Der böse Blick. Björn Larsson

Der böse Blick - Björn Larsson


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ist mein Sohn.«

      Zehn Millionen, dachte Ahmed. Es wohnen zehn Millionen Menschen in Paris. Fünfzigtausend allein in Saint Denis. Die Chancen standen also eins zu fünfzigtausend, dass es Alains Sohn gewesen war, der Fatima den Stein an den Kopf geworfen hatte. Aber wie viele Rassisten gab es in Saint Denis? Ein paar Tausend? Dass es Alains Sohn war, der im Park gestanden hatte, wäre Pech, doch unwahrscheinlich war es nicht.

      »Bist du ganz sicher, dass es sich so zugetragen hat?«

      »Was soll die Frage?«

      »Warum sollten vier Araber von hinten auf deinen Sohn losgehen? Sie werden doch wohl einen Grund gehabt haben.« Alain kniff die Augen zusammen. Für einen Moment hatte Ahmed das Gefühl, Alain wisse mehr, als er zugab, begriff dann aber, dass es blanke Wut war, die sein Gesicht verzerrte.

      »Wenn du glaubst, dass mein Sohn lügt, dann ...«

      »Woher weiß Thierry, dass es vier waren, die ihn von hinten attackiert haben?«

      »Weil er sie gesehen hat, du Schwachkopf.«

      »Dann kann er der Polizei ja sicher eine gute Täterbeschreibung geben.«

      »Die Bullen stehen auf Seiten der Araber. Aber glaub ja nicht, dass sie davonkommen werden. Darum werden sich Thierry und seine Freunde schon persönlich kümmern, sobald er wieder auf den Beinen ist.«

      Das war typisch. Alains Sohn hatte nicht zugeben wollen, dass er von einem einzigen Araber mittleren Alters verprügelt worden war. Genauso wenig wie sein Vater traute er sich, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Ihre Angst und ihr Hass auf das Fremde waren an die Stelle der Realität getreten. Sie sahen nur, was sie sehen wollten, schwarz und weiß. Aber ihre Missachtung der Realität verleitete sie auch zu Fehlern. Deswegen würden die Fanatiker am Ende stets die Verlierer sein. So war es immer gewesen und so würde es bleiben. Es gab keine rassistische Biologie, keine islamische Wissenschaft, keine kommunistische Logik. Richtiges Handeln setzte einen präzisen Blick für die Wirklichkeit voraus. »Welche Freunde?«, fragte Ahmed.

      Alain antwortete nicht. Eigentlich hatte er herausschreien wollen, Thierry sei Sergeant der DPS, der Sicherheitstruppe der Front National, und direkt deren Führer unterstellt. Er hätte bis ins kleinste Detail schildern können, wie unliebsame Araber bestraft wurden. Er hätte Ahmed gern in Panik versetzt. Doch in letzter Sekunde besann er sich. Sein Wissen preiszugeben, noch dazu gegenüber einem Araber, wäre ein Verrat gewesen. Und er wusste, wie man mit Verrätern umging. Genauso wie mit Arabern.

      Als Rachid in die Baracke kam, um eine Tasse Kaffee zu trinken, spürte er sofort die unterschwellige Spannung, die zwischen Ahmed und Alain herrschte.

      Er stellte sich hinter Ahmed.

      »Kann ich dir helfen?«, fragte er, während er Alain ansah.

      »Du kannst auch zur Hölle fahren!«

      Ahmed drehte sich um. Rachid versuchte, ihm in die Augen zu schauen, musste aber schließlich den Blick abwenden.

      »Vier Araber haben Alains Sohn zusammengeschlagen«, erklärte Ahmed. »Und Alain scheint zu glauben, dass wir beide unter den Schlägern waren.«

      »Ich?«

      »Nimm’s lieber nicht persönlich«, sagte Ahmed. Rachid erkannte sofort die Gefahr. Wollte er seine Aktion nicht gefährden, musste er unbemerkt bleiben, beinahe unsichtbar, einer, den niemand zur Kenntnis nahm. »Alain meint, dass die Araber an allem Unglück der Welt die Schuld tragen. Er glaubt, es sitzt in unseren Genen.«

      »Hör zu: Ich habe deinen Sohn nicht verprügelt.« Alain starrte vor sich hin.

      Rachid hob den Arm und wollte Alain eine Ohrfeige geben, damit dieser zur Besinnung kam.

      »Das ist keine gute Idee«, sagte Ahmed. »Und Worte gehen bei ihm zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus.«

      »Ich akzeptiere einfach nicht, für etwas beschuldigt zu werden, das ich nicht getan habe. Andere glauben vielleicht, dass er Recht hat.«

      »Schon möglich.«

      Rachid blickte verstohlen zu Ahmed. Wie konnte er nur so ruhig bleiben? Alain hatte schließlich auch ihn verdächtigt. Ahmed war ihm ein Rätsel. Er war eine Führungspersönlichkeit, kein Handlanger, so wie er. Woher stammte Ahmed? Warum hatte der Imam, der über vielfältige Kontakte verfügte, nichts über ihn herausbekommen können?

      »Damit Alain seine Meinung ändert, braucht er schon eine Gehirntransplantation«, sagte Ahmed.

      Rachid versuchte es mit einem Lachen. Ahmed war scharfzüngig. Rachid konnte sich nicht helfen, aber schon Ahmeds Gegenwart brachte ihn aus dem Gleichgewicht. War Ahmed überhaupt Moslem? Rachid hatte ihn nie über Allah oder den Islam reden hören.

      Alain spürte, dass etwas in der Luft lag. Er versuchte, sich zu beruhigen und nachzudenken. Warum sprachen Ahmed und Rachid überhaupt miteinander? Er hatte zu beiden gesagt, sie sollten sich zum Teufel scheren, aber sie reagierten gar nicht darauf. Sollte er es ihnen etwa direkt ins Gesicht schreien, damit sie ihn verstanden? Doch halt! Was hatte Ahmed zu Rachid gesagt? Dass er, Alain, sie beschuldigte, Thierry misshandelt zu haben? Ja, das hatte er gesagt. Die Angst kroch langsam in ihm empor. Er war allein. Niemand würde ihm beistehen.

      »Vergiss es!«, stieß er hervor.

      »Was soll ich vergessen?«, fragte Ahmed.

      »Alles.«

      »Was meinst du mit ›alles‹?«

      Alain blickte auf. Er wollte nicht klein beigeben. Eine Entschuldigung würden sie nicht aus ihm herausbekommen. Wenn die Front erst an der Macht war, dem Führungsquartett ein Ende bereitete und alle Ausländer rauswarf, würde Thierry mit an der Spitze stehen. Dann musste er dafür sorgen, dass sein Vater Genugtuung erhielt.

      Warum konnte er Ahmed und Rachid nicht mehr klar erkennen? Er rieb sich die Augen und schaute verblüfft auf seinen Handrücken. Er war feucht.

      »Du weinst«, sagte Ahmed.

      Weinte er? Ja, tatsächlich. Er heulte vor Wut. Er hasste Ahmed und Rachid. Er hasste sie, weil er ihnen nicht gewachsen war. Er hasste sie, weil er sich ihnen unterordnen musste, weil er Angst vor ihnen hatte, weil Georges sie nicht entbehren konnte, weil sie ihn wie einen Waschlappen behandelten, weil sie ihn kaum beachteten. Sie sollten ihn kennen lernen! Sobald Thierry wieder gesund war, würde Alain ihnen zeigen, dass man nicht ungestraft auf ihm herumtrampelte. Warum sollte er sich von Typen wie ihnen schikanieren lassen?

      »Wir vergessen alles«, wiederholte er.

      »Vergessen was?«

      »Ich meinte nicht, dass ihr persönlich Thierry verprügelt habt.«

      Ahmed streckte die Hand aus. Alain schaute sie an. Einem dreckigen Araber würde er ums Verrecken nicht die Hand geben.

      Er drückte Ahmeds Hand, während sich sein Gesicht zu einem Lächeln verzerrte.

      »Du wirst doch Georges nichts davon erzählen?«

      In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Georges kam herein.

      »Wovon erzählen?«, fragte Georges.

      »Alain ist mit dem linken Bein zuerst aufgestanden«, sagte Ahmed.

      In diesem Moment fiel Georges’ Blick auf Rachid, der direkt hinter Ahmed stand. Ahmed und Rachid hatten nie den Anschein erweckt, als seien sie befreundet. Eher im Gegenteil. Zumindest hatte Georges nie gehört, dass sie über etwas anderes als über ihren Job gesprochen hatten. Ahmed und Rachid kamen Georges fast wie zwei Feinde vor, die zum Waffenstillstand gezwungen worden waren. Jetzt standen sie zweifellos auf derselben Seite.

      »Ich will eine Erklärung haben«, sagte Georges.

      Wenn er eines vermeiden wollte an einem Tag, an dem ihnen eine so wichtige Arbeit bevorstand, dann war es Streit.

      Ahmed berichtete, was vorgefallen war.

      Georges schaute


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