Der böse Blick. Björn Larsson
waren. Viele der heiligen Krieger der GIA hatten ihr Leben im Kampf für Allah und den Islam gelassen. Rachid sollte zeigen, dass es nicht vergeblich gewesen war. Außerdem würde ihm die Aktion ewigen Ruhm einbringen. Der edle Schreiber an Allahs Seite, der alle guten Taten eines Menschen notierte, sollte mit Freude zur Feder greifen. Und niemand auf der Welt würde jemals vergessen, dass es Rachid war, der hinter der Auslöschung stand; ein ganzes Wohnviertel mit Tausenden von Menschen sollte auseinander gesprengt und in den Abgrund gerissen werden, um schließlich in der Sintflut des Grundwassers zu ertrinken – ein unvergleichliches Symbol für die Niederlage der westlichen Welt. Nachdem er alle Details überprüft hatte, ging er zum Victoriaschacht zurück. Dort hielt er inne und blickte durch den langen Trichter, der sich weit über seinem Kopf befand, zum schwarzen Morgenhimmel empor. Er hatte seinen kommenden Triumph vor Augen. Das Paradies war nah, so nah, dass er fast meinte, es berühren zu können: Für den aber, der seines Herrn Rang gefürchtet, sind der Gärten zwei. Beide mit Zweigen. In ihnen sind zwei eilende Quellen. In ihnen sind von jeder Frucht zwei Arten. Sie sollen sich lehnen auf Betten, mit Futter aus Brokat, und die Früchte der beiden Gärten sind nahe. In ihnen sind keusch blickende Mädchen, die weder Mensch noch Dschānn zuvor berührte. Als wären sie Hyazinthe und Korallen. In ihnen sind gute und schöne Mädchen. Hūris, verschlossen in Zelten. Die weder Mensch noch Dschānn zuvor berührte.
Sein Herz pochte so heftig, dass er sich in der unterirdischen Stille einbildete zu hören, wie das Echo zwischen den Tunnelwänden hin und her sprang. Er sah, wie der Imam ihn empfing und Hunderte jubelnder Mudschaheddin ihm zu Ehren Gewehrsalven in die Luft schossen. Er sah, wie die schönen Jungfrauen im Paradies ihn erwarteten.
Inmitten der Euphorie zuckte er zusammen. Hatte er ein Geräusch gehört? Er rieb sich die Augen und schlug sich ins Gesicht. Was fiel ihm nur ein! Er hatte sich von seiner Fantasie mitreißen lassen. Das war eine unverzeihliche Sünde. Seine Lehrmeister hatten ihn gewarnt: Nichts dürfe sich zwischen Allah und die Wirklichkeit drängen, keine Fantasie, keine Träume, keine Geschichten. Denn diese waren Trugbilder, die von der einzig wahren Erzählung ablenkten: Wer ist sündiger, als wer wider Allah eine Lüge ersinnt oder Seine Zeichen der Lüge zeiht? Der Wahn nützt nichts gegen die Wahrheit.
Ein beträchtlicher Teil seiner Ausbildung zielte darauf ab, sich niemals in das Leben eines Menschen hineinzuversetzen, auch nicht in sein eigenes und vor allem nicht in das eines Ungläubigen. Helft mir mit Kräften, und ich will zwischen euch und zwischen sie einen Grenzwall ziehen. Einfühlung war Verständnis, und Verständnis bedeutete zu akzeptieren, dass Menschen das Recht hatten, ein gottloses Leben zu führen. Doch es gab nur eine Wahrheit, die Wahrheit Allahs, so wie sie sich im Koran und in der Sunna, den Sprüchen des Propheten, offenbarte. Alles andere war Lüge.
Er durfte sich nicht vorstellen, wie es sein würde, in wenigen Monaten Rachid der Held zu sein. Unter keinen Umständen durfte er an die Menschen denken, deren Leben geopfert werden musste. Allah hatte ihn beauftragt, die Gottlosen zu töten. Also war es auch an Allah, zu urteilen und Mitleid zu zeigen. Nicht an ihm. Er diente ausschließlich dem Dschihad und der Wahrheit. Er durfte nicht vom Weg abweichen. Dass viele Mitglieder der GIA Naturwissenschaftler und Ingenieure waren wie er, war kein Zufall. Die wussten, dass man stets mit der notwendigen Präzision arbeiten musste. Die waren sich im Klaren, dass man alle Variablen, inklusive des Menschen, in Betracht ziehen musste, um das Ziel zu erreichen. Doch er begriff, dass diese Eigenschaften es ihm schwer machten, das Vertrauen seiner Kollegen zu gewinnen und jemanden zu finden, der ihm helfen konnte. Dass die meisten von ihnen zu den Einwanderern der ersten Generation gehörten und den Bürgerkrieg noch in frischer Erinnerung hatten, spielte keine Rolle. Das Geld und die westliche Dekadenz hatte sie bereits verdorben. Vor allem waren es Facharbeiter, die besser bezahlt wurden als die meisten anderen Ausländer. Die meisten von ihnen würden ihn bedenkenlos anzeigen.
Nur einer war anders: Ahmed. Wer war er? Er hatte nie von sich selbst gesprochen. Ahmed war nicht so wie die anderen. Er verbarg etwas. Rachid hatte versucht, etwas über seinen persönlichen Hintergrund in Erfahrung zu bringen, doch ohne Erfolg. Als existierte Ahmed nicht. Oder wäre ein anderer, ein Rätsel, das es zu lösen galt, ein nicht entzifferbarer Code. Wenn er Ahmed sah, musste Rachid an eine große Raubkatze denken, einen verwundeten Tiger, der nachts herumstrich und angriff, wenn man am wenigsten damit rechnete. Rachid wünschte sich, Ahmeds Geheimnis zu kennen. Er brauchte jemanden, der so war wie dieser: wachsam, verschwiegen und stark. Mit Ahmed wäre das menschliche Problem gelöst. Doch bisher hatte Ahmed alle Versuche Rachids, mit ihm in Kontakt zu treten, abgewehrt und selbst auf Fragen kaum etwas geantwortet.
Es brauchte Geduld und Vertrauen. Früher oder später würde sich mit Allahs Hilfe eine Tür öffnen. Irgendjemand würde eines Tages Rachids Hilfe in Anspruch nehmen, was diesen in die Lage versetzte, eine Gegenleistung zu fordern. Man musste nur auf die richtige Gelegenheit warten. Bis dahin ging es nur um eines: die Aktion minutiös vorzubereiten, um jederzeit zuschlagen zu können.
2
»Dreckiger Araber!«
Ahmed schaute aus den Augenwinkeln zu Fatima, die ungerührt vor sich hin sah. »Kanake!«
Jetzt blickte Fatima rasch zu ihm auf. Er erwiderte ihren Blick und lachte. Das waren hässliche Wörter, aber sie töteten nicht. Zumindest nicht auf der Stelle.
Doch dann kam der Stein. Er traf Fatima am Hinterkopf. Sie wankte und stieß einen Schrei aus. Sie wusste, dass man keine Angst zeigen durfte. Genau wie bei bissigen Hunden. Ahmed sah, wie das Blut zwischen ihren pechschwarzen Haaren hervorsickerte, es rot färbte und langsam den Nacken hinunterlief. Sie drehte sich um. Zwei Männer mit Glatzen und Lederjacken zeigten ihr den Mittelfinger. Ihre Gesichter fraßen sich in ihr Gedächtnis und die Wunden fanden Eingang in die Schreckenskammer, die einen immer größeren Teil ihres Kopfes einnahm.
»Kannst du gehen?«, fragte er.
Fatima nickte. Ihr Gesicht war angespannt. Sie hatte Schmerzen, weinte jedoch nicht.
Plötzlich hatte Ahmed seine Schwester vor Augen. Auch sie war stark gewesen. Allzu stark. Als sie starb, war sie in Fatimas Alter gewesen. Sie war keine fünfzehn, als sie von der DOP, der Sondereinheit der französischen Armee für operativen Schutz, zu Tode gefoltert wurde.
Als Fatima und er nach Hause kamen, war Mireille bereits da. Ahmed erzählte, was geschehen war. Gemeinsam reinigten sie Fatimas Wunde und legten einen Verband an. Danach setzten sich alle drei auf das Sofa und umarmten sich still. Nachdem Fatima aufgehört hatte zu zittern, stand Ahmed auf.
»Ich habe vergessen, Zigaretten zu kaufen. Ich bin gleich wieder da.«
Mireille schaute ihn an, sagte jedoch nichts.
»Soll ich dir etwas mitbringen?«, fragte Ahmed mit Blick auf Fatima.
»Ein Buch.«
Ahmed nickte. Neben dem Café, in dem er seine Zigaretten kaufte, befand sich eine Buchhandlung. Dort gab Fatima beinahe ihr gesamtes Taschengeld aus.
Ahmed lief die zehn Treppen hinunter und zum Park zurück. Schon aus großer Distanz erkannte er die beiden Männer. Sie standen immer noch an derselben Stelle wie vorhin, als er und Fatima an ihnen vorbeigegangen waren. Sie hatten wohl nichts anderes zu tun, als darauf zu warten, dass irgendein dunkelhäutiger Vater mit Tochter bei ihnen vorbeikam. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, ging er auf sie zu. Überrascht schauten sie zuerst ihn und dann einander an, bevor sich ein Lächeln auf ihren Lippen abzeichnete. Darauf hatten sie wohl von Anfang an gehofft. Gemeinsam dürften sie keine Schwierigkeiten haben, einen Ausländer mittleren Alters zusammenzuschlagen.
Ahmed trat einem von ihnen zwischen die Beine, so dass er mit einem Aufschrei zusammensank, dem anderen brach er mit einem Faustschlag das Nasenbein. Danach trat er erst dem einen, dann dem anderen auf die Kniescheibe, womit er sie für mehrere Wochen zu Invaliden machte. Schließlich nahm er einen Stein und schlug damit auf ihre Köpfe ein, bis das Blut über ihre kahlen Schädel lief. Alles war so rasch vorüber, dass sie kaum Zeit gefunden hatten, ihre Angst und ihren Schmerz herauszuschreien, bevor sie das Bewusstsein verloren. Auf dem Rückweg suchte Ahmed die Buchhandlung auf. Er kaufte eine Taschenbuchausgabe von Tausendundeine Nacht.