zu und beklage bitter seine gegenwärtige und, wie ich vertraue, vorübergehende Unpässlichkeit. Diese Krankheit macht es mir wegen ihrer Eigentümlichkeit über die Maßen schmerzlich, von ihm anders sprechen


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