Der böse Blick. Björn Larsson
und einer klaffenden Kopfwunde im Krankenhaus liegt?«
Georges wandte sich zu Rachid um.
»Noch irgendwelche Fragen?«, erkundigte sich Georges.
»Alains Sohn ist Sergeant bei der Sicherheitstruppe der Front National«, sagte Rachid nach einer Weile.
Alain und Ahmed starrten ihn an. Sie waren offensichtlich gleichermaßen verblüfft.
»Das ist nicht wahr!«, rief Alain erregt.
Georges wusste, dass es durchaus möglich war, dass Rachid die Wahrheit sagte, woher auch immer er diese Information besaß. Es war höchste Zeit, sich um Alain zu kümmern. So konnte es nicht weitergehen. Es war untragbar, einen Rassisten als Vorarbeiter für ungefähr sechzig Algerier zu beschäftigen. Dumas hatte argumentiert, die Konzernleitung würde einen Araber als Vorarbeiter nicht akzeptieren. Alle die Moslems, die ständig infiltrierten, stellten ein zu hohes Risiko dar. Georges war sicher, dass Dumas ihn anlog. Dumas hatte am Algerienkrieg teilgenommen, und Alain war ein pied-noir, einer von neunhunderttausend Franzosen, die voller Bitterkeit Algerien verließen, als das Land die Unabhängigkeit erreichte.
Sie hatten geglaubt, in Frankreich als Helden empfangen zu werden, weil sie ihr Leben riskiert hatten, um die äußerste Bastion des französischen Staates zu verteidigen. Doch sie hatten einsehen müssen, dass die öffentliche Meinung sich geändert hatte und sie nun als reaktionäre Extremisten und unliebsame Einwanderer betrachtet wurden. Womöglich stand Dumas seit dieser Zeit in Alains Schuld. Falls Dumas nicht gar selbst Mitglied der Front National war. Bei den gegenwärtigen Verhältnissen war nichts ausgeschlossen.
»Ich kann verstehen, dass die Sache mit deinem Sohn dir nahe geht«, sagte Georges. »Aber du weißt genauso gut wie ich, dass keiner von uns etwas damit zu tun hat. Das war die letzte Warnung. Beim nächsten Mal fliegst du raus.«
»Das kannst du ja mal versuchen.«
»Ja, das kann ich. Dumas kann wählen. Du oder ich.«
Georges spürte, dass seine Worte Eindruck gemacht hatten. Selbst Alain wusste, dass Georges bis auf weiteres unentbehrlich war.
»Von jetzt an will ich kein Gerede mehr über Ausländer hören, von niemandem. Die Anzahl von Dreckskerlen und Schwachköpfen ist überall ungefähr gleich groß. Das ist beim Bau nicht anders.«
Georges blickte Ahmed und Rachid an.
Ahmed nickte. Rachid verzog keine Miene.
»Ach, du hast doch keine Ahnung!«, brach es aus Alain hervor. »Du wohnst in einem noblen Vorort, in dem es keine Ausländer gibt.«
Georges machte einige Schritte nach vorne.
»Meine Mutter war sechsunddreißig, als sie mit ihren vier Kindern nach Frankreich flüchtete. Hatte sich Frankreich nicht immer damit gebrüstet, das Heimatland der Menschenrechte zu sein? Meine Mutter kam ins Lager. Meine zwei Brüder landeten im Kinderheim. Meine Schwester und ich hatten das Glück, adoptiert zu werden. Ich verlange nicht, dass du dich in meine Lage versetzen kannst. Dein Einfühlungsvermögen scheint ohnehin gleich null zu sein. Aber eines solltest du wissen: Solange ich dein Chef bin, tust du, was ich dir sage.«
Alain starrte schweigend auf die Tischplatte.
Georges schaute sich um.
»Ihr wisst, was heute ansteht. Die Inspektion der Pumpen. Gleichzeitig werden wir einen Stromausfall simulieren und die Generatoren testen. Unsere Aufgabe ist es, uns an Ort und Stelle davon zu überzeugen, dass alles nach Plan verläuft. Und diese Aufgabe werden wir gewissenhaft erfüllen. Es geht um unsere eigene Sicherheit.«
7
Georges stieg als Erster aus dem Aufzug. Ihm folgten Rachid und Ahmed. Dann kam ein mürrischer Alain. Georges schloss die Türen und schickte den Fahrstuhl zurück an die Oberfläche. Die letzten fünf Meter bis zur Sohle des Victoriaschachts gingen sie in einer Reihe. Es nieselte. Alle vier legten die Köpfe zurück, um einen letzten Blick auf den bedeckten Himmel zu werfen, bevor sie im Untergrund verschwanden. An diesem Mittwoch im November um neun Uhr morgens war Paris regenverhangen. Der obere Teil des achtstöckigen Wohnblocks, der sich an der Ostseite des Schachts befand, verschwamm im Nebel. Das Gebäude schien auf einem schmalen Grat zu balancieren, als würde es jeden Moment in die Tiefe stürzen.
Die vier Männer begaben sich in einen kurzen Verbindungsgang und hatten rasch ihren Abschnitt der südlichen Tunnelröhre erreicht. Das Bohraggregat befand sich in einem Kilometer Entfernung. Der Durchbruch sollte irgendwann im nächsten Frühjahr erfolgen. Auf dem Weg zum Zentralbereich mussten die vier einigen Raupenfahrzeugen Platz machen, die in ihren großen Eisenbehältern Kies und Gesteinsbrocken abtransportierten und auf ein kilometerlanges Förderband kippten. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie nahezu achthunderttausend Kubikmeter Gestein aus dem Weg geräumt. Am Ende sollten es 1,2 Millionen Kubikmeter sein. Würde man alles auf einen einzigen Zug laden, wäre dieser so lang wie die Strecke Paris–Nizza.
In der Tunnelröhre wölbte sich die Decke glatt und weiß. Zum ersten Mal wurde eine Technik angewandt, die dasselbe Finish ergab wie der beste Betonguss beim Hochbau. Man hatte viel experimentieren müssen, um die Feuchtigkeits- und Temperaturbedingungen kompensieren zu können. Es musste immer noch geschliffen werden, um die Oberfläche völlig glatt zu bekommen, aber Georges war stolz auf das Resultat. Das ließ sich mit den rauen und grauen Wänden der Metro doch gar nicht vergleichen.
Der Boden war immer noch ein einziger Matsch. Die vier Männer versuchten, dem tiefsten Schlamm auszuweichen, indem sie einen neuen Verbindungstunnel benutzten, den man geschaffen hatte, um die Arbeit zu erleichtern und die Belüftung zu verbessern. Wenn alles fertig gestellt war, sollte er zugeschüttet und verplombt werden. Am anderen Ende des Tunnels bogen sie erneut nach links ab und gingen weitere fünfzig Meter geradeaus, bis sie den Ort erreichten, der später einmal die eigentliche Station »Condorcet« werden sollte und bereits als Kathedrale bezeichnet wurde, obwohl sie erst ein Drittel ihrer endgültigen Länge erreicht hatte.
Dort, wo die Männer standen, war die Halle dreißig Meter breit und fünfundzwanzig Meter hoch. Auf Grund der Einsturzgefahr ging man in verschiedenen Etappen vor. Hatte man sich drei Meter weiter in das Gestein vorgearbeitet, goss man die Stelle mit Beton aus, bevor die Arbeiten fortgesetzt wurden. Gleichzeitig wurden in gleichmäßigen Abständen meterdicke Betonpfeiler errichtet, die halbhoch zur Decke der Kathedrale emporragten. Die Pfeiler sollten später die Betonplatte tragen, die als Boden für Millionen von Zugreisenden diente. Man hatte sich frühzeitig dafür entschieden, diesen Deckel nicht völlig zu schließen. Die Architekten hatten darauf bestanden, den Fahrgästen der Zukunft das Schwindel erregende Raumgefühl beim Blick in die Tiefe nicht vorzuenthalten. Auch sie sollten Gelegenheit erhalten, vor Bewunderung für dieses bautechnische Meisterwerk auf die Knie zu sinken. Viele Reisende jedoch, die keine genauen Kenntnisse von der tatsächlichen Belastbarkeit dieses Bauwerks hatten, würden sich bestimmt fragen, wie es nur möglich war, unterhalb eines Wohnviertels mit achtstöckigen Häusern einen Hohlraum in der Größe der Kathedrale von Notre-Dame zu schaffen. Einige mochten sich auch überlegen, was wohl geschehen würde, wenn ein Terrorist unter den tragenden Elementen eine Bombe zündete.
Die Führungsriege des Eole-Projekts hingegen wusste ganz genau, was dann geschehen würde. Sie war sich darüber im Klaren, dass die Detonation einer Sprengladung, platziert an der richtigen Stelle, noch bevor alle Verstärkungs- und Stützmaßnahmen abgeschlossen waren, zu einer Katastrophe führen musste, und zwar nicht nur für die dreihundertfünfzig Arbeiter, die sich ständig unter Tage befanden, sondern für alle Menschen, die sich in den Wohnungen über der Erde aufhielten. Würde dies tagsüber geschehen, rechnete man mit bis zu zehntausend Opfern. Nachts mit ungefähr der Hälfte. Und was das Schlimmste war: in jedem Fall würde kaum Hoffnung bestehen, Überlebende aus den versunkenen Ruinen zu befreien, weil das Grundwasser zehn Meter hoch in der Halle stehen würde.
Daher war es nicht verwunderlich, dass Sicherheitsvorkehrungen höchste Priorität besaßen, nicht nur was den Schutz vor Terroranschlägen betraf, sondern auch hinsichtlich der Vermeidung von Fehlern und Unfällen. Alles wurde routinemäßig mehrmals die Woche inspiziert