Der böse Blick. Björn Larsson

Der böse Blick - Björn Larsson


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dass Fatima einen Stein an den Kopf bekam. Doch wenn sie dazu führten, dass sie abgelenkt wurde, war dies auch etwas wert.

      Manchmal hatte er sie schon fragen wollen, warum sie sich nicht lieber mit ihren Freundinnen verabredete, anstatt ständig zu lesen, doch wenn er gründlich nachdachte, war er sich keinesfalls sicher, ob die Realität der Fantasie vorzuziehen war. Außerdem hatte er Angst, Fatima würde seine Frage als Vorwurf empfinden. Und vielleicht sogar den Verdacht hegen, er sei im Grunde immer noch der Überzeugung, das Leben einer Frau sei weniger wert als das eines Mannes. Doch er hatte sich vom Islam losgesagt. Sich ein für alle Mal und ausnahmslos von allen Religionen distanziert. Gott, ob man ihn nun Jehova, Allah oder sonst wie nannte, war einfach von Übel.

      Und die Imame wussten ganz genau, was sie taten. Sie verboten den Mädchen und Frauen das Lesen von Romanen, weil dies die Freiheit einschloss, sich vorzustellen, dass nicht alles zwangsläufig so sein musste, wie es war. Mit ein wenig Fantasie war es durchaus vorstellbar, dass eine Welt ohne den Koran, ohne die Sunna des Propheten, gar ohne den Propheten selbst existierte, zumindest eine Welt, in der die Männer kein Recht hatten, ihre Frauen mit Allahs Segen zu unterdrücken. Nein, Fatima sollte nicht auf den Gedanken kommen, er habe etwas dagegen, dass sie ihre Nase immerzu in Bücher steckte. Wenn es etwas gab, das Fatima brauchte, dann war es Hoffnung. Doch woraus sollte sie diese schöpfen? Jedenfalls nicht aus der Realität, die sie umgab.

      Er beeilte sich, nach Hause zurückzukehren. Er bereute nichts, obwohl er wusste, dass ein Umzug nun unvermeidlich war. Nicht, weil die beiden Männer ihn identifizieren konnten. Rassisten betrachteten Araber niemals als Menschen, sondern immer als graue und formlose Masse. Doch Fatimas Aussehen war zu auffallend, um in der Menge zu verblassen. Manchmal hatte er sich gewünscht, sie wäre nicht so hübsch.

      Mireille erzählte er nichts davon, was er getan hatte. Es gab keinen Grund, sie zu beunruhigen, bis alles geregelt war. Sie hatte schon genügend Anlass zur Sorge. Nachdem Mireille zu Bett gegangen war, setzte er sich mit einer Zigarette und einer Tasse Kaffee in die Küche. Er versuchte, an den morgigen Tag zu denken. In wenigen Stunden würde er mit Georges einen Rundgang machen und die Pumpen kontrollieren. Ahmed würde Georges nicht im Stich lassen. Er versuchte, sich mit dem Hohlraum unter der Erde zu beschäftigen, der seit beinahe fünf Jahren sein Arbeitsplatz und sein Versteck war, und den Gedanken zu verdrängen, dass es vor allem darauf ankam, Fatima und Mireille ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Das hatte er vergessen, als er die beiden Glatzköpfe zusammenschlug.

      3

      Der Wecker klingelte um Viertel vor sechs. Georges war bereits wach. Er hatte schlecht geschlafen. Nach dreißig Jahren in derselben Firma, fünfzehn davon als Abteilungsleiter, sollte er sich an solche Situationen gewöhnt haben. Er wusste, was er konnte. Seine Vorgesetzten ebenso. Jedenfalls hatten sie ihm im Laufe der Jahre eine zunehmend größere Verantwortung und schwierigere Aufgaben übertragen, auch wenn sich das beim Gehalt kaum bemerkbar machte. Aber das Vertrauen der Vorgesetzten und seine eigene Erfahrung konnten seine Nervosität nicht mindern. Die stellte sich immer ein, wenn ihm die Bewältigung einer großen und wichtigen Aufgabe bevorstand. Das Adrenalin wurde unter Hochdruck ausgeschüttet.

      Er versuchte, sich klar zu machen, dass es genau diese Anspannung war, die ihm seine Stelle – im Gegensatz zu vielen Kollegen – bislang gesichert hatte. Sie sorgte dafür, dass er sich auf alle Eventualitäten einstellte. Die Nervosität war der Preis für die relative Sicherheit seines Arbeitsplatzes.

      Er stand auf und stellte den Wecker für Marie, bevor er sich innerhalb von fünf Minuten wusch und anzog. Während er die Nachrichten im Radio hörte, trank er eine Tasse Kaffee. Zwanzig Minuten später saß er zusammen mit ungefähr dreißig übermüdeten Pendlern im Bus, die alle an derselben Station ausstiegen wie er, um fünf Minuten später den Zug nach Paris zu nehmen.

      Georges setzte sich auf denselben Platz wie immer. Normalerweise hatte er keine Schwierigkeiten, die Dreiviertelstunde bis zum Gare Montparnasse vor sich hin zu dösen. Zehn Minuten mit dem Bus, fünfundvierzig mit dem Nahverkehrszug, dreißig mit der Metro zuzüglich der Fußstrecken ergaben eine Fahrzeit von einer Stunde und fünfundvierzig Minuten. Dreieinhalb Stunden hin und zurück. Fünf Tage in der Woche. Er ging um Viertel nach sechs aus dem Haus und kehrte um halb acht zurück. Während der Fahrt zu schlafen war die einzige Gelegenheit, ein wenig Zeit für sich selbst zu finden.

      Doch an diesem Morgen versuchte er gar nicht erst, die Augen zu schließen. Stattdessen dachte er an die heute bevorstehende Inspektion der Pumpen und den Probelauf der Generatoren. Er vergegenwärtigte sich die möglichen Fehlerquellen und eventuellen Gegenmaßnahmen. Zumindest in einer Hinsicht, dachte er, war ihm seine Zeit auf der Klosterschule von Nutzen gewesen. Sie hatte seine Fantasie angeregt. Um die sechs Jahre durchzustehen, hatte er sich oft ausgemalt, dass ein besseres Leben außerhalb der Mauern des Internats existierte.

      Nun diente seine Vorstellungskraft vor allem der Arbeit und nicht dazu, sich ein anderes Leben zu erträumen. Gedankenspiele, die sich um das reibungslose Funktionieren von Menschen und Maschinen drehten, waren seine Spezialität geworden. Konnte es beispielsweise Probleme mit den Generatoren geben, wenn nachts die Elektrizität unterbrochen wurde, um einen Stromausfall zu simulieren? Nein, die Generatoren wurden routinemäßig einmal in der Woche hochgefahren. Außerdem waren sie parallel geschaltet. Wenn der eine ausfiel, übernahm automatisch der andere die Arbeit. Das Risiko, dass beide gleichzeitig ausfielen, ging gegen null. Um die Maschinen brauchte er sich also keine Gedanken zu machen. Blieben das Stromnetz, die Sicherungen und Kabel. Was geschah bei einem Kurzschluss? Was passierte, wenn ein Bagger aus Versehen das Hauptkabel durchtrennte? Dann würde das Grundwasser mit derselben Geschwindigkeit eindringen, mit der die Pumpen es normalerweise hinausbeförderten, was Hunderttausenden von Kubikmetern pro Stunde entsprach.

      Er versuchte zu überschlagen, wie viel Zeit ihnen zu Gegenmaßnahmen blieb, bis es nur noch darum ging, sein Leben zu retten. Der Hohlraum, den sie geschaffen hatten, war so groß wie zwei Fußballfelder. Das Grundwasser befand sich in einer Tiefe zwischen zehn und zwanzig Metern. Die Aufzüge und Sprossen des Schachts waren der einzige Weg an die Oberfläche. Die Kathedrale von Notre-Dame hätte bequem unter der Erde Platz gefunden. Es handelte sich, mit Ausnahme des Eurotunnels, um die größte unterirdische Baustelle aller Zeiten, beträchtlich größer als die, auf der man »Les Halles« errichtet hatte, was zudem unter freiem Himmel geschehen war. Das so genannte Eole-Projekt hatte gigantische Ausmaße: zwei unterirdische Bahnstationen in dreißig Metern Tiefe, »Condorcet« am Gare St Lazare und »Magenta« am Gare du Nord, eine doppelte Tunnelröhre, die das gesamte nördliche Paris durchquerte, ungefähr dreißig Schächte, die sich über die Strecke verteilten, kilometerlange Schläuche, die das Grundwasser abpumpten, meterdicke Rohre, um den angemischten Beton in die Tiefe zu leiten, Extratunnel für die Ventilatoren und den Abtransport der weggesprengten Gesteinsmassen. Dennoch gab es nur wenige Menschen, die genau wussten, was sich unter der Erde abspielte. Passierte man die Baustelle an der Rue de Caumartin oder der Rue Joubert, machte sie keinen Aufsehen erregenden Eindruck. Das Konsortium hatte natürlich nicht ein ganzes Viertel abreißen oder Tausende von Menschen und Büros umsiedeln können, nur um eine oberirdische Arbeit zu ermöglichen. Stattdessen waren zunächst vertikale, dreißig Meter tiefe Schächte geschaffen worden, die, abhängig von ihrer Funktion, einen Durchmesser von zehn bis zwanzig Metern hatten. Der weitere Abbau in horizontaler Richtung wurde von der Sohle der Schächte aus durchgeführt. Die benötigte Ausrüstung beförderte ein Kran, der über der Erde stand, in die Tiefe.

      Tatsächlich war oberhalb des gigantischen Hohlraums ein ganzes Geschäfts- und Wohnviertel für ungefähr zehntausend Menschen neu entstanden, das durch nichts anderes als Beton, Stahl und Zement abgestützt wurde. Damit die bestehenden Häuser nicht einstürzten, waren deren Fundamente erneuert und verstärkt worden. Wenn die Bewohner der Appartements gewusst hätten, was mit ihren Häusern geschah, wären viele sicher nicht dort wohnen geblieben.

      Jeden Tag wurde gemessen, ob die Häuser sich nicht absenkten. Toleriert wurden maximal zehn Millimeter. Bislang befand man sich innerhalb dieses Spielraums, wenngleich in mehreren Wohnungen Risse entstanden waren, die behoben werden mussten. Die Arbeiten waren zumindest besser verlaufen als die an der künftigen Station »Magenta« beim Gare du Nord. Dort hatte man die Arbeiten monatelang unterbrechen müssen,


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