Der böse Blick. Björn Larsson

Der böse Blick - Björn Larsson


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Wasser in die Seine leitete, sowie das Gerüst, das während der Verschalung der Decke als Fundament diente. Abteilungsleiter und Vorarbeiter waren angewiesen, die Arbeiter nicht anzutreiben. Deren Anzahl war von den sechs Gesellschaften des Konsortiums mit Bedacht ausgewählt worden. Größte Angst hatte man von Anfang an vor einem Terroranschlag gehabt. Besonders Algerier wurden einer eingehenden Prüfung unterzogen, bevor man sie einstellte.

      Dies alles wusste Rachid. Er wusste, was für Probleme die GIA gehabt hatte, jemanden unter der Erde einzuschleusen. Doch jetzt war er hier und durfte nicht versagen. Der Imam hatte Rachids Situation mit unangreifbarer Logik geschildert. Glückte seine Mission, erwarteten ihn ewiger Ruhm und ein Platz an Allahs Seite. Scheiterte er, mussten er und seine Familie sich auf Tod und Erniedrigung einstellen. Die schlimmste Drohung war nicht die Ausrottung seiner Familie, sondern dass sie vor Allah als Verräter dastehen würden, auf die das ewige Feuer der Verdammnis wartete. Rachid gab dem Imam Recht. Sie verdienten nichts Besseres, wenn er scheiterte. Doch er konnte nicht scheitern.

      Georges blieb am westlichen Ende der Halle stehen, die einmal der Bahnhof »Condorcet« sein würde, 228 Meter lang und 58 Meter breit, inklusive der beiden Seitentunnel. Unweit entfernt lärmte eine Gesteinsbohrmaschine. Georges winkte die anderen näher zu sich heran, damit sie hören konnten, was er sagte.

      »Du, Rachid, nimmst dir die Pumpen an diesem Ende vor, Alain die da drüben und Ahmed die im mittleren Abschnitt. Sobald ihr euch davon überzeugt habt, dass alle einwandfrei funktionieren, gebt ihr mir Bescheid. Danach werde ich den Kontrollraum anweisen, den Strom zu unterbrechen, und sehe mir den ersten Generator an. Wenn ich bestätigt habe, dass das Notstromaggregat funktioniert, prüft ihr nochmals alle Pumpen und gebt mir dann Bescheid. Alle Betriebsstörungen auf Grund des Stromausfalls müssen gemeldet werden. Wenn ihr einen Filter entdeckt, der mit Lehm verstopft ist, reinigt ihr ihn, bevor ihr euch bei mir meldet. Danach gehen wir zum Generator Nummer zwei.«

      Alle nickten. Georges sah sie verschwinden. Zwanzig Minuten später führten sie das erste Gespräch. Rachid teilte mit, dass alle Pumpen in seinem Bereich einwandfrei funktionierten und er einen Filter gereinigt habe. Kurz darauf meldete Ahmed den Ausfall einer Pumpe. Er gab die Nummer der Pumpe durch. Georges nahm Kontakt zu dem Mitarbeiter auf, der für die Pumpen verantwortlich war. Dieser sah keinen Anlass, die Überprüfung abzubrechen. Die defekte Pumpe könne man später reparieren. Der Bericht von Alain ließ auf sich warten. Das war typisch. Schließlich versuchte Georges, zu ihm Kontakt aufzunehmen, erhielt aber keine Antwort. Fünf Minuten später meldete sich Alain. Er teilte mit, dass alles in Ordnung sei, er hatte allerdings eine Weile gebraucht, um sich aus dem Schlamm zu befreien, als er einen verstopften Filter reinigte. Georges sagte dem Ingenieur im Kontrollraum, er könne jetzt den Strom unterbrechen. Eine halbe Minute später wurde das Licht schwächer, bevor es wieder mit voller Kraft erstrahlte. Das war ganz normal. Mit einem kurzzeitigen Stromausfall musste gerechnet werden, ehe die Generatoren die Versorgung übernahmen. Georges meldete sich bei den drei Männern und ordnete eine weitere Inspektion an. Wie beim ersten Mal gab Rachid als Erster Bescheid: Alles funktioniere einwandfrei. Bei Ahmed dauerte es etwas länger, bevor auch er mitteilte, dass, abgesehen von der defekten Pumpe, alles in Ordnung sei. Erst eine Viertelstunde später ließ Alain von sich hören. Er war außer Atem. Georges bat ihn, sich zu beeilen. Er nahm erneut Kontakt zum Kontrollraum auf und wies an, den Generator Nummer eins abzuschalten. Wie beim ersten Mal gab es eine kurzzeitige Stromunterbrechung, bevor der zweite Generator automatisch ansprang. Georges rief alle drei an und sagte, sie könnten jetzt mit der letzten Kontrolle beginnen.

      Dieses Mal erhielt er gar keine Rückmeldung. Nach ungefähr zehn Minuten erloschen plötzlich sämtliche Lichter. Für kurze Zeit war alles dunkel, bevor die batteriebetriebenen Notlampen den Tunnel in ein trübes Licht tauchten. Nach und nach blieben die Grab- und Bohrmaschinen stehen. Georges rief sofort den Kontrollraum an.

      »Was ist passiert?«

      »Keine Ahnung. Die Generatoren laufen volle Kraft und erzeugen Strom. Kann nur ein Kabelbruch sein. Wir melden uns wieder.«

      Dreißig Sekunden später schallte aus den Lautsprechern eine Durchsage: »An alle Mitarbeiter. Wir haben einen Stromausfall und versuchen, den Schaden zu beheben. Alle nehmen ihre Evakuierungsplätze ein. Wenn der Schaden nicht innerhalb von zwanzig Minuten behoben ist, beginnen wir mit der Evakuierung. Warten Sie auf weitere Anweisungen.«

      Von allen Seiten tauchten Schatten auf, die sich auf die verschiedenen Schächte zubewegten. Sie bildeten schweigende Gruppen unter den Sprossen, die nach oben führten. Die Aufzüge funktionierten auch dann, wenn sie nur von den Notstromaggregaten mit Strom versorgt wurden. Eine größere Gruppe begab sich in Richtung Victoriaschacht, wo sie ein Kran in großen Behältern an die Oberfläche hieven sollte. Zweimal zuvor waren große Evakuierungsübungen der gesamten Mannschaft unter realistischen Bedingungen durchgeführt worden. Alles war nach Plan verlaufen. Georges hatte keine Zweifel, dass die Arbeiter rechtzeitig an die Oberfläche gelangen würden, bevor das Wasser den Hohlraum flutete. Mehrere Löschzüge befanden sich schon auf dem Weg. Sie konnten zwar nicht verhindern, dass das Grundwasser Tunnel und Schächte füllte, verschafften ihnen jedoch mehr Zeit für die Evakuierung und die Suche nach dem Fehler. Wo lag er und was hatte ihn verursacht? Georges hatte nur eine vage Vorstellung von der elektrischen Versorgung. Die gehörte nicht zu seinem Aufgabenbereich. Doch es musste etwas absolut Unvorhergesehenes passiert sein, dessen war er gewiss. Kabel brachen oder lösten sich nicht einfach von allein. Er musste immer wieder an Alain denken. Seine Stimme hatte am Telefon so merkwürdig geklungen. Er hätte auch nicht so viel Zeit benötigen dürfen, bevor er sich gemeldet hatte.

      Nur wenige Minuten nach der Lautsprecherdurchsage tauchte Rachid aus dem Zwielicht auf. »Was ist los?«, schrie er.

      »Reg dich ab!«, sagte Georges scharf. »Du wirst schon nicht sterben. Im Notfall haben wir genug Zeit zur Evakuierung.«

      »Sterben?«

      Rachid brach in Hohngelächter aus.

      »Glaubst du etwa, ich habe Angst zu sterben? Ich? Ich will nur wissen, warum der Strom ausgefallen ist.«

      »Ich habe auch keine näheren Informationen. Am Telefon sprachen sie von einem möglichen Kabelbruch. Das Netz und die Generatoren sind in Ordnung.«

      In diesem Augenblick bemerkte Georges, dass auch Ahmed schon bei ihnen war. Georges hatte ihn nicht kommen gehört, obwohl völlige Stille herrschte.

      »Wo ist Alain?«, fragte Ahmed.

      »Der ist wohl direkt zu seinem Evakuierungsplatz gegangen«, sagte Georges. »So wie vorgeschrieben.«

      »Wir müssen rauskriegen, was los ist«, sagte Rachid. »Die Pumpen müssen schnellstens wieder anfangen zu arbeiten.«

      »Schon, aber unsere persönliche Sicherheit geht vor. Du kennst die Vorschriften genauso gut wie ich.«

      Rachid entgegnete nichts, sondern begann zu laufen. Was war los mit ihm? Ahmed setzte ihm nach.

      »Wo wollt ihr hin?«, rief Georges, bevor er sich an ihre Fersen heftete.

      Wenige Minuten später standen sie in dem kleinen Schacht Nummer elf, der in das Foyer eines Kinos mündete.

      Rachid zog eine kleine Lampe hervor, befestigte sie rasch oberhalb der Stirn an seinem Helm und begann die Sprossen hinaufzuklettern.

      »Da geht’s nicht lang!«, rief Georges ihm nach. »Der Ausgang ist verplombt.«

      »Ich folge ihm«, sagte Ahmed.

      »Bleib hier! Ihr seid nicht rechtzeitig wieder unten, falls evakuiert werden muss.«

      »Rachid weiß schon, was er tut«, sagte Ahmed und begann die Sprossen hinaufzuklettern.

      Georges ging zum nächsten Telefon und rief den Kontrollraum an. Er sagte, einer seiner Leute glaube zu wissen, wo der Fehler steckt, und versuche ihn zu beheben.

      »Ihr habt zwölf Minuten Zeit«, sagte eine gepresste Stimme. »Dann müsst ihr eure Plätze einnehmen.«

      Zwölf Minuten! Wenn Rachid und Ahmed wirklich ganz nach oben wollten, hatten sie keine Chance zurückzukehren, bevor


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