Der letzte Mensch. Mary Shelley
ich habe euch von unparteiischen Zuschauern loben hören, ihr seid die Freunde meines Bruders, deshalb müsst ihr auch die meinen sein. Was kann ich sagen? Wenn ihr euch weigert, mir zu helfen, bin ich in der Tat verloren!« Sie richtete die Augen gen Himmel, während ihr verwundertes Publikum schweigend lauschte; dann rief sie, wie von ihren Gefühlen übermannt: »Mein Bruder! Geliebter, unglückseliger Adrian! Was sagst du zu deinen üblen Geschicken? Zweifellos habt ihr beide die gegenwärtige Geschichte gehört; glaubt der Verleumdung womöglich; doch er ist nicht von Sinnen! Selbst wenn ein Engel vom Fuße des Thrones Gottes dies behaupten würde, so würde ich es doch niemals, niemals glauben. Er wird betrogen, verraten, eingekerkert – rettet ihn! Verney, Sie müssen es tun, suchen Sie ihn, in welchem Teil der Insel auch immer er verborgen wird, finden Sie ihn, retten Sie ihn vor seinen Verfolgern, stellen Sie ihn für sich selbst wieder her, für mich – auf der ganzen Erde kann ich niemanden lieben als nur ihn allein!«
Ihr ernsthafter Appell, so süß und leidenschaftlich ausgedrückt, erfüllte mich mit Verwunderung und Mitgefühl; und, als sie mit aufgeregter Stimme und Blick hinzufügte, »Sind Sie bereit, dieses Unternehmen zu wagen?«, schwor ich voller Tatkraft und Aufrichtigkeit, mich der Wiederherstellung und dem Wohlergehen Adrians in Leben und Tod zu widmen. Dann besprachen wir den Plan, den ich verfolgen sollte, und die wahrscheinlichsten Mittel, um seinen Aufenthaltsort zu entdecken. Während wir uns ernst unterhielten, kam Lord Raymond unangekündigt herein. Ich sah Perdita zittern und erbleichen und die Wangen Idris’ hoch erröten. Er hätte erstaunt über unsere Versammlung gewesen sein müssen, sogar bestürzt; doch er war weder das eine noch das andere; er grüßte meine Gefährtinnen und sprach mich mit einem herzlichen Wort an. Idris verstummte für einen Augenblick und sagte dann mit äußerster Liebenswürdigkeit: »Lord Raymond, ich vertraue auf Ihre Güte und Ehre.«
Er lächelte hochmütig, neigte sein Haupt und fragte eindringlich: »Vertrauen Sie wirklich, Lady Idris?«
Sie bemühte sich, seine Gedanken zu lesen, und antwortete dann mit Würde: »Wie es Ihnen beliebt. Es ist gewiss am besten, sich nicht durch irgendeine Verschleierung zu kompromittieren.«
»Verzeihen Sie mir«, antwortete er, »falls ich Sie beleidigt habe. Ob Sie mir vertrauen oder nicht, Sie können sich stets darauf verlassen, dass ich mein Äußerstes tun werde, um Ihre Wünsche zu erfüllen, worin auch immer diese bestehen mögen.«
Idris lächelte zum Dank und erhob sich, um zu gehen. Lord Raymond bat um die Erlaubnis, sie nach Schloss Windsor zu begleiten, was sie ihm bewilligte, und sie verließen die Hütte gemeinsam. Meine Schwester und ich blieben zurück – wahrhaft wie zwei Narren, die glaubten, sie hätten einen goldenen Schatz erhalten, bis er sich im Tageslicht als Blei erwies – zwei dumme, glücklose Fliegen, die in den Sonnenstrahlen gespielt hatten und sich dabei im Spinnennetz verfingen. Ich lehnte mich gegen den Fensterflügel, beobachtete diese beiden herrlichen Wesen, bis sie in den Waldlichtungen verschwanden, und wandte mich dann um. Perdita hatte sich nicht bewegt; ihre Augen waren auf den Boden gerichtet, ihre Wangen blass, ihre Lippen weiß. Regungslos und steif, jeder Zug in ihrem Antlitz von Kummer gezeichnet, saß sie da. Erschrocken ergriff ich ihre Hand, doch sie zog sie zitternd zurück und rang um Fassung. Ich bat sie, mit mir zu sprechen: »Nicht jetzt«, antwortete sie, »und sprich auch du jetzt nicht mit mir, mein lieber Lionel; du kannst nichts sagen, denn du weißt nichts. Ich werde dich morgen sehen.« Sie erhob sich und ging aus dem Zimmer; sie hielt jedoch an der Tür inne, lehnte sich dagegen, als hätten ihre schwermütigen Gedanken ihr die Kraft genommen, sich aufrecht zu halten, und sagte: »Lord Raymond wird wahrscheinlich zurückkehren. Wirst du ihm sagen, dass er mich heute entschuldigen muss? Denn es geht mir nicht gut, ich werde ihn morgen sehen, wenn er es wünscht, und dich ebenfalls. Du solltest besser mit ihm nach London zurückkehren, dort kannst du die vereinbarten Erkundigungen über den Graf von Windsor einholen und mich morgen wieder besuchen, bevor du weiterreist – bis dahin, leb wohl!«
Sie sprach stockend und schloss mit einem schweren Seufzer. Ich gewährte ihr die Bitte, und sie verließ mich. Ich fühlte mich, als sei ich aus der Ordnung der systematischen Welt ins Chaos gestürzt, ins Finstere, Widersprüchliche, Unverständliche. Dass Raymond Idris heiraten sollte, war unerträglicher denn je; doch war meine Leidenschaft, obwohl sie von Geburt an stark war, zu roh und ungeübt, als dass ich das Elend, das ich in Perdita wahrgenommen hatte, sofort gespürt hätte. Was sollte ich tun? Sie hatte sich mir nicht anvertraut; ich konnte von Raymond keine Erklärung verlangen, ohne die Gefahr einzugehen, ihr vielleicht am sorgfältigsten gehütetes Geheimnis zu verraten. Ich würde die Wahrheit am nächsten Tag von ihr erhalten – in der Zwischenzeit – aber während ich damit beschäftigt war, mir immer mehr Gedanken zu machen, kehrte Lord Raymond zurück. Er fragte nach meiner Schwester, und ich übermittelte ihre Nachricht. Nachdem er einen Augenblick darüber nachgedacht hatte, fragte er mich, ob ich nach London zurückkehren würde und ob ich ihn begleiten wolle. Ich stimmte zu. Er war gedankenverloren und blieb während eines beträchtlichen Teils unseres Ritts still; endlich sagte er: »Ich muss mich bei Ihnen für meine Abwesenheit entschuldigen, die Wahrheit ist, Rylands Antrag kommt heute Abend an die Reihe und ich denke über meine Antwort nach.«
Ryland war der Führer der Volkspartei, ein dickköpfiger und auf seine Weise fähiger Mann. Er hatte die Erlaubnis erhalten, einen Gesetzentwurf einzubringen, der darauf abzielte, den Versuch, den gegenwärtigen Stand der englischen Regierung und die geltenden Gesetze der Republik zu ändern, zum Verrat zu erklären. Dieser Angriff richtete sich gegen Raymond und seine Pläne zur Wiederherstellung der Monarchie.
Raymond fragte mich, ob ich ihn an diesem Abend ins Parlament begleiten würde. Ich erinnerte mich an meine Suche nach Informationen über Adrian; und in dem Wissen, dass meine Zeit voll beansprucht sein würde, entschuldigte ich mich. »Nun«, sagte mein Begleiter, »ich kann Sie von Ihrem gegenwärtigen Hinderungsgrund befreien. Sie haben vor, Erkundigungen bezüglich des Grafen von Windsor einzuziehen. Ich kann sie Ihnen sofort beantworten, er ist auf dem Gut des Herzogs von Athol in Dunkeld. Beim ersten Auftreten seiner Erkrankung reiste er von einem Ort zum andern, bis er, als er in diese romantische Abgeschiedenheit kam, sich weigerte, sie zu verlassen, und wir Vereinbarungen mit dem Herzog trafen, damit er dort bleiben konnte.«
Ich war von dem achtlosen Ton verletzt, mit dem er mir diese Nachricht überbrachte, und antwortete kalt: »Ich bin Ihnen für Ihre Auskunft verpflichtet und werde davon Gebrauch machen.«
»Tun Sie das, Verney«, sagte er, »und wenn Sie an Ihrem Vorhaben festhalten, werde ich es Ihnen erleichtern. Aber bitte bezeugen Sie zuerst das Ergebnis des Disputs dieser Nacht, und den Triumph, den ich im Begriff bin zu erreichen, wenn ich es so nennen darf, während ich fürchte, dass der Sieg für mich in Wahrheit eine Niederlage ist. Was kann ich tun? Meine größten Hoffnungen scheinen ihrer Erfüllung nahe zu sein. Die vormalige Königin gibt mir Idris, Adrian ist völlig unfähig, das Erbe eines Grafen anzutreten, und dieser Titel wird in meinen Händen zum Königreich. Bei Gott, der kümmerliche Titel eines Grafen von Windsor wird denjenigen, der die Rechte erwirbt – die dem, der sie besitzt, auf ewig zustehen müssen –, nicht mehr zufriedenstellen. Die Gräfin wird niemals vergessen, dass sie eine Königin war, und sie wird sich nicht dazu herablassen, ihren Kindern ein vermindertes Erbe zu hinterlassen; ihre Macht und meine Klugheit werden den Thron wiedererrichten, und diese Stirn wird von einem königlichen Diadem geschmückt werden. – Ich kann dies bewirken – ich kann Idris heiraten.« –
Er verstummte jählings, sein Antlitz verdunkelte sich und sein Ausdruck veränderte sich immer wieder unter dem Einfluss in ihm kämpfender Leidenschaften. Ich fragte: »Liebt Lady Idris Sie?«
»Was für eine Frage«, antwortete er lachend. »Sie wird mich natürlich ebenso lieben wie ich sie, wenn wir verheiratet sind.«
»Sie fangen es verkehrt an«, sagte ich spöttisch, »die Ehe wird gewöhnlich als das Grab und nicht als die Wiege der Liebe betrachtet. Also werden Sie sie lieben, aber Sie tun es noch nicht?«
»Verhören Sie mich nicht, Lionel, seien Sie versichert, dass ich meine Pflicht ihr gegenüber erfüllen werde. Liebe! Ich muss mein Herz dagegen stählen, sie von ihrem starken Turm vertreiben, mich verbarrikadieren: die Quelle der Liebe muss aufhören zu sprudeln, ihre Wasser ausgetrocknet werden, und alle leidenschaftlichen Gedanken, die damit einhergehen, sterben